Eine Kindesaussetzung und eine legale mögliche Wiedertaufe

23. Februar 2021 | |

In früherer Zeit (wie auch in Einzelfällen heute noch) kam es leider manchmal vor, dass ein neugeborenes oder noch junges Kind ausgesetzt wurde. Hierfür gab (und gibt) es mehrere vermeintliche Gründe, wie z.B. Armut, eine zu hohe Kinderzahl, die „Schande“ eines unehelichen Kindes, die Zeugung des Kindes durch eine Vergewaltigung oder die Angst, der Verantwortung für ein Kind nicht gewachsen zu sein.

Eine Kindsaussetzung ist im Taufregister von (Bad) Liebenzell für den 1. Mai 1716 belegt. Das Mädchen wurde Christina Sibylla genannt. An der Stelle, an der normalerweise die Eltern angegeben wurden, ist folgendes zu lesen:

„infantis huius Parentes ignorantus [= die Eltern dieses Kindes sind unbekannt], dann es ist den 6. Aprilis, monntags früh unter dem allhießigen untern Statt-Thor gefunden worden. Weyl man aber nicht gewußt, ob es getaufft, so ist auf unterth[änigstem] Bericht der herrschaftliche Befehl ergangen, solches Kind unverzuglich zuer h[eiligen] Tauff zu bringen, der dann auch den 1. Maii drauff in der Catechisation vorgenommen worden.“

Dem Taufeintrag ist weder zu entnehmen, welcher Aufwand betrieben wurde, um die Eltern dieses Kindes ausfindig zu machen, noch in wessen Obhut es gelangte. Möglicherweise kam es in die Familie eines der vier Paten, Friedrich Benjamin Schönlin, Amtspfleger, Hannß Michel Dieffenbacher, Bürgermeister, Christina Barbara, die Ehefrau des Pfarrer Georg Ludwig Fischers, und Sibylla Agnes, die Ehefrau des Vogtes Böhm.

Die Verantwortlichen standen aber noch vor einem anderen Dilemma: Es war ihnen nicht bekannt, ob das Kind bereits getauft worden war. Jedoch war man damals der Ansicht, ein neugeborenes Kind „sey ein Kind der Sünden, des Zorns und Ungnad, und das ime nicht anders geholffen werden möge, dann das es durch den Tauff, auß Gott neu geborn, und von Gott an eines Kindstatt, von wegen unsers Herrn Jesu Christi, angenommen werde“, wie es bereits in der Großen Kirchenordnung vom 4. November 1559 festgalten war. Dies ist ein Grund, warum man darauf bedacht war, dass ein Kind spätestens am zweiten Tag nach der Geburt getauft wurde, und das Neugeborene, bei denen man annahm, dass sie wegen ihrer Schwachheit nicht mehr lange zu leben hätten, zuhause notgetauft wurden („Gähtaufe“). Jedoch durften die letztgenannten Kinder in der Kirche nicht ein zweites Mal getauft werden, sondern wurden der Gemeine nur vorgetragen, also ihre Geburt und Taufe bekanntgegeben. Der Großen Kirchenordnung ist hierzu zu entnehmen: „Hierauff das das heilig, hochwirdig Sacrament des Tauffs nicht geschendt, noch Gottes Wort, darbey gefüret, für ein Spot gehalten werde, soll es bey dem empfangnen Tauff beleiben, unnd nicht wider geteüfft werden.“ – Dies ist u.a. auch der Grund, warum die Wiedertaufe so vehement abgelehnt und die Täuferbewegung (Wiedertäufer, Anabaptisten) so radikal verfolgt und bekämpft wurden. – Die Verantwortlichen erstatteten über das Findelkind Bericht an die Obrigkeit, die als Antwort die Taufe des Kindes befahlen, was dann schließlich dann auch – mehr also einen Monat nach der Auffindung des Kindes – am 6. April 1716 im Rahmen eines Katechismusunterrichts („Religionsunterricht“) geschah.

Das weitere Schicksal der Christina Sibylla ist (leider) bekannt. Sie starb bereits am 16. Juli 1717. In wessen Obhut sie sich bis dahin befand, ist ihrem Todeseintrag ebenfalls nicht zu entnehmen, der Eintrag lautet nur: „Christina Sibylla, ein Fundelkind, so unter dem allhiesigen Thor gefunden worden“.

 

Exkurs: heutige Situation

In einen ähnlich gelagerten Fall käme in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg heutzutage übrigens § 3 Abs. 5 der Taufordnung mit der dazugehörigen Ausführungsbestimmung zu Anwendung (auch wenn das Eintreten eines solchen Falles heutzutage eher unwahrscheinlich ist):

„Muß nach den Umständen angenommen werden, daß keine oder keine gültige Taufe stattgefunden hat, so wird die Taufe vollzogen, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen.“

„Bestehen Zweifel an der Gültigkeit einer Taufhandlung oder ob überhaupt eine solche stattgefunden hat, so sind die näheren Umstände, vor allem die Taufformel, zu ermitteln. Nur wenn diese Ermittlungen die Annahme begründen, daß keine oder keine gültige Taufe stattgefunden hat, wird die Taufe gemäß Abs. 5 vollzogen.“

 

Quellen

KB Bad Liebenzell, Mischbuch 1667-1760, Taufregister 1678-1743, S. 122

KB Bad Liebenzell, Mischbuch 1667-1760, Totenregister 1678-1760, S. 41

Zitate aus der Großen Kirchenordnung vom 04.11.1559: Reyscher, August Ludwig (Hrsg.): Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Achter Band. Enthaltend den ersten Theil der Sammlung der Kirchen-Geseze. Tübingen 1834, S. 174 und 179.

Wikipedia: Wiedertaufe

Wikipedia: Täufer

Taufordnung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, § 3

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