1. Februar 2023 | Andrea Kittel | Museale Sammlung
Im Rahmen der studentischen Lehrveranstaltung „Das Kirchenjahr und seine Textilien“ unter der Leitung von Janek Schröder ging eine Gruppe des Evangelischen Stifts den Fragen nach: Warum hängen an Altar und Kanzel diese „bunten Teppiche“? Welche Bedeutung haben ihre Farben und weshalb braucht es beim Abendmahl so viele weiße Tücher? Wie sollen sich im Gottesdienst Handelnde anziehen?
Nachdem die Studierenden sich mit den biblischen Grundlagen und historischen Entwicklungen beschäftigt hatten, führte sie eine Exkursion zu uns ins Landeskirchliche Archiv Stuttgart. Sie erhielten Einblick in den Archivbestand der Evangelischen Paramentenwerkstatt, die von 1924 bis 1997 in Württemberg wirkte. Entwürfe und Fotografien aus dieser Zeit zeigten die gestalterischen und handwerklichen Grundlagen der textilen Werke. Anschließend ging es in das Magazin der Musealen Sammlung, wo Paramente aus verschiedenen Epochen und Stilrichtungen entdeckt werden konnten. Besondere Stücke waren selbstgebastelte Altartücher, die in Kriegsgefangenenlagern des Zweiten Weltkriegs von den Internierten aus Lumpen- und Teppichresten gefertigt worden waren, um auch unter schwierigen Bedingungen einen würdigen Gottesdienst feiern zu können. Großes Interesse bestand ebenso an der liturgischen Kleidung. Die Museale Sammlung beherbergt nicht nur Standardversionen von Talar und Beffchen, sondern auch individuell gestaltete Exemplare aus den 1980er Jahren, die versuchten, den traditionell gesteckten Rahmen zu sprengen, um etwa mehr Nähe zu Alltag und Gemeinde herzustellen. Vorgestellt wurde auch der Talar einer der ersten Pfarrerinnen in Württemberg und dem dazugehörigen „Frauenbeffchen“, das einem Blusenkragen nachempfunden war.
Die im Seminar erarbeiteten Sachkenntnisse der Studierenden wurden rege eingebracht und waren für mich als Sammlungsleiterin eine Bereicherung. Ich freue mich jedenfalls darauf, mit weiteren studentischen Gruppen ins Gespräch über kirchliche Sachkultur zu kommen.
Zu den Lehrveranstaltungen im Evangelischen Stift Tübingen hier.
2. Februar 2022 | Andrea Kittel | Veröffentlichung
Dr. Götz Homoki mit seiner Dissertation
Eingefahrene, überkommene Vorstellungen von Studierenden existieren schon seit vielen Jahrhunderten: Da gibt es angeblich den braven Streber, der sich nur um sein Fortkommen an der Universität bemüht, den trinkfesten Partygänger und notorischen Ruhestörer, selbstbewusste Frauenhelden oder technikbegeisterte Nerds, die ständig vor dem Computer sitzen. Im Laufe der Zeit bewegten sich diese Studentenklischees stets zwischen fleißig und angepasst, also normkonform, auf der einen Seite und draufgängerisch und ungehorsam auf der anderen Seite. Freilich lag es dabei stets im Auge der Betrachtenden, ob das damit verbundene Verhalten getadelt oder gelobt, skandalisiert oder idealisiert wurde.
Aber wie haben sich in diesem Zusammenhang eigentlich die Stipendiaten des Stifts in Tübingen, die „Stiftler“, selbst gesehen und wie wurden sie von anderen gesehen? Wie haben einzelne junge „Stiftler“ im 17. und 18. Jahrhundert ihre Umwelt wahrgenommen und in ihr gehandelt? Diese und weitere Fragen hat unser Mitarbeiter Dr. Götz Homoki in seiner Doktorarbeit untersucht, die jetzt bei der Evangelischen Verlagsanstalt erschienen ist. Das 457 Seiten starke Werk trägt den Titel „Identität – Habitus – Konformität. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu württembergischen Herzoglichen Stipendiaten in der Frühen Neuzeit“.
Das Herzogliche Stipendium oder Stift in Tübingen war für Jahrhunderte eine über die Grenzen Württembergs hinaus bekannte und bedeutsame Ausbildungsstätte für protestantische Kirchenmänner. Die Einrichtung wurde 1536 von Herzog Ulrich gegründet, um nach der Reformation die Qualifizierung bekenntnistreuer Pfarrer sicherzustellen. Begabte männliche Landeskinder erhielten in der Folge freie Unterkunft und Verpflegung im ehemaligen Tübinger Augustinereremitenkloster. Die Lebensumstände der Stipendiaten, die an der Universität zunächst Philosophie und dann Theologie studierten, waren zugleich über Jahre hinweg von strengen Vorschriften geprägt. So wurde von den Stipendiaten unter anderem gefordert, sich im Stift alltäglich ausschließlich auf Latein zu unterhalten oder ständig bodenlange schwarze „Kutten“ zu tragen.
Götz Homoki untersucht in seiner Studie erstmals die ebenso weitreichenden wie langfristigen Auswirkungen der landesherrlichen Studienförderung auf das Selbstverständnis und die Verhaltensweisen Herzoglicher Stipendiaten in der Frühen Neuzeit. Anhand von Selbstzeugnissen, darunter auf Latein verfasste Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, zeigt er, dass das Denken, Wahrnehmen und Handeln einzelner Stipendiaten ganz im Zeichen einer christlich-humanistischen Gelehrsamkeit stand. Es unterschied sich damit deutlich von den ausschweifenden Gewohnheiten zechender, spielender, tanzender oder raufender Studenten: „Für die von mir untersuchten Stipendiaten war die Nichtüberschreitung der Norm die Normalität”, so Homoki zusammenfassend über seine facettenreiche Studie zum frühneuzeitlichen Studentenleben abseits des Verbotenen und Devianten.
Dr. Götz Homoki studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Latein in Tübingen und wurde an der Universität Stuttgart promoviert. Für seine Untersuchung zur Geschichte des Tübinger Stifts erhielt er ein dreijähriges Forschungsstipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst. Bereits 2019 wurde ihm für die vorliegende Arbeit der Johannes-Brenz-Preis für herausragende Arbeiten zur württembergischen Kirchengeschichte verliehen, den der Verein für württembergische Kirchengeschichte alle zwei Jahre auslobt. Im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart ist er aktuell mit der Erschließung zentraler Aktenbestände der württembergischen Kirchenleitung beschäftigt, außerdem ist er der verantwortliche Redakteur der „Blätter für württembergische Kirchengeschichte“ und betreut das Rezensionswesen der wissenschaftlichen Zeitschrift.
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„Das königliche Seminarium“ in Tübingen, Aquarell von L. Gottschick, 1808, (LKAS Museale Sammlung, 96.052)