Artikel in Inventarisation
11. November 2022 | Anette Pelizaeus | Inventarisation, Kirchen, Kunstgeschichte
Die evangelische Landeskirche in Württemberg birgt ein reiches kulturelles Erbe, bedenkt man schon allein die große Zahl an noch vorhandenen Pfarr- und Stadtkirchen, Stifts- und Klosterkirchen aus romanischer und gotischer Zeit. Meist stechen die weithin sichtbaren Kirchtürme, reich geschmückten Altäre, Kanzeln, Emporen oder prächtige Orgeln in Auge, während beispielsweise die Schlusssteine, das sind die Schmuckelemente der Kreuzungspunkte von Gewölbebogen der mittelalterlichen Kreuzrippengewölbe, meist kaum Beachtung finden. Ein Blick ins Gewölbe lohnt sich dennoch sehr, sind in den Schlusssteinen doch nicht selten Stifter, Stifterpaare, Patrone, Kirchenväter, Heiligenfiguren, Evangelisten, Propheten oder Engel dargestellt. Gerade jetzt zum Fest des Hl. Martin von Tours, das ja alljährlich zum Gedächtnis seiner am 11. November 397 n. Chr. In Tours erfolgten Beisetzung in vielen Orten mit Laternenumzügen und oder Martinsfeuern gefeiert werden, empfiehlt sich insbesondere ein Blick in das Chorgewölbe der Plieninger Martinskirche. Im Chorschluss befindet sich hier nämlich ein runder, am Rand vergoldeter Schlussstein, der mit dem Neubau des Chores im ausgehenden 15. Jahrhundert geschaffen wurde und die legendäre Mantelteilung des Hl. Martin zeigt. Dieser war ab 334 bei der Reiterei der Kaiserlichen Garde in Amiens stationiert, als er die legendäre Mantelteilung vollzog und verabschiedete sich darauffolgend von seinem Militärdienst, um von nun an für die Kirche zu streiten. Im Jahr 351 wurde er getauft, gründete schon 361 in Ligugé ein Kloster, die spätere Abtei St. Martin de Ligugé, die schließlich auch ihm geweiht wurde. Im Jahre 375 errichtete er in der Nähe von Tours das Kloster Marmoutier und im Jahr 370 oder 371 wurde er zum Bischof von Tours geweiht. Durch sein beispielhaftes, tugendsames Leben förderte er den christlichen Glauben und durch die Gründung von Kirchen und Klöstern trug erheblich zur Christianisierung im europäischen Raum bei. Der Schlussstein zeigt den Soldaten auf einem Schimmel sitzend und er ist gerade dabei, mit seinem kurzen Schwert, das er in seiner Rechten hält, seinen roten Offiziersmantel zu teilen, um die eine Hälfte einem armen, lediglich mit einem offenen, kurzärmeligen, zerrissenen Untergewand und einfachen Stiefeln bekleideten Bettler zu geben, der vollkommen erschöpft vor ihm zusammengebrochen zu sein scheint. Der Bettler versucht sich zwar aufzurichten, hat seine Rechte zu dem Soldaten erhoben und seinen linken Ellenbogen neben seiner Umhängetasche auf dem Boden abgestützt, doch er schafft es nicht, sich aufzurichten und aufzustehen. Die Ambivalenz zwischen dem aufrecht auf dem Pferd sitzenden Soldaten und dem erbärmlich anzusehenden Bettler könnte kaum größer sein und wird zudem auch dadurch gesteigert, dass der gesamte Kopf des Hl. Martin über den Schlussstein hinausreicht, der Kopf des Pferdes ein stückweit, während der Kopf des Bettlers nicht über den Korpus des Pferdes hinauskommt, sondern unter diesem verharrt. Gerade die Stärke der helfenden Geste im Leid ist es, die in dieser Darstellung in der Ambivalenz zwischen Helfendem und Bedürftigem so eindrucksvoll zur Darstellung gelangt und der eben gerade an der exponierten Stelle des Chorschlusses deutlicher Ausdruck verliehen wird als an dem bereits romanischen Relief mit Darstellung des Heiligen Martin an der oberen Nordfassade der Plieninger Martinskirche.
Bildquelle: Inventarisation, Pelizaeus, DA Degerloch, Plieningen, Martinskirche Nr. 154.
23. Februar 2022 | Anette Pelizaeus | Inventarisation, Kunstgeschichte
Die Creglinger Herrgottskirche beherbergt nicht nur den berühmten Marien-Altar von Tilman Riemenschneider im Kirchenschiff, sondern auch zwei Seitenaltäre, die auf der Nord- und Südseite desselben situiert sind. Der Seitenaltar der Nordseite ist ein Flügelaltar, welcher Johannes dem Täufer und dem Hl. Leonhard geweiht ist. Kunsthistorische Forschungen haben ergeben, dass der Altar vmtl. 1496 aus bereits vorhandenen Teilen eines älteren, 1460 entstandenen Altares und einer neu angefertigten Predella sowie eines neuen Gesprenges zusammengesetzt wurde. Die Signatur des Künstlers „Jacob // müllholszer // 1496 …“ ist also wohl nicht auf eine gesamte Neuschaffung des Altares in diesem Jahr zu beziehen, obschon offenbleiben muss, welchen Anteil Müllholzer am Altarretabel überhaupt hatte.
Die Darstellung der Anbetungsszene befindet sich auf der rechten Seite des Schreins, der zudem links die Hochzeit von Josef und Maria und in der Mitte die Geburt Jesu zeigt. Möglicherweise sind diese Figuren der flämischen Kunst um 1460 zuzuschreiben, während die Tafelmalereien der Flügel wohl um 1500 entstanden sein dürften. Bemerkenswert ist die Darstellung der Anbetung der Heiligen Drei Könige vor allem deshalb, weil die Anbetungsszene nicht wie normalerweise üblich drei, sondern hier nur zwei Könige zeigt. Ein König steht hinter Maria und ist frontal dargestellt. Der bartlose Jüngling ist aufgrund seiner dunklen Hautfarbe dem afrikanischen Kulturkreis zuzuordnen und hält ein Gefäß in Gestalt eines Salbgefäßes mit Myrrhe in seinen Händen, welches er gerade öffnet, um den herrlichen Duft entweichen zu lassen. In der christlichen Ikonographie handelt es sich hierbei um Caspar. Maria sitzt seitlich vor ihm, erscheint aber im Profil. Auf ihrem Schoß sitzt das Jesuskind, das sie in ihren beiden Armen hält. Das Kind streckt seine Arme nach einer mit Gold gefüllten Kiste aus, die ihm ein vor Maria und Jesus knieender König entgegenstreckt. Durch seine helle Erscheinung und seinen Brokatmantel, den er trägt, wirkt er europäisch. Bei dieser Figur handelt sich also um König Melchior. Sein langer Schopf und sein langer Bart zeigen an, dass er schon betagt ist, aber dennoch muskulös, wie anhand seines bloßen rechten gewinkelten Beines zu erkennen ist. Trotz seiner kräftigen Statur wirkt er durch seine knieende und somit unterwürfige Gebärde klein, zumal sein Kopf über dem des Jesuskindes, aber dennoch auf dessen Augenhöhe dargestellt ist. Die beiden Figuren sind durch ihren jeweils konzentrierten, aufeinander ausgerichteten Blick einander zugewandt und zudem beugen sich beide vor, um sich etwas näherkommen zu können. Die Zuwendung, ja innige Zuneigung zwischen den beiden Figuren wird zudem dadurch hervorgehoben, dass Maria lediglich ihren Kopf zur Seite des Königs neigt, weder aber ihn noch das Jesuskind anblickt. Durch ihre seitliche Kopfwendung rückt auch das Salbgefäß mit Myrrhe von Caspar über dem Kopf des Jesuskindes als Symbol für das Menschsein und das Martyrium Jesu Christi.in das Zentrum des Geschehens. Das Jesuskind ist also auf dreierlei Weise herausgehoben, nämlich erstens durch die Geste und Gebärde von König Melchior, zweitens die innige Verbindung zwischen dem Schenkenden und dem Beschenkten und drittens schließlich durch das Salbgefäß mit Myrrhe über seinem Kopf.
Weshalb nun aber König Balthasar nicht in die Darstellung einbezogen zu sein scheint, gibt Rätsel auf, obschon auch nicht vergessen werden darf, dass nicht zwingend immer drei Könige dargestellt werden mussten oder müssen.

11. Oktober 2021 | Anette Pelizaeus | Inventarisation
Der seit 1994 bestehenden Arbeitsgemeinschaft Inventarisation in der EKD gehören die hauptamtlichen Inventarisatoren/innen bzw. Kunstreferenten/innen der einzelnen Gliedkirchen der EKD an, die sich bei einer jährlich stattfindenden Tagung über ihre Erfahrungen und den jeweiligen Stand der Inventarisation austauschen. Zudem nimmt jeweils eine Rechtsperson der EKD zur Klärung juristischer Fragen an den Jahrestagungen teil. Mit den katholischen Bistümern besteht der Kontakt über die jeweiligen Sprecher der AG, die ebenfalls jährlich anwesend sind.
Höhepunkt der diesjährigen Tagung am 23./24. September im hessischen Hanau war der Besuch der Staatlichen Zeichenakademie Hanau. Die Akademie wurde bereits 1772 durch den damals in Hanau residierenden Grafen von Hanau-Münzenberg, Landgraf und Erbprinz Wilhelm iX. von Hessen-Kassel als Zeichenschule gegründet. Das Ziel der Ausbildungsstätte bestand zunächst in der Steigerung der Entwurfsqualität der Hanauer Gold- und Silberschmiede für Schmuck und Silbergerät. Bereits 1837 wurde das Fächerangebot erheblich erweitert und 1866 durch Julius Carl Raschdorff ein Neubau geschaffen. Durch die beiden Erweiterungsbauten von 1973 und 2005 stellt dieses nach dem Zweiten Weltkrieg wiederhergestellte Gebäude heute den Altbau dar. Heutzutage werden in der Stattlichen Zeichenakademie Goldschmiede, Silberschmiede, Metallbildner, Graveure, und Schmucksteinfasser mit handwerklicher Grundausbildung und Berufsfachschule mit Berufsfachschulabschluss ausgebildet. Es besteht auch die Möglichkeit, eine Meisterprüfung abzulegen.
Für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der AG war der Besuch äußerst spannend und aufschlussreich. Die Führung durch die Werkstätten der Gold- und Silberschmiede visualisierte die große Anzahl an Werkzeugen und die gewaltige Vielfalt an Formvorlagen für die Bearbeitung der Metalle, ermöglichte den Austausch mit den Lernenden bei ihren Entwürfen und zeigte ihre großartigen Ergebnisse und die Preise, die sie bei stattgefundenen Wettbewerben erworben haben. Nicht zuletzt verblüffte der Blick in die Bibliothek mit einem enorm großen Bestand an Werken zur Gold- und Silberschmiedekunst, zur Metallverarbeitung, zur Kunstgeschichte und zum Design.
Eine weitere Führung fand in der wallonisch-niederländischen Kirche Hanau statt, die 1597 von Graf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg für niederländisch und französisch sprechende Glaubensflüchtlinge als reformierte Kirche gegründet und als Doppelkirche erbaut worden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde lediglich die kleinere niederländische Hälfte wiederaufgebaut, während der größere wallonische Teil Ruine geblieben ist und heute in das Gemeindezentrum integriert ist. Das Rauminnere der mehrseitigen Kirche besticht durch zentrierte Verbundenheit zwischen den Gläubigen und der Kanzel an der Schnittstelle der beiden einstigen Kirchen.
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In der Werkstätte der Silberschmiede in der Staatlichen Zeichenakademie Hanau
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In der niederländisch-wallonischen Kirche in Hanau
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Niederländisch-wallonische Kirche
15. Juni 2020 | Anette Pelizaeus | Inventarisation, Kirchen, Kunstgeschichte
Das Landeskirchliche Archiv Stuttgart ist neben der Sammlung, Erhaltung, Verwahrung, Erschließung und Bereitstellung von Archivalien sowie den vielfältigen Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit auch für die Inventarisierung der einzelnen Kirchen der evangelischen Landeskirche in Württemberg zuständig.
Die Inventarisation der Kirchen in den Dekanaten der evangelischen Landeskirche in Württemberg beinhaltet die Dokumentation der einzelnen Bauwerke einschließlich der wissenschaftlichen Erfassung ihrer Baugeschichte, der Beschreibung des Innenraums und des Außenbaus, der einzelnen unbeweglichen und beweglichen Kunstgegenstände, der Vasa Sacra und schließlich der historischen Paramente. Zunächst werden die Kirchenbauten und die dazugehörigen Kunstobjekte vor Ort von allen Seiten fotografiert. Ebenfalls vor Ort wird für jedes einzelne Objekt eines Kirchenbaus mit der Hand ein Formblatt mit Titel, grober Beschreibung und Maßangaben erstellt. Anschließend wird im Landeskirchlichen Archiv in einer elektronischen Datenbank jede inventarisierte Kirche mit ihren einzelnen Kunstobjekten erfasst. In dieser Datenbank, in der jedes Objekt eine eigene Inventarnummer erhält, werden die Angaben zu Datierung, Baugeschichte, Material und Technik ergänzt, bei vorhandenen Inschriften die Transkriptionen erstellt, eine ausführliche Beschreibung des Objektes vorgenommen, Literaturnachweise hinzugefügt und die entsprechenden Fotos eingefügt.
Ziel der Inventarisation ist erstens die Kontrolle über Verluste und Neuzugänge von kirchlichen Kunstschätzen in den einzelnen Kirchen. Verlorenes Kunstgut kann dabei vielfach durch den Rückgriff auf die detaillierte Dokumentation identifiziert und auf diese Weise bisweilen auch wiedergefunden werden.
Zweitens, und das ist der weitaus wichtigere Part, versteht sich die Inventarisation als Dienstleistung für die einzelnen Kirchengemeinden und Dekanate der evangelischen Landeskirche in Württemberg. Die wissenschaftliche Dokumentation der einzelnen Kirchen bietet die Möglichkeit der wissenschaftlichen Recherche für geplante Publikationen oder Ausstellungen, die dann auch vom Landeskirchlichen Archiv wissenschaftlich mitbetreut, gegebenenfalls auch mitorganisiert oder gar durchgeführt werden können. Auch Kirchenführungen durch die Inventarisatoren einzelner Kirchen sind immer wieder möglich und wurden, ebenso wie individuelle Ausstellungen, vielfach nachgefragt.
Die Ausstellung zur Dreihundertjahrfeier im Dekanat Besigheim oder der nun bald erscheinende Kirchenführer zur Stadtkirche St. Georg in Weikersheim sind herausragende Beispiele des offenen Dialogs zwischen Dekanaten, Kirchengemeinden und der Abteilung Inventarisation des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart.
Die Ansprechpartner für die Inventarisation sind Frau Dr. Anette Pelizaeus und Herr Claus Huber .
Beitragsbild: Unsere Inventarisatorin erklärt die Vasa Sacra der Herrenberger Stiftskirche. Foto: Landeskirchliches Archiv
Die Inventarisation auf der Homepage des Landeskirchlichen Archivs.
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Weikersheim, Stadtkirche: Altarretabel mit Darstellung des Abendmahls von Melchior Jung, 1616-1618
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Uhlbach, Andreaskirche: Historische Deckenbemalung mit Darstellung eines Propheten, 1894-1895
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Stuttgart, Schlosskirche: Glasmalerei mit Darstellung von Hzg Eberhard im Bart und seiner Gemahlin Barbara, 1864-1865, rest. 1950
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Stuttgart, Markuskirche: Altarantependium von Heinrich Dolmetsch, 1906-1908
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Stuttgart, Stiftskirche: Epitaph des Reformators Johannes Brenz (1499-1570)
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Plieningen, Martinskirche: romanische Reliefs unter dem Kranzgesims mit Darstellung einer Männleinfigur, 1165-1200
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Frauental, ehem. Zisterzienserinnenklosterkirche: Unterkirche, 3. V. 13. Jahrhundert
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Birkach, ehem. Franziskakirche: herzogliches Wappen auf einer Abendmahlskanne von 1780
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Besigheim, Altarschrein: Hl. Cyriakus heilt Arthemia, die Tochter des Kaisers Dioklethian, um 1520
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Bad Cannstatt, Stadtkirche: Engelskonsole, 1570-1575