Artikel in Jubiläum

Einblicke in das Leben der Waldenser. Das Museumsstüble in Pinache

6. September 2023 | | ,

Am 7. September feiert die Landeskirche den 200. Jahrestag der Eingliederung der Waldenser- und Hugenottenkirchen in die Landeskirche. Bis dahin bestand eine eigene Waldenserkirche in Württemberg mit französischen Gottesdiensten. Wer waren eigentlich die Waldenser und warum siedelten sie sich in Württemberg an? Am 4. September 1699 hatte der württembergische Herzog Eberhard Ludwig seine Bereitschaft erklärt, ungefähr 2.200 um ihres reformierten Glaubens willen aus dem Piemont Vertriebenen eine neue Heimat zu geben. Diesen Waldensern – wie auch aus Frankreich nach Württemberg geflohenen Hugenotten – gestand der Herzog in Privilegien zu, ihre religiösen Angelegenheiten „jetzt und künftig“ selbstständig, d. h. unabhängig vom lutherischen Konsistorium, zu regeln. An mehreren Orten in Württemberg entstanden 1699 Waldenser- und Hugenottensiedlungen, so in Großvillars, Kleinvillars, Pinache mit Filiale Serres, Perouse, Dürrmenz-Welschdorf  mit den Filialen Schönenberg, Sengach und Corres, Lucerne und 1700 noch Neuhengstett und Nordhausen.

Wer in die Welt der württembergischen Waldenser ein wenig eintauchen und etwas über sie erfahren möchte, dem kann der Besuch des Museumsstübles im ehemaligen Waldenserort Pinache empfohlen werden. Das kleine Museum wurde im alten Rathaus des heutigen Teilorts von Wiernsheim eingerichtet. In drei Räumen werden dort Dokumente, Gegenstände und Bilder aus der Geschichte des Waldenserortes gezeigt. Besonders eindrucksvoll ist etwa ein Tondokument eines alten waldensischen Sprechers der okzitanischen Sprache, die sich hörbar stark vom Französischen unterscheidet. Tatsächlich sprachen die württembergischen Waldenser im Alltagsleben nicht französisch, was nur die kirchliche Amtssprache war, sondern ihre alpine Form des Okzitanisch. Eindrucksvoll ist eine ausgestellte Tracht einer Waldenserin, die ein Geschenk der Gemeinde Pinasca zur Feier der 40-jährigen Partnerschaft an die bürgerliche Gemeinde Wiernsheim war.

Das Museumsstüble ist von März bis November an jedem 1. Sonntag im Monat von 14 Uhr bis 17 Uhr geöffnet. Führungen sind nach Absprache jederzeit möglich. Kontaktdaten finden Sie hier. Der Eintritt ist frei, um eine kleine Spende wird gebeten.

In Neuhengstett findet am 14. Oktober eine Tagung zum Thema Waldenser statt.

Einen Beitrag zur Geschichte der Waldenser auf Württembergische Kirchengeschichte Online finden Sie hier.

Die Fotos wurden freundlicherweise von Frau Schuler vom Freundeskreis der Waldenser in Pinache und Serres zur Verfügung gestellt.

 

 

100 Jahre Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg

29. März 2023 | |

Vor 100 Jahren wurde der „Bund evangelischer Frauenvereine Württemberg“ gegründet, in einer Zeit, die von den Folgen des 1. Weltkriegs geprägt war. Arbeitslosigkeit, Hyperinflation und unruhige politische Verhältnisse bestimmten das Leben. Was veranlasste evangelische Frauen in Württemberg, sich in diesem Jahr zusammen zu schließen? Das Engagement der bereits vorhandenen evangelischen Frauenvereine, die sich vorwiegend zur Linderung der sozialen Not gegründet hatten, sollte gebündelt und eine Zersplitterung vermieden werden. Als Teil der Evangelischen Frauenbewegung war mit der Gründung dieser Dachorganisation der Anspruch verbunden, die Frauenvereine zu vernetzen und Frauen in allen Lebenslagen zu unterstützen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten die 1919 entstandene Frauenabteilung des Evangelischen Volksbundes, das spätere Frauenwerk, der Verein der Freundinnen junger Mädchen, heute als Verein für internationale Jugendarbeit bekannt, und der Deutsch-Evangelische Frauenbund, der sich als dezidierter Teil der konfessionellen Frauenbewegung verstand. Der „Bund evangelischer Frauenvereine Württembergs“ hattes es sich auch zur Aufgabe gemacht, Stellung zu allen wichtigen gesellschaftspolitischen und weltanschaulichen Fragen nehmen. Zu den wichtigen Themen, mit denen sich die evangelischen Frauen in den folgenden Jahrzehnten auseinandersetzten, gehören der Umgang mit Schwangerschaftskonflikten (§218), Apartheid, Umweltschutz, Gentechnik, Gewalt gegen Frauen und Friedensfragen. Als Evangelische Frauen in Württemberg (EFW) arbeitet der Verband bis heute für eine gerechte Beziehung zwischen den Geschlechtern und begleitet Frauen in verschiedenen Lebensformen in ihrem spirituellen Leben.

Weitere Blog-Beiträge zu den Evangelischen Frauen siehe 31. Juli 2019 und 8. Oktober 2021.

Die meisten archivischen Quellen zur evangelischen Frauenarbeit in Württemberg finden sich hier: Bestand K6 Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg 

Zum 100. Geburtstag von Jörg Zink: Über 6.000 Fotografien frei zugänglich

22. November 2022 | | , , ,

Fischer am See Genezareth (LKAS AS 6, Nr. 10476)

Jörg Zink (1922-2016) wäre am 22. November hundert Jahre alt geworden. Er war zu seiner Zeit einer der bekanntesten und sichtbarsten Theologen der württembergischen Landeskirche. Für viele war er das Gesicht eines Protestantismus, der die Verkündigung des Evangeliums konsequent mit den Fragen und Anforderungen der Zeit verknüpfen will.

Als Fernseh- und Rundfunkpfarrer, Autor zahlloser Bücher populärwissenschaftlicher und erbaulicher Art, als gefeierter Kirchentagsredner, Bibelübersetzer, Liederdichter und Prediger wurde er einem großen Publikum bekannt. Mit dem Bildnachlass von Jörg Zink lässt sich nun eine weitere Facette im Wirken dieses umtriebigen und produktiven Theologen kennenlernen: Jörg Zink war auch ein passionierter – und, wie man in seinem Bildnachlass sehen kann, ein begabter – Fotograf. Diese Seite seines Schaffens ist freilich nicht ganz unbekannt: Viele Illustrationen aus Zinks zahlreichen Büchern stammen von ihm selbst.

Jörg Zink unternahm vor allem in den 1970er-Jahren viele Reisen ins Heilige Land und in die ganze Mittelmeerregion. Von Griechenland bis in den Iran, von Ägypten bis Italien bereiste er die Altertümer des Mittelmeerraums. Dabei galt sein Interesse nicht nur den Zeugnissen der antiken Hochkulturen, den Tempeln, Ruinen, Burgen. Er suchte gerade dort auch nach dem zeitgenössischen Leben. Im Leben der Menschen schien für ihn das Leben in biblischer Zeit auf. In Palmyra waren ihm die Schafhirten ebenso wichtig wie die antiken Bauten; in den Fischern am See Genezareth, die er fotografierte, sah Jörg Zink die Jünger Jesu.

Szene am Nilufer in Ägypten

Im Jahr 2005 ließ Jörg Zink seine Dias digitalisieren und übergab die Digitalisate dem Evangelischen Medienhaus, damit die Fotos der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnten. Einige Jahre waren die Bilder als kostenpflichtiges Angebot zugänglich. Inzwischen wurden sie vom Landeskirchlichen Archiv übernommen. Das Archiv stellt die Bilder inzwischen auf seiner Rechercheseite zur Verfügung.

Der Bestand „AS 6: Fotonachlass Jörg Zink“ enthält 6.363 Digitalisate im Umfang von 118 Gigabyte. Die leider nur rudimentäre Verzeichnung der ursprünglichen Online-Datenbank wurde übernommen. Die Bilder sind nach Ländern und geografischem Bezug gegliedert, die ursprüngliche Schreibweise wurde dabei beibehalten.
Der direkte Link zum Bestand ist: http://suche.archiv.elk-wue.de/actaproweb/document/Best_d5997a4b-1eb3-4906-807b-bbd0302b4c52

Es war (noch) nicht möglich, die Bilder in einer CC-Lizenz freizugeben, aber die Bilder sind kostenfrei nutzbar und in relativ hoher Auflösung verfügbar. Das angehängte Wasserzeichen ist nicht invasiv und dient lediglich der Kennzeichnung der Bilder.

Mit den über 6.000 Fotografien von Jörg Zink wird pünktlich zu Zinks 100. Geburtstag ein Schatz für die Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht. Die vielfach künstlerisch wertvollen Fotografien aus dem Mittelmeerraum sind bedeutende Zeitzeugnisse aus den 1970er-Jahren, die Jörg Zinks spezifischen, biblisch geprägten fotografischen Blick erlebbar machen.

Martin Luthers „September-Testament“ von 1522

19. Oktober 2022 | | ,

Es war im Winter 1521/1522, als Martin Luther in der berühmten Lutherstube seines Verstecks auf der Wartburg, die auch heute noch zu den meistbesuchten Touristenzielen Deutschlands zählt, das Neue Testament vom griechischen Urtext in die deutsche Sprache übersetzte. Schon 11 Wochen später – bei seiner Rückkunft nach Wittenberg Anfang März 1522 – war das Manuskript fertiggestellt. Einer seiner wichtigsten Mitarbeiter war der Reformator, Professor und Sprachwissenschaftler Philipp Melanchthon. Die Übersetzung, die Luther in Wittenberg zusammen mit ihm und anderen Gelehrten kritisch durchsah, lag bereits im September 1522 in gedruckter Form vor, weshalb sie in der Forschung auch als „September-Testament“ bezeichnet wird. Aus der gemeinsamen Arbeit erwuchs eine gerade auch für die gesamte Bibelübersetzung äußerst fruchtbare Arbeitsgemeinschaft, aus der dann schließlich auch die beiden ersten Vollbibeln Martin Luthers von 1534 und 1545 hervorgingen, die dann schließlich millionenfach gedruckt wurden.

Für den Druck des „September-Testaments“ zog Martin Luther Melchior Lotter den Jüngeren sowie die beiden Verleger Lucas Cranach – er lieferte für die Schrift auch mehrere Holzschnitte – und Christian Döring heran. Die Drucklegung des Neuen Testaments dauerte nur fünf Monate, wobei zum Schluss auf drei Druckpressen gleichzeitig gearbeitet wurde, damit der 222 Blätter enthaltende Folioband bis zur Herbstmesse 1522 vorlag. Innerhalb von drei Monaten wurden dann etwa 3.000 Exemplare gedruckt. Das „September-Testament“ verbreitete sich so rasch, dass es bereits im Dezember 1522 vergriffen war. Spätestens am 19. Dezember desselben Jahres erschien dann das „Dezember-Testament“, also das „September-Testament“ in zweiter und gleichsam verbesserter Auflage. Aber damit nicht genug, denn zwischen 1522 und 1533 wurde das Neue Testament immerhin insgesamt 85 mal aufgelegt.

Das „September-Testament“ ist erstens insofern von epochaler Bedeutung, als Martin Luther für seine Übersetzung erstmals wieder auf den griechischen Originaltext und nicht auf die bereits vorhandene lateinische Übersetzung zurückgriff, er zweitens seine theoretischen Reflexionen und drittens seine enorme Wortgewalt einfließen ließ, die sich an der gehobenen Sprechsprache der Zeit orientierte, aber auch neue Vokabeln wie etwa „Sündenbock“, „Lückebüßer“ oder „Lockvogel“ in den Sprachbestand einbrachte. In diesem Sinne formte er das zur Schrift gewordene Wort Gottes in den eigenen Sprachgebrauch um, damit dieses zu einem ansprechenden Wort Gottes werde, das gehört und verkündet werden konnte.

Er hatte das übersetzte Testament zudem mit zahlreichen Randerläuterungen versehen, die nicht nur Wort- und Sacherklärungen, sondern darüber hinaus auch erbauliche Ausdeutungen von biblischen Worten und Begriffen beinhalteten. Zudem versah er die Übersetzung mit mehreren Einleitungstexten wie etwa die „Vorrede auf das Neue Testament“, in welcher er den Doppelsinn des Wortes „Evangelium“ erläuterte, sowie Vorreden zu allen neutestamentlichen Briefen einschließlich jeweils knapper Inhaltsübersichten. Auch in diesen Vorreden fehlten Erläuterungen zu theologischen Zentralbegriffen nicht.

Angesichts der Tatsache, dass das „September-Testament“ als Vorlage für die später erschienen Vollbibeln schon nach drei Monaten vergriffen war, eine enorm hohe Auflage erzielte und somit von einem großen Teil der deutschsprachigen Bevölkerung des 16. Jahrhunderts gelesen oder betrachtet wurde, hat es eine ungemein hohe Wirkmächtigkeit erreicht.

 

Quellen und Literatur

Septembertestament:

Das Neue testament Deutzsch: [Septembertestament]/ [Martin Luther]. – Vuittemberg: [Melchior Lotter d.J. für Christian Döring und Lucas Cranach d. Ä., ca. 21. Sept. – Matthäustag – 1522-CVII, LXXVII, [26] Bl.2. Der Titel des Folio-Bandes lautete: „Das Newe Testament Deutzsch“. Vgl. zur Titelseite des Folio-Bandes Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Sign. Bb deutsch 152201.

Literatur:

Beutel, Albrecht: Thesen und Testament. Beginn der Reformation, Altere Bibelübersetzungen und Septembertestament, in: Käßmann, Margot/Rösel, Martin (Hrsg.): Die Bibel Martin Luthers. Ein Buch und seine Geschichte. Leipzig 2006, S. 55-75.

Müllhaupt, Erwin: Luthers Testament. Zum 450. Jubiläum des Septembertestamentes 1522. Witten, Berlin 1972, S. 7-95.

„Mit tiefem Andachts-Gefühl und Herzerhebung“ – die Kantaten des Georg Benda

1. September 2022 | |

Georg Benda. Stich von C.G. Geyser. Gemeinfrei

Vor 300 Jahren wurde der Komponist und Musiker Georg Benda geboren. Sowohl mit seinen religiösen Werken als auch den Opern und Melodramen wurde er von seinen Zeitgenossen, auch in Württemberg, sehr geschätzt. Seine Kantaten erklangen ab 1789/90 in den Sonntagsgottesdiensten der Schorndorfer Stadtkirche.

Im Frühjahr 1752 übernahm Benda die Stelle als Hofkapellmeister in Gotha. Zu seinen Aufgaben gehörte die Gestaltung der Kirchenmusik in der Schlosskapelle. Nachdem er bereits für die Jahre 1753/54 und 1765/66 zwei Kantatenjahrgänge vorgelegt hatte, komponierte er 1760/61 einen dritten. Dieser enthält 69 Kantaten nach der Textvorlage des Theologen Balthasar Münter, die nach dem Kirchenjahr geordnet sind und das Thema bzw. die Schriftlesung des jeweiligen Sonn- oder Festtags aufgreifen.

Doch wie kam ein Kantatenjahrgang eines Kapellmeisters aus Gotha nach Schorndorf? 1789 klagte der damalige Musikdirektor in Schorndorf Carl Christian Ferdinand Weckherlin, die vorhandenen Kantaten seien veraltet und entsprächen nicht mehr den gegenwärtigen Geschmack. Außerdem sei es für die Musiker „äußerst entleidend die schon seit 20 Jahren immer das nemliche zu spielen und zu singen“ und empfahl den Ankauf neuer Noten. Dafür empfahl er den Kantatenjahrgang von Georg Anton Benda, der ganz nach dem heutigen Geschmack, mit tiefen Andachts-Gefühl und Herzerhebung“ verfertigt worden. Bereits in den 1770er Jahren waren Benda-Kantaten in Ulmer Münster und in der Stadtkirche in Nürtingen aufgeführt worden und so in Musikerkreisen in Württemberg bekannt.

Der Vorschlag Werckherlins wurde vom Magistrat in Schorndorf angenommen, die Kantaten angeschafft, die Stimmen abgeschrieben und im Gottesdienst vom Collegium Musicum aufgeführt. Als auch die Benda-Kantaten veraltet waren, wurden sie – zusammen mit anderen Noten des Collegium Musicums – in der Kirche Schorndorf gut verwahrt. Ende der 1980er Jahre wurden die ca. 500 historischen Notenhandschriften wiederentdeckt und der Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen übergeben. Dort erkannte Dr. Helmut Völkl den Wert des Notenschatzes und ließ sie von Studenten innerhalb ihrer Abschlussarbeiten musikwissenschaftlich untersuchten. Schließlich übergab man die Noten an die Landeskirchliche Zentralbibliothek in Stuttgart. Dort lagern sie – in säurefreien Kartons verpackt – im Magazin. Inzwischen sind die Noten nicht nur im RiSM und im K10 plus katalogisiert, sondern auch digitalisiert. Werfen Sie doch einen Blick in die elektronische Sammlung der Evangelischen Zentralbibliothek Württemberg: http://elk-wue.gbv.de/resolve?id=492925267

Eröffnet euch Himmel: Kantate zum 26. Sonntag nach Trinitatis. Komponiert von Georg Anton Benda nach Texten von Balthasar Münter. – 4 Singstimmen, 4 Stimmen für Streicher, 1 Stimme für Orgel und Partitur. Handschriftlich. – 36 x 21,5 cm, Landeskirchliche Zentralbibliothek, Schorndorfer Musikhandschriften: 219

Erster Schritt zur Entstehung der deutschen Tierschutzbewegung: 200 Jahre „Bitte der armen Tiere“ von Christian Adam Dann

4. August 2022 | |

1822 veröffentlichte der Stuttgarter Pfarrer Christian Adam Dann eine „Schutz- und Bittschrift für die Thiere“, die nicht nur das bürgerliche Lesepublikum, sondern auch viele Bauern- und Handwerkerfamilien erreichte. Sie wurde zur meistgelesenen deutschen Tierschutzschrift im 19. Jahrhundert und erlebte drei Auflagen. Ihre große Wirkung verdankte die 44-seitige Broschüre wohl kaum den darin enthaltenen, erstaunlich weit gehenden tierrechtlichen Ansätzen. Entscheidend für ihren Erfolg waren die Kraft der Sprache, die lebendige Bildhaftigkeit und die Dramatik der Darstellung, die gleichzeitig spürbar werden ließen, dass hier einer neuen Sache das Wort geredet wurde: Jeder Leser, jede Leserin sollte dazu beitragen, das Elend der Tiere zu mindern und ihr Recht auf ein Minimum an Lebensgenuss zu respektieren. Anders als frühere Äußerungen von Theologen und Philosophen wollte die Schrift nicht hauptsächlich das Verhältnis zu den Tieren theoretisch reflektieren, sondern zu Verhaltensänderungen ihnen gegenüber treiben. Die „Bitte“ markiert den historischen Übergang von der Reflexion zur Aktion, zum praktischen Schutz der Tiere. Das war etwas vollkommen Neues. Wie sich zeigen sollte, war sie der erste Schritt hin zur Entstehung der deutschen Tierschutzbewegung 15 Jahre später, kurz nach Danns Tod 1837.

1822 arbeitete Pfarrer Dann in Mössingen auf der Alb. Dorthin war er 1812 aus Stuttgart strafversetzt worden, weil er das feudale Lotterleben am königlichen Hof öffentlich kritisiert hatte. Strenge moralische Maßstäbe wendeten nicht nur Pietisten wie Dann gegen das Ancien Régime, sondern das Bürgertum überhaupt. Individualismus, Gefühlskult und Empfindsamkeit, die gerade in Württemberg mit der Romantik verbunden waren, wurden gegen den Spätabsolutismus in Stellung gebracht. In dieser geistigen Atmosphäre begann man auch Tiere als Mitgeschöpfe wahrzunehmen und ihr Leid in die eigene Gefühlswelt einzubeziehen – ein wichtiger Antrieb für Pfarrer Dann und die spätere Tierschutzbewegung, aktiv zu werden. Der Beginn der „Bitte“ lässt das gut erkennen:

Dann schildert gefühlvoll, wie er und seine Gemeinde beim Ostergottesdienst im Freien vom emsigen Hin- und Herfliegen eines Storchenpaars über ihren Köpfen berührt werden, das auf dem Kirchturm sein Nest repariert – es hat „etwas für unser Herz Ansprechendes und Wohltuendes“ und war „lieblich anzusehen“. Wochen später, als die Jungen schon ausgeflogen sind, wird eins der Elterntiere auf einer Wiese Mössingens niedergeschossen. Wie Dann nun den vereinsamten Partner tagelang fast unbeweglich auf dem Nest stehen sieht, beschreibt er, wie er dessen Trauer teilt und ihm „Thränen … in die Augen“ treten. Es gelingt ihm, seine Leser/innen an dem Schmerz des großen Vogels teilhaben und ihn als Individuum, als Person wahrnehmen zu lassen. Darüber nachsinnend sieht er sie vor sich, „die auf tausendfache Art … mißbrauchte, geplagte, geängstigte, mißhandelte, zerstümmelte und zerstörte Creatur“.

Das Elend der Tiere stellt Dann anschließend mit unzähligen schauerlichen Beispielen vor Augen, indem er einen mitnimmt auf Spaziergänge durch Dörfer und Städte. Schließlich lässt er die Tiere selbst sprechen, mit der äußerst bescheidenen Bitte: „Macht uns unser meist kurzes, mühevolles Leben erträglich und unsern Tod so kurz und so leicht wie möglich.“ Dass in 200 Jahren bis heute nicht einmal das erreicht wurde, zeigt jeder Blick auf das Leben der Tiere in unserer heutigen Gesellschaft.

Eine ausführliche Darstellung und Analyse der „Bitte“ und eines weiteren Tierschutzappells von Dann auch in Bezug auf seine tierrechtliche Position liefert das neue Buch „Tierschutz und Tierrechte im Königreich Württemberg. Die erste deutsche Tierschutz- und Tierrechtsbewegung 1837, die drei württembergischen Tierschutzvereine ab 1862 und ihre Tiere “ von Wolfram Schlenker. Es beschreibt auch die Bedeutung des hiesigen, ländlich verwurzelten Pietismus überhaupt für die Entstehung der ersten deutschen Tierschutzbewegung in Württemberg und seine spürbare Nachwirkung in den Biografien späterer Tierschützer im 19. Jahrhundert bis hin zum Luftschiffer Ferdinand Graf Zeppelin. Nähere Angaben zum Buch finden sich hier.

Link zu Blogbeitrag: Welt-Tierschutztag am 4. Oktober / 4. Oktober 2020 | Andrea Kittel

Meta Diestel (1877-1968) 145 Jahre

15. Juni 2022 | |

Königliche Kammersängerin, Gesangspädagogin, Volksseelsorgerin, Wohltäterin – all diese Facetten umfassen das Wirken der vor 145 Jahren geborene Meta Diestel (1877-1968).

Meta Diestel wurde 1877 in Tübingen in eine Theologenfamilie hineingeboren. Am Stuttgarter Konservatorium für Musik studierte sie Gesang und ihr stand eine große Karriere als Altistin bevor. Mit dem Titel „königliche Kammersängerin“ reiste sie durch viele Länder und erwarb sich einen hervorragenden Ruf, ganz besonders mit Bachoratorien. Doch dann kam der Erste Weltkrieg. „Wer konnte jetzt überhaupt noch singen?“, schrieb sie in ihrer Auto­bio­grafie „Ein Herz ist unterwegs“ (Nürnberg 1952, S. 53). Angesichts des Krieges traf die Künstlerin eine folgenreiche Entscheidung: Sie gab fortan Frontkonzerte und sang in Lazaretten. Darüber hinaus stellte sie sich ehrenamtlich in den Dienst kirchlicher Frauenverbände, gab Liederabende in deutschen Städten und Dörfern für Butter, Eier, Milch und Textilien, die dann an Kinderheime, Kindergärten und bedürftige Familien verteilt wurden. 1917 beteiligte sie sich an der Gründung einer Mütterschule in Stuttgart, der ersten Deutschlands.

An ihrem sozialen Engagement hielt sie auch nach dem Krieg fest. Es herrschten Arbeitslosigkeit, Inflation und Hungersnot. 1923 unternahm Meta Diestel eine Konzertreise in die USA mit 24 Aufführungen in New York und anschließender Tournee durch 16 Staaten: 130 Konzerte in 108 Tagen. Auf diese Art ersang sie tonnenweise Trockenmilch für Kinderheime in Deutschland. Aus der Königlichen Kammersängerin war eine „Speisekammersängerin“ geworden, wie sie sich selbst gern nannte.

In den 1920er Jahren kam sie in Kontakt mit der Jugendmusik­bewegung. Sie entdeckte die gemeinschaftsstiftende Kraft des Gesangs und damit auch einen neuen Zugang zur biblischen Botschaft. Sie ließ sich zur Singleiterin ausbilden, dirigierte große Singgruppen und veranstaltete an vielen Orten das von ihr eingeführte „Müttersingen“. Die evangelischen Frauenverbände rissen sich um sie.

Wer das einmal miterlebt hat“, schrieb der Berliner evangelische Bischof Otto Dibelius, „wie diese Frau vor eine Versammlung von 300 oder 600 oder 800 Frauen trat, wie unter ihrem Wort und unter ihrer fortreißenden Leitung die gleichgültigen, sorgenvollen, vielfach stumpf gewordenen Gesichter sich allmählich erhellten, sich immer mehr auflockerten, bis zum Schluss der Singstunde lauter fröhliche Menschen in einen froh bewegten Lobgesang einstimmten – der vergisst das nicht wieder. Hier geschah Seelsorge großen Stils.“ (Otto Dibelius, Geleitwort zu Meta Diestel, Ein Herz ist unterwegs, Nürnberg 1952, S. 5 f).

Ein Großteil ihres Einsatzes galt dem 1933 gegründeten evangelischen Bayerischen Mütterdienst. Zur NS-Mütterarbeit hielt sie entschieden Distanz. Unermüdlich zog sie durch die Müttererholungsheime oder hielt Singstunden ab mit den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen auf den jährlichen Arbeitstagungen des Mütterdienstes. Die Müttersingstunden führten sie auch während des Zweiten Weltkrieges durch ganz Deutschland, egal wie mühsam und gefährlich die Anfahrt war – in überfüllten Zügen mit einem Rucksack voller Liederbücher, manchmal unter Tieffliegerbeschuss.

Ein solcherart beruflich aktives Leben bedeutete für Frauen dieser Zeit oft Verzicht auf Ehe und Familie. Meta Diestel wollte ihren Lebensweg nicht allein gehen. In den 1920er Jahren begegnete sie im Umfeld der evangelischen Frauenverbände Heidi Denzel (1893-1975), der Geschäftsführerin der Frauenabteilung des Evangelischen Volksbundes, die in der Frauenarbeit engagiert war wie sie selbst. Die beiden Frauen verstanden sich sofort und wurden schließlich Lebensgefährtinnen. Ihr gemeinsamer Haushalt in Stuttgart-Degerloch war lebhaftes Zentrum für Geschwister, Neffen und Nichten beider Familien sowie für einen weit gefassten Kreis von Gleichgesinnten.

Eine Herzerkrankung zwang Meta Diestel sich 1955 aus dem aktiven kirchlichen Dienst zurückzuziehen. Dennoch unterstützte sie, soweit es ging, wohltätige Einrichtungen und organisierte Hilfspakete für die DDR.

Für ihre künstlerischen und sozialen Verdienste wurde Meta Diestel 1957 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz gewürdigt. 1968 starb sie mit 91 Jahren. Sie ist auf dem Alten Friedhof in Stuttgart-Degerloch begraben.

Im Landeskirchlichen Archiv gibt es zahlreiche Quellen und Objekte, die das facettenreiche Leben und Engagement dieser Frau dokumentieren.

 

Quellen LKAS:

Film Meta Diestel und Heidi Denzel 1962 in ihrer Wohnung in Stuttgart-Degerloch  (auf dem Youtube-Kanal des Landeskirchlichen Archivs)

Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg K 6

Frauenwerk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg K 17

Evangelische Frauen in Württemberg (EFW) K 38

Personalakte Meta Diestel

Personalakte Heidi Denzel

Konvolut Briefe von Meta Diestel an Heidi Denzel (noch unverzeichnet)

 

Literatur:

Meta Diestel, Ein Herz ist unterwegs: aus Leben und Arbeit, Nürnberg 1952

Meta Diestel, Vom Müttersingen. Evang. Frauenhilfe in Württemberg, Stuttgart, ca. 1960

Charlotte Essich – die Frau im Talar, die eigentlich keinen haben durfte

18. April 2022 | | ,

Charlotte Essich war eine der ersten Theologinnen in Württemberg und eine der ganz wenigen unter ihnen, die noch vor der anstellungsrechtlichen Gleichstellung der Pfarrerinnen mit den Pfarrern 1968 sämtliche Amtshandlungen, auch den „Dienst am Mann“, ausführte, und das im Talar – alles für Frauen kirchenamtlich eigentlich nicht vorgesehen.

Charlotte Essich in der Hospitalkirche Stuttgart, 1960er Jahre

Am 18.4.1912 wurde Charlotte Essich in Oberndorf geboren. „Die interessanten Fragen der Theologie“ waren es, die sie im Jahr 1931 zum Studium der evangelischen Theologie bewogen hatten – wenngleich ohne Aussicht auf entsprechende Anstellung. Zwar waren Frauen seit 1904 zum Studium zugelassen, doch in ein vollwertiges Pfarramt mit Predigtamt und Sakramentshandlungen sollte dieser staatliche Schritt nicht führen. Vielmehr wurde in der Landessynode im Januar 1919 von einem Prälaten als Schreckgespenst an die Wand gemalt: “Die Frau wird den Anspruch erheben, auf der Kanzel, im Altar und am Taufstein gleich dem Manne zu wirken. (…) Und dieses Eindringen schwarmgeistiger Elemente gerade, ausgerechnet in die männlich-straffe, nüchtern-ernste Kirche Luthers ist unerträglich!”

Die Amtsbezeichnungen in Charlotte Essichs Berufslaufbahn spiegeln die Stadien des jeweils zugestandenen Dienstverhältnisses: Sie begann als „Praktikantin“, war „außerordentliche“ und „ordentliche Pfarrgehilfin“, ab 1937 konnten Frauen als „Vikarin“ eingesegnet werden und ab 1948 als Endstufe zur „Pfarrvikarin“ ernannt.

Frauen sollten auch nicht die offizielle Amtstracht, den Talar, tragen dürfen. Nicht einmal, als sie während der Kriegszeiten zunehmend für die Vertretung der abwesenden Pfarrer auch zum Predigtdienst herangezogen wurden. In Bad Cannstatt jedoch hatte Essichs Vorgängerin bei solcher Kriegsvertretung, Lenore Volz, den Dekan bereits überzeugt, dass es ohne Talar sehr schwierig sei, Gottesdienste zu halten. Also konnte Charlotte Essich, als sie 1943 an die Cannstatter Stadtkirche geholt wurde, in einem eilig herbeigeschafften und umgearbeiteten Talar auf die Kanzel treten – freilich nicht mit Beffchen, sondern vom männlichen unterscheidbar: mit blusenähnlichen weißen Leinen-Ecken.

Sie hat den Talar dann behalten und beibehalten: „Ganz unentbehrlich wurde mir der Talar, als ich im Herbst 1944 vom Oberkirchenrat in die Gemeinde Adelmannsfelden-Pommertsweiler (Dekanat Aalen) beordert wurde zur Vertretung des – an der Front weilenden – Ortspfarrers. Die Doppelpfarrei mit den verschiedenen Weilern und vielen weit auseinanderliegenden Höfen, stark belegt mit „Evakuierten“ (Erwachsenen und Schülern) wurde bis dato – so gut wie möglich bei der großen Entfernung, den schwierigen Wegverhältnissen – zu Fuß, per Rad und Skiern! – vom Pfarramt Neubronn aus versorgt. Nun sollte ich diese „Versorgung“ übernehmen.“

Doch herrschte auch dort die Meinung: „Frau auf der Kanzel, das geht nicht“. Also machte sie dem Kirchengemeinderat einen Vorschlag: „Wir wechseln ab. Jeden zweiten Sonntag hält ein anderer Kirchengemeinderat den Gottesdienst, ich habe es schon einmal aufgelistet: Zuerst Sie und dann … und dann …“. Der Vorsitzende nickte betreten. Sie kam ihm entgegen: „Das ist jetzt natürlich etwas kurzfristig. So könnte ich anbieten, dass ich den ersten Sonntag übernehme, und Sie dann länger Zeit zum Vorbereiten haben.“ Er schaute vor sich nieder und meinte nach einer langen Pause: „Ja, dann wird’s wohl bei Ihnen hängen bleiben.“

Genau so kam es, und ihre Arbeit wurde sehr geschätzt: Religionsunterricht, Bibelstunden, Seelsorge, Gottesdienste, Taufen, Beerdigungen – nicht kirchen-amtlich ermächtigt, aber pfarramtlich notwendig. Eine Bäuerin sagte zu ihr: „Wenn nur der Hitler mal hierher käme, dann würde ich dem die Wahrheit sagen, so wie Sie uns immer sonntags!“

Charlotte Essich war bereits während des Studiums der sich formierenden Bekennenden Kirche beigetreten, sie hatte 1937 den Treueeid auf den Führer verweigert und sich stets klar und vernehmbar gegen den Nationalsozialismus gestellt. So wurde der Dienst auch durch Angst vor Denunzierung erschwert. Der Rückhalt bei den Gemeindegliedern scheint jedoch stärker gewesen zu sein.

Frauen-Beffchen, spitz zulaufend, 1948, von der Stuttgarter Paramentenwerrkstatt entwickelt. Landeskirchliches Archiv, Museale Sammlung, Inv.-Nr. 95.003-02

Als die Pfarrer aus dem Krieg zurückkamen, mussten die Frauen wieder aus den Gemeinden weichen. Charlotte Essich, inzwischen als „Vikarin“ im Gemeindedienst in Schwäbisch Hall, wurde 1948 schließlich zur Evangelischen Frauenhilfe (heute: EFW) in für den Reisedienst versetzt, zur geistlichen Betreuung und Fortbildung von Frauen in ganz Württemberg. Ihre theologische Leidenschaft trieb sie auch hier und sie konnte rückblickend sagen: „Ich war insofern schon feministisch in Bibelarbeiten, als man da auf Frauen eingeht, das wurde ja sonst nicht getan!“

Wenngleich der Talar dabei fast immer im Schrank bleiben musste, wurde er doch bereits damals zu einem geschichtlichen Zeugnis:

„Ja, der Talar, mich umhüllend – wurde in jener Zeit sogar fotographiert anlässlich eines Besuches von Miss Sarah Coggan, Schwester des damaligen Erzbischofs von York, später von Canterbury, einer englischen Theologin mit der Amtsbezeichnung „Deaconess“. Miss Coggan wollte sich über Dienst und Situation der württembergischen Theologinnen informieren – eines der Fotos, die Miss C. nach England mitnahm, wurde in einer englischen Frauenzeitschrift – samt Bericht – abgedruckt.“

1974 ging Charlotte Essich in den Ruhestand, versah aber längere Zeit im Schwarzwald noch aufwändige Vertretungsdienste. Danach zog sie nach Tübingen, wo sie am 18. Juli 2008 starb.

Ihr Talar ist ein textiles Zeugnis einer bewegten Geschichte.  Charlotte Essich gab ihn 1995 in die Sammlung des Landeskirchlichen Museums in Ludwigsburg und verfasste dazu einen Text „Geschichte eines alten Talars“. Beides wird heute im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart aufbewahrt und steht für Ausstellungen und Forschungsarbeiten zur Verfügung.

Das Manuskript wird, mit Kommentaren versehen, demnächst auf wkgo veröffentlicht und verfügbar sein.

 

Quellen der Originalzitate:

Gespräche und Interviews mit Stefanie Schäfer-Bossert (Aufzeichnungen bei der Autorin, Privatarchiv Schäfer-Bossert)

Charlotte Essich, „Geschichte“ eines alten Talars, 1995. (Manuskript)

 

Hintergrundinformationen und Literatur bei:

Stefanie Schäfer-Bossert: Die ersten Württemberger Theologinnen und ihr langer Weg ins Pfarramt, https://www.wkgo.de/themen/theologinnen

Dort angefügt auch eine Zeitleiste mit markanten Daten in der Geschichte der ersten Theologinnen in Württemberg.

Neue Ordnung nach dem Krieg für die Evangelische Jugendarbeit

13. Dezember 2021 | |

Vor 75 Jahren erhielt das Evangelische Jugendwerk Württemberg (ejw) eine neue Ordnung. Nachdem die Verbände der evangelischen Jugendarbeit im Nationalsozialismus zerschlagen worden waren, musste nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Jugendwerk neu organisiert werden.

1934 waren alle Jugendlichen des Evang. Jugendwerkes unter 18 Jahren in die Hitlerjugend und den Bund Deutscher Mädel eingegliedert worden. Konfessionelle Jugendarbeit durfte nur noch “in kirchlichem Auftrag” weitergeführt werden, sodass die Evangelische Landeskirche die Jugendarbeit der freien selbständigen Verbände und Bünde in ihren Schutz nehmen musste. Zu diesem Zweck wurde die Evangelische Landesjugendstelle und ein Landesjugendpfarramt eingerichtet. Pfarrer Dr. Manfred Müller übernahm in dieser Zeit die Führung der gesamten Jugendarbeit – also der Gemeindejugend in den Pfarreien und der über 18jährigen im Mädchen- und im Jungmännerwerk. Für die Arbeit mit der weiblichen Jugend unter 18 Jahren wurde ihm Agnes Lumpp zur Seite gestellt.

Nach dem Zusammenbruch des NS-Staates wollten die Jugendverbände und Bünde ihre Freiheit zurückgewinnen, gleichzeitig sollte die Verbindung mit der Kirche erhalten bleiben.

In einer von ihm selbst so genannten “Schwabenformel” schuf der Landesjugendpfarrer Manfred Müller eine einzigartige Konstruktion, die bis heute in Kraft ist. Nach ihr arbeitet das ejw “selbständig im Auftrag der Landeskirche”. Das Evangelische Jugendwerk lädt demnach junge Menschen mit ihren Angeboten ein, ihr Leben auf ein christliches Fundament aufzubauen. Die Landeskirche verleiht dem Jugendwerk auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens die Freiheit, die Strukturen und Aufgaben der Jugendarbeit an die sich stets wandelnden Bedürfnisse der jungen Menschen anzupassen.

Bereits am 17. Oktober 1946 hatten sich das Evang. Mädchenwerk und das Jungmännerwerk unter einer gemeinsamen Ordnung zusammengeschlossen. Organisatorisch blieben beide Werke getrennt und wurden von zwei Landesarbeitskreisen geleitet. Auch CVJM und Pfadfinder wurden mit dem Evangelischen Jugendwerk verbunden.

LINKS

K 24 (Archivbestand ejw)

www.ejwue.de

Zum Welt-Aids-Tag: Ein Virus hat die Welt im Griff

1. Dezember 2021 | |

Nicht nur heutzutage, sondern auch Anfang der 1980er Jahre sorgte ein Virus in Fernsehen, Radio und Zeitungen für ein Dauerthema: Aids. Die durch HIV ausgelöste Immunkrankheit forderte zunächst vor allem in den USA massenhaft Todesopfer. 1981 wurden dort die ersten Fälle der Krankheit beschrieben, die sich daraufhin weltweit verbreitete – Aids wurde zur Pandemie: Über 30 Millionen Infizierte starben bisher an den Folgen einer HIV-Infektion. Eine Schutzimpfung steht nach wie vor nicht zur Verfügung. In Mitteleuropa ist AIDS durch die effektivere Behandlung von HIV-Infizierten mit neuen Medikamenten zwar seltener geworden, doch insbesondere im Globalen Süden ist dieses Virus nach fast 40 Jahren noch nicht besiegt. Auch wenn es sich bei HIV um ein völlig anderes Virus als SARS-CoV-2 handelt, ist die Entwicklung der sozialen Dimension also recht ähnlich.

Das Evangelische Missionswerk in Südwestdeutschland (EMS) engagiert sich in Ländern wie Südafrika, Ghana und Indien, deren Bevölkerung von dieser Krankheit besonders stark betroffen ist und beteiligt sich regelmäßig an den Kampagnen des Aktionsbündnisses gegen Aids. Die Rote Schleife steht weltweit für Solidarität mit HIV-positiven und aidskranken Menschen. Aus dem Bestand des EMS kamen die Werbeobjekte in die Museale Sammlung.

Links:

Evangelische Mission in Solidarität (EMS)

Welt-Aids-Tag

Seit 70 Jahren gibt es die „Dorfhelferinnen“

4. November 2021 | |

Was tun, wenn die Bäuerin krank ist, zur Entbindung in die Klinik muss oder ein Kuraufenthalt bevorsteht? Was ist mit ihrer Arbeit in Haus und Hof? Wer schaut nach den Kindern? Wie soll die Landwirtschaft weiterlaufen, wo doch jede Hand gebraucht wird?

Um den Bauersfamilien in solchen Belastungsfällen zu helfen, wurde vor 70 Jahren der neue Ausbildungsberuf „Dorfhelferin“ geschaffen. Die Initiative ging aus von der Evang. Frauenhilfe in Württemberg, – heute Evangelische Frauen in Württemberg (EFW). Seit ihrer Gründung 1919 hatten sie die Förderung und Unterstützung von Frauen zum Ziel und schufen viele diakonische, politische und spirituelle Projekte: Anlaufstellen für Hausmädchen, Erholungshäuser für erschöpfte Mütter…

1951 begann das neu gegründete Dorfhelferinnenwerk mit der Ausbildung staatlich anerkannter Fachkräfte im familienpädagogischen, hauswirtschaftlichen und pflegerischen Bereich. Die Dorfhelferinnen leisten im unmittelbaren Lebensumfeld der Familien praktische Hilfen und sorgen so – auch in vorübergehenden Krisenzeiten – für das Wohl der betroffenen Kinder. Sie sind darüber hinaus qualifiziert, in Vertretung der Bäuerin Aufgaben im landwirtschaftlichen Haushalt und Betrieb zu übernehmen. Dies sind vor allem Melk- und Erntearbeiten und die Direktvermarktung der Produkte auf Märkten und Hofläden.

LINKS:

LKAS Bestand K 34

Evangelisches Familienpflege- und Dorfhelferinnenwerk

 

Reformationsmedaillen Eine Schenkung für die Museale Sammlung

29. Oktober 2021 | | , ,

Im Jahr 2015 vermachte der Pfarrer und frühere Kunstsachverständige der württembergischen Landeskirche Kurt Schaal (1928-2015) unserem Archiv rund 200 Münzen und Medaillen mit Motiven zur Reformation. Mittlerweile sind sie umfassend digitalisiert und über unsere Datenbank abrufbar.

Münzen waren ein ideales Medium für die Verbreitung von Botschaften und Propaganda, denn als Zahlungsmittel gingen sie durch Jedermanns Hände. Kein Wunder also, dass auch die evangelischen Fürsten das Geld nutzten, um ihre protestantische Gesinnung werbewirksam bekannt zu machen. Auf diese Weise geehrt, rückte der Reformator Martin Luther auf eine Ebene mit Berühmtheiten wie Kaiser, Fürsten oder Papst. Neben Porträts von Luther und seinen Mitstreitern wurden reformatorische Ereignisse abgebildet, aber auch Allegorien, die die reformatorische Glaubensauffassung ins Bild rückten. Wichtige identitätsstiftende Elemente wurden die sogenannten „Jubelmünzen“ anlässlich der Reformationsjubiläen. Zu den 200-Jahrfeiern der Reformation 1717 und der Übergabe der Augsburger Konfession 1730 prägte man erstmals in größerer Anzahl Gedenkmünzen und -medaillen. Eine Tradition, die sich bis heute fortsetzt.

70 Jahre Staatsbürgerliche Bildungsarbeit der Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg

8. Oktober 2021 | |

Das Feld der Politik sollten auch Frauen bestellen und aktiv mitgestalten können. Dieser Meinung war die Vorstandsfrau der Evangelischen Frauenarbeit in Württemberg, Maria Raiser, Landtagsabgeordnete der CDU und Vorsitzende des CDU-Frauenausschusses Nordwürttemberg. Die Evangelische Frauenarbeit in Württemberg – heute ist sie als Evangelische Frauen in Württemberg bekannt – wollten sechs Jahre nach Kriegsende die Frauen in den evangelischen Gemeinden und Mitgliedsverbänden für die Mitarbeit in der Demokratie gewinnen und die Möglichkeiten der politischen Partizipation ausschöpfen. Die Erfahrungen im Nationalsozialismus als bekennende Evangelische Frauen ihre Arbeit in den Gemeinden nur äußerst eingeschränkt fortführen zu können, war noch in zu guter Erinnerung. Die Demokratie wurde nun als Chance gesehen, sich aktiv einzubringen und die Rechte von Frauen einzufordern und zu vertreten. Ein Schritt in diese Richtung waren die Staatsbürgerliche Tagungen, deren erste vom 9. bis 11. Oktober 1951 im Gustav-Fischer-Haus der Evangelischen Diakonieschwesternschaft in Herrenberg stattfand. Ziel war es, Frauen über politische Zusammenhänge zu informieren, das Interesse dafür zu wecken und als Christinnen Gesellschaft und Politik mitzugestalten. Daher stand die Tagung unter dem Motto „Die Evangelische Frau und ihre Verantwortung für das öffentliche Leben.“ Neben den Referaten „Der Aufbau des deutschen Staates“ wurde u.a. darüber gesprochen, welche Aufgaben Frauen im Gemeinderat, Land- und Bundestag haben. Die Juristin Dr. Antonie Kraut, ehemalige Geschäftsführerin der Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche, referierte über die Gleichberechtigung der Frau. Die Tagung wurde ein Erfolg, wie aus dem Bericht einer Teilnehmerin zu entnehmen ist: „Die Zeiten sind gewesen, wo Christentum und Politik unvereinbar schienen. So ungern sich die Kirche auf die politische Kampfbahn begab: als die Thesen von Blut und Boden, von der Vernichtung unwerten Lebens und ähnliche Grundsätze aufgestellt wurden, musste sich die Kirche zum Worte melden. Heute im demokratischen Staate, wo es nicht mehr gilt: hie Regierung hie Volk, sondern jeder, auch die Frau, die Stimme laut werden lassen kann, wird die Gelegenheit meist nur zu kleinlicher Kritik wahrgenommen. Besonders die Frauen, von denen Sachkenntnis und tieferer Einblick oft nicht einmal angestrebt werden, haben viel versäumt. Es wird Zeit, dass sie aktiv ihren Einfluss geltend machen auf Gebieten, die das ganze Volk angehen, wie der Kampf gegen Schmutz und Schund, die Sozialgesetzgebung, Schule, Ehegesetz und Ähnliches. Eine Christenheit, die am politischen Leben nicht Anteil nimmt, verrät ihren Charakter als Salz der Erde“ (LKAS, K 6, 60, Bericht einer Teilnehmerin von der ersten Staatsbürgerlichen Tagungen 09.-11.10.1951.).

Die Staatsbürgerlichen Tagungen wurden bis 1989 von der Evangelischen Frauenarbeit veranstaltet. Von 1990 bis 1997 wurden die Tagungen als „Frau und Politik Tagung“ weitergeführt.

Das Inventar des Bestands K6 – Evangelische Frauenarbeit in Württemberg finden Sie hier.

80 Jahre offizieller Abbruch der Euthanasieverbrechen

16. August 2021 | | ,

Landesbischof Theophil D. Wurm an der Schreibmaschine, an der er oft selbst die Entwürfe seiner Briefe verfasste. LKAS, Bildersammlung.

Im August des Jahres 1941 wurde die als „Aktion T4“ – benannt nach der zuständigen Dienststelle für die Krankenmorde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin – bezeichnete systematische Tötung von psychisch kranken und körperlich behinderten Menschen, die Euthanasie, offiziell abgebrochen. Etwa 70.000 Anstaltsbewohner waren vom Beginn der Aktion Anfang 1940 bis zu ihrem Ende ermordet worden. Protest von kirchlicher Seite führte zur Einschränkung des Euthanasieprogramms.

Im September 1939, gleichzeitig mit Kriegsbeginn, hatte Hitler, angeordnet, unheilbar Kranken den “Gnadentod” zu gewähren. Binnen kurzer Zeit wurde daraufhin die Organisation der Tötung von nach Ansicht der Nationalsozialisten von unheilbar Kranken vorangetrieben. So auch in Württemberg. Im Oktober 1939 wurde die der Stuttgarter Samariterstiftung gehörende Anstalt Grafeneck beschlagnahmt und zu einem Vernichtungsort umgewandelt. Ab Frühjahr wurden die zur Tötung ausgewählten Menschen in den verschiedenen Einrichtungen von Bussen abgeholt, deren Scheiben grau getüncht waren. Angeblich sollten sie verlegt werden. In Wirklichkeit wurden sie auf Schloss Grafeneck in einen Duschraum gebracht, in dem sie mittels Zufuhr von Kohlenoxid ermordet wurden. Die Leichen wurden anschließend verbrannt und den Angehörigen die Urne mit einem Totenschein, der auf einen Tod durch eine Krankheit lautete, zugesandt. Die Einäscherung habe aufgrund seuchenpolizeilicher Vorschriften stattgefunden.

Früh wurden die wahren Hintergründe der Todesfälle bekannt. Als erster Landesbischof, aber auch erst am 19. Juli 1940, entschloss sich Theophil Wurm zu einem Protestschreiben an Reichsinnenminister Wilhelm Frick, das sich in mehreren Abschriften im Nachlass Wurms im Landeskirchlichen Archiv findet. In seinem sechsseitigen Brief stellt der der nationalsozialistischen Ideologie die christliche Ethik entgegen. Er warnt vor einem Sittenverfall, der “auch den Verfall des Staates nach sich ziehen würde”. Weitere Schreiben an hohe Partei- und Regierungsstellen folgten. Er wandte sich auch an das Oberkommando der Wehrmacht, deren Soldaten nach einer unheilbaren Verwundung ebenfalls die Euthanasie droht. Er wies darauf hin, mit dem Hinweis, welche Folgen solche Handlungen für die Moral der Truppe haben würden.

Wurm blieb mit seinem Protest nicht alleine. Insbesondere die Predigten des Münsteraner Bischofs von Galen, die auch publiziert wurden, wiesen eindringlich auf das Unrecht hin. Die katholischen Bischöfe protestierten im Juni 1941 auch mit einem Hirtenbrief gegen das Verbrechen. Es ist davon auszugehen, dass es der kirchliche Protest war, der zum Abbruch der Aktion führte. Inoffiziell wurden aber weiterhin solche Euthanasiemorde durchgeführt.

Weiterführende Links:

Epochenartikel zum Nationalsozialsmus in Württembergische Kirchengeschichte Online

Beitrag “Der nationalsozialistische Krankenmord” in Württembergische Kirchengeschichte Online

Informationen zum Widerstand gegen die Aktion T4 auf Christlicher Widerstand

60 Jahre Mauerbau

13. August 2021 | | ,

Bau der Berliner Mauer 1961, Hintergrund Brandenburger Tor. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung, Nr. 8958.

Im Jahr 2021 können sich viele Menschen gar nicht mehr vorstellen, wie es sich konkret auswirkte, als vor 60 Jahren, am 13. August 1961, eine Mauer gebaut wurde, die Deutschland in Ost und West teilte. Diese „Mauer“, so der Sprachgebrauch Westdeutschlands – in Ostdeutschland wurde sie von staatlicher Seite „Antifaschistischer Schutzwall“ genannt – brachte Leid und Schmerz über viele Familien, die Angehörige im jeweils anderen Teil Deutschlands hatten und von diesen nun getrennt wurden. Besuche waren nur von West- nach Ostdeutschland möglich und das ausschließlich nach vorheriger staatlicher Genehmigung.

Für Menschen wie Hans-Walter Mehlhorn, dem Leiter der Evangelischen Jugendaufbaugilden in Württemberg, war es offensichtlich, dass der Mauerbau für Viele eine Tragödie bedeutete. Er arbeitete mit geflüchteten Jugendlichen aus der damaligen DDR in den Jugendaufbaugilden zusammen und wusste daher, wie sehr die Jugendlichen unter der Trennung von Eltern, Freunden und Freundinnen litten. Mehlhorn versuchte in einem Brief an den berühmten Pazifisten Albert Schweitzer, der damals als Mediziner ein Hospital im afrikanischen Urwald leitete, diesen davon zu überzeugen, dass „es Ihnen allein möglich ist, mit der Kraft des Wortes eine Bresche in die Mauer der Unmenschlichkeit zu schlagen.“ Der Briefwechsel findet sich im Bestand Diakonisches Werk Württemberg (L1).

Lesen Sie den bewegenden Brief Mehlhorns an Albert Schweitzer und dessen Antwort darauf. Für weitere Informationen stehen der Beitrag „Neue Formen der „Jugendsozialarbeit – die Aufbaugilden des Evangelischen Hilfswerks“ zur Verfügung.

100 Jahre Ferienwaldheime in Württemberg – Vorstellung eines Zeitdokuments

21. Juli 2021 | | ,

Wie auf der Internetpräsenz der Landeskirche im aktuellen Beitrag zu den Gedenktagen berichtet wird, begann die Waldheimarbeit in der württembergischen Landeskirche im Sommer 1921. Der damalige Stuttgarter Jugendpfarrer Wüterich führte damals für die Evangelische Gesamtkirchengemeinde Stuttgart auf dem Platz des Stuttgarter Jugendvereins im Feuerbacher Tal erstmals eine Waldheimfreizeit für Kinder durch. Er sah in den Waldheimferien die einmalige Chance, Kindern ein Stück christlicher Lebensgemeinschaft zu ermöglichen. Die Gründung weiterer Ferienwaldheime in Stuttgart und in anderen Regionen der Landeskirche wurden dadurch inspiriert. Bereits im Jahr 1928 gab es in Stuttgart acht Ferienwaldheime. Im Jahr 1923 nahmen insgesamt rund 2.000 Kinder in Stuttgart an den Waldheimferien teil. Im Jahr 1936 waren es schon 6.000 Kinder.

Anhand des hier abgebildeten Dokuments aus dem Bestand des Dekanatsarchivs Stuttgart, das sich in der Bestellnummer 422 fand, wird deutlich, dass dieser Waldheimarbeit in der Nachkriegszeit eine besondere Bedeutung zukam. Die Stadt Stuttgart war durch den Krieg zu einem erheblichen Teil zerstört und es herrschte Lebensmittelknappheit. Selbstverständlich war für die meisten Stuttgarter Familien in dieser Notzeit auch kein erholsamer Sommerurlaub denkbar. Wie aus dem hier abgebildeten Abschlussbericht der Arbeitsgemeinschaft der Waldheimträgervereine Groß-Stuttgarts des Jahres 1947 hervorgeht, war der Bedarf an Waldheimplätzen sehr viel höher als das Angebot. Zwar hatte man es geschafft, etwa 10.000 Plätze bereitzustellen. Dies genügte jedoch nur für 20-30 % der Aufnahmegesuche von erholungsbedürftigen Kindern. Die Auswahl beschränkte sich dann auf die gesundheitlich gefährdetsten Kinder nach ärztlicher Entscheidung. Häufig waren die Kinder unterernährt. Die Kinder kamen in den 28 evangelischen Waldheimen, in den 18 Caritas-Waldheimen und den 16 Waldheimen der Arbeiterwohlfahrt unter und wurden dort von freiwilligen Helferinnen und Helfern betreut.  Die Arbeit wurde durch die amerikanische Militärregierung und in- und ausländischen Spendern und Hilfsorganisationen unterstützt.

Indiaca – Sport, Spaß und Gemeinschaft für die Jugend

14. Juli 2021 | | ,

Im Jahr 1955 wurde ein für die damalige Zeit völlig neues Spiel in die evangelische Jugendarbeit eingeführt: Indiaca – ein Spiel das Sport, Spaß und Gemeinschaftserlebnisse auf luftig leichte Art zusammenbringt.

Indiaca ist leicht erlernbar, sodass jeder mitmachen kann, spontan und fast überall, zu zweit oder in der Gruppe, im Kreis oder übers Netz, in der Halle, im Park, auf der Wiese im Zeltlager – sogar bei Bergfreizeiten lässt es sich spielen, denn hier rollt kein Ball davon.

Indiaca ist eine Mischung aus Federball und Volleyball. Geschlagen wird das Spielgerät mit der flachen Hand, und letztlich geht es immer darum, es durch Zuspielen so lange wie möglich in der Luft zu halten. Die Federn sorgen für die Balance beim Flug.

Die Ursprünge des Spiels liegen in Brasilien. Von der indigenen Bevölkerung wird es seit Jahrhunderten gespielt und heißt dort Peteca. Der Kölner Sportlehrer Karlhans Krohn brachte es 1936 nach Deutschland, nachdem er am Strand der Copacabana Jugendliche bei ihrem Spiel beobachtet hatte. In der Nachkriegszeit verbreitete es sich unter dem Namen „Indiaca“ (aus „Indianer“ und „Peteca“) zuerst in der kirchlichen Jugendarbeit und im CVJM. Inzwischen ist das Spiel weltweit verbreitet.

Noch heute gehört Indiaca zum Programm der Jungscharen, Jugendgruppen und auf Freizeiten des Evangelischen Jugendwerks in Württemberg dazu. Über die Jahre hat sich das Jungscharspiel zu einem allgemeinen Freizeitvergnügen und zum Wettkampfsport weiterentwickelt. Neben zahlreichen Hobbyturnieren in Bezirken und Orten gibt es in Württemberg die Eichenkreuz-Liga. Eine Turnierserie mit Wettkampfcharakter und die Qualifikation zur Deutschen Eichenkreuz-/CVJM-Meisterschaft.

HINWEISE

Bestand: K 24 ejw

Link: EJW feiert – Evangelisches Jugendwerk in Württemberg (ejw)

Posaunen für den Neubeginn: Landesposaunentag 1946

23. Juni 2021 | | ,

Am 4. Juli findet wieder der legendäre württembergische Landesposaunentag des evangelischen Jugendwerks statt – Corona bedingt leider nicht in gewohnter Form, sondern digital und dezentral.

Das ist eine gute Gelegenheit an die Geschichte dieser kirchenmusikalischen Großveranstaltung zu erinnern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als überall Not und Schuld groß waren und viele Städte in Trümmern lagen, kamen im Jahr 1946 Bläser aus ganz Württemberg in Ulm auf dem Münsterplatz zusammen, um ein Zeichen für den Neubeginn zu setzen. Ulm selbst war bei mehreren Bombenangriffen fast völlig vernichtet worden. Das Münster war eines der wenigen größeren Gebäuden in der Innenstadt, das nahezu intakt geblieben war – obwohl noch im März 1945 eine 500-Kilo-Bombe das Chorgewölbe durchschlagen hatte, die jedoch glücklicherweise nicht explodierte.

Dieser erste Landesposaunentag nach dem Krieg muss ein bewegendes Ereignis gewesen sein. Landesbischof Theophil Wurm begann die Predigt zur Losung „Jesus Christus herrscht als König“ mit den Worten: „Seit 12 Jahren ist es mir nicht möglich gewesen, zu euch zu sprechen“. Körbe mit gespendeten Broten wurden herum gereicht, und als dann die 2000 anwesenden Bläser inmitten von Ruinen das „Gloria“ spielten, blieb Augenzeugen zufolge kaum ein Auge trocken.

Damit begann die große Tradition der Ulmer Posaunentage, die seither alle zwei Jahre an einem Wochenende im Mai oder Juni in der Münsterstadt stattfinden und den größten „Posaunenchor der Welt“ unter dem höchsten Kirchturm der Welt bilden.

Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts begleiten Posaunenchöre die Gottesdienste und Feiern der Evangelischen Kirche. Die württembergische Posaunenchorarbeit ist Teil der Jugendarbeit, wo die Ausbildung der Jungbläser traditionell durch ehrenamtliche Chorleiterinnen und -leiter in den Kirchengemeinden und Bezirken erfolgt.

Das Ulmer Münster wurde im Lauf der Zeit für die zunehmende Zahl der Teilnehmer der Landesposaunentage zu klein. Mittlerweile sind fünf weitere Veranstaltungsorte im Stadtgebiet mit einbezogen, um vorwiegend geistliche Werke aller Epochen und Stile zu musizieren und Gottesdienste zu feiern. Der Landesposaunentag  endet traditionell mit einer liturgischen Schlussfeier auf dem Münsterplatz, bei der alle teilnehmenden Bläser gemeinsam musizieren. Als vorletztes wird der Choral „Nun danket alle Gott“ nach dem Satz von Johann Sebastian Bach geblasen: zuerst 4-stimmig, dann mit den Fanfaren und zum Abschluss mit der vom württembergischen Landesposaunenwart Hermann Mühleisen entwickelten Oberstimme. Während der dritten Strophe beginnen die Münsterglocken zu läuten. Zum Schluss wird die dritte Strophe des Chorals „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ – bei den Bläsern schlicht als „Gloria“ bekannt – gespielt.

Hinweise:

Bestand K 24 ejw

Landesposaunentag mal anders – Evangelisches Jugendwerk in Württemberg (ejw) – EJW (ejwue.de)

EJW feiert – Evangelisches Jugendwerk in Württemberg (ejw) – EJW (ejwue.de) 

Johanna Binder (1896-1990). 125. Geburtstag (20. Mai)

20. Mai 2021 | | , ,

Johanna Binder in den 20erJahren

„Tun Sie ihre Arbeit mit Liebe. Dann wird sie gut.“ Diesen Leitsatz hat Johanna Binder an viele junge Frauen weitergegeben und hat ihn in ihrem Leben am meisten doch selbst beherzigt.

Fast fünfzig Jahre lang hat Johanna Binder mit ihrer Arbeit die textilen Kirchenausstattungen der württembergischen Landeskirche geprägt. Als Leiterin der Paramentenwerkstatt beriet sie unzählige Kirchengemeinden bei der Anschaffung liturgischer Altar-, Taufstein- und Kanzelbedeckungen, die sie dann nach Entwürfen von Künstlern mit ihren Weberinnen und Stickerinnen in hoher handwerklicher Qualität herstellte.

Johanna Binder war schöpferisch begabt und als gelernte Damenschneiderin durchaus erfolgreich. 1919 wurde sie „Lehrmeisterin“ der neu eingerichteten Fachklasse für Mode an der Württembergischen Staatlichen Kunstgewerbeschule – der heutigen Kunstakademie. Doch die Aussicht auf eine Karriere in der Modebranche schlug sie aus. Als 1924 der Bund Evangelischer Frauen beabsichtigte, mitten in der Inflation eine Evangelische Frauenarbeitsschule in Stuttgart zu gründen, und Johanna Binder bat, die Leitung zu übernehmen, sagte sie kurzerhand zu.

Evangelische Frauenarbeitsschule

Junge Mädchen sollten dort nach dem Schulabschluss in Sticken, Kleider- und Weißnähen unterrichtet werden, um sich für ihre zukünftige Rolle als Hausfrau und Mutter zu qualifizieren.

 

Der evangelische Charakter der Schule wurde durch Morgenandachten und Vorträge über diakonische Themen gepflegt. In der Wirtschaftskrise waren mehrere städtische Nähschulen geschlossen worden, so dass der Zulauf zu der evangelischen Einrichtung mit Zentrale in der Furtbachstraße groß war. Schon im zweiten Schuljahr unterrichteten 19 Lehrerinnen in 9 Zweigstellen rund 400 Schülerinnen.

Bis in die 1930er Jahre war der Schule eine „Werkstätte für künstlerische Frauenkleidung“ angegliedert, wo individuelle und zeitgemäße Kleidung entworfen und gefertigt wurde. In Vorträgen, Zeitungsartikeln und Rundfunkbeiträgen klärte Johanna Binder unermüdlich Frauen über körperfreundliche Bekleidung, gut durchlüftete Leibwäsche oder die Schäden enger Strumpfbänder auf und referierte über Stilfragen: „Wer guten Geschmack hat, vermeidet Sinnlosigkeit, unechten Glanz und Flimmer“. Sie war überzeugt, „dass in gediegener Schlichtheit, in gutem Material und guter Arbeit Vorzüge liegen, die die Persönlichkeit eines Menschen weit besser unterstreichen.“ (Vortragstyposkript 1931)

Paramente zum Schmuck der Kirchen

Ein fertiges Parament

Noch im Gründungsjahr der Schule 1919 war auf Anregung des Vereins für christliche Kunst zusätzlich eine Paramentenwerkstatt angegliedert und ebenfalls unter die Leitung von Johanna Binder gestellt worden. Anfangs arbeitete man noch mit Tuch, Borten und Fransen. Als es in Deutschland eine Neubesinnung über Sinn und Zweck in der evangelischen Paramentik gab, machte Johanna Binder diesen Wechsel mit und erlernte, neben ihren vielfältigen Leitungsaufgaben, Spinnen von Flachs und Wolle, Färben mit Pflanzen, Weben und komplizierte Sticktechniken. Wertigkeit und „Echtheit des Materials“ waren für sie fortan Standard. 1938 legte sie mit Auszeichnung eine zweite Meisterprüfung ab und konnte nun in ihrer Werkstätte Fachkräfte ausbilden.

Nach ihrer Auffassung lag die Basis guter Paramentik in der engen Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Ausführenden, und so produzierte sie gemeinsam mit namhaften Kunstschaffenden über viele Jahre hinweg anspruchsvolle Werke.

Entwurf eines Frauenbeffchens

Zur Produktpalette der Paramentenwerkstatt gehörte auch die Amtstracht für die Geistlichen. Bei der Einführung der Frauenordination 1968 war Johanna Binders Rat zur Form des Talars und des Baretts für die Pfarrerinnen sehr geschätzt. Zuvor hatte sie schon ein spezielles Frauenbeffchen entwickelt, das sich allerdings langfristig nicht durchsetzte.

Als Johanna Binder 1970, mit 74 Jahren, in den Ruhestand ging, konnte sie auf ein Berufsleben zurückblicken, das sie in der ganzen Vielfalt ausgefüllt hatte: Da war die Verantwortung für Angestellte, Auszubildende und Schülerinnen, ihre Zähigkeit und Improvisationskunst in wirtschaftlicher Not und Krieg, weite Beratungsreisen über Land und Fußmärsche mit schwerem Gepäck, ihr notwendiges Einfühlungsvermögen in die jeweiligen Kirchenräume, Verhandlungsgeschick, kreative Gestaltungsprozesse, Überzeugungskunst für würdige Ausstattungen….

Ihr begeistertes Engagement für die Paramentik hat Johanna Binder als diakonischen Auftrag verstanden. Den Weg dorthin eingeschlagen zu haben, hat sie nach eigenem Bekunden nie bereut.

Zerstörung und Neubeginn

Neubau in der Furtbachstraße 1956

Bei einem Bombenangriff im September 1944 wurden sämtliche Unterrichts- und Werkstatträume zerstört. Nach dem Krieg machte sich Johanna Binder mit ungebrochenem Mut an den Wiederaufbau. Nach etlichen Interimsstationen konnte sie schließlich 1949 in Stuttgart eine alte Arbeitsdienstbaracke auf dem Ruinengelände hinter des Hospitalkirche aufbauen. Das Schweizer Hilfswerk stiftete zusätzlich zwei neuen Baracken für den Unterricht der Frauenarbeitsschulen. Erst im Oktober 1956 konnten die Frauenarbeitsschulen mit der Paramentenwerkstätte nach einem Neubau an ihren ehemaligen Ort in die Furtbachstraße zurückkehren.

 

QUELLE:

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bestand P 50, Paramentenwerkstatt der Evangelischen Frauenarbeitsschulen Stuttgart.

HINWEIS:

Abb.: Seit der Schließung der landeskirchlichen Paramentenwerkstatt im Jahr 1997 wird die Arbeit an hochwertigen Paramenten und textilen Behängen durch die Werkstatt Knotenpunkt in Backnang fortgesetzt.

125. Geburtstag Martin Haug (1895 – 1983)

14. Dezember 2020 | |

Gemälde aus dem Jahr 1963 des Künstlers Paul Kälberer (1896-1974), Glatt bei Sulz a. N., Größe: 107×87 cm. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Museale Sammlung.

Martin Haug war von 1948 bis 1962 Landesbischof der evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er wurde als Sohn eines Gymnasiallehrers in Calw geboren. Im ersten Weltkrieg meldete er sich wie viele andere als Freiwilliger und wurde in Frankreich schwer verwundet. Nach dem Theologiestudium in Tübingen, der 1920 erfolgten Ordination und verschiedenen Stellen als Religionslehrer und Pfarrverweser  wurde er zunächst Repetent am Tübinger Stift. 1925 promovierte er zum Doktor der Theologie. Seine erste Pfarrstelle trat er 1926 an der Eberhardskirche in Tübingen an. 1930 wurde er Studienrat am Evangelischen theologischen Seminar in Bad Urach und 1935 Direktor des Pfarrseminars in Stuttgart. In den Oberkirchenrat als Personalreferent wurde er 1943 berufen und 1946 zum Prälaten und Stellvertreter des Landesbischofs Wurm ernannt, zu dessen Nachfolger er 1948 wurde. Die Landeskirche hatte in dieser Zeit vielfältige Herausforderungen zu bewältigen, wie etwa die Unterstützung und Integration der Flüchtlinge und der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Kirchen.

Was die Überlieferung im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart zu seiner Person und zu seinem Wirken in der Landeskirche betrifft, so ist hier zunächst auf die Personalakte in Bestand A 227 hinzuweisen. Zudem verwahrt das Archiv als Bestand AH 4 die Handakten Haugs, welche unter anderem eine umfangreiche Korrespondenz enthalten. Fotos des früheren Bischofs finden sich in der Bildersammlung des Archivs.

Ein rascher Zugriff auf die Daten zu seinem Leben und zu seinem Wirken in der Landeskirche ist über die Personendatenbank in Württembergische Kirchengeschichte Online möglich.

Ausführlicher zu Martin Haug hier.

 

Serie Nachkriegszeit Teil V: 75 Jahre Stuttgarter Schulderklärung

13. Oktober 2020 | | ,

Führende Vertreter der neu gebildeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gaben die Stuttgarter Erklärung bei einem Treffen mit Mitgliedern des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) am 18./19. Oktober 1945 in Stuttgart ab. Erstmals bekannte sich die evangelische Kirche Deutschlands darin zu einer Mitschuld am Krieg und an den nationalsozialistischen Verbrechen. Die u. a. vom württembergischen Landesbischof Theophil Wurm unterzeichnete kirchliche Erklärung bekennt: „durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“. Die Schulderklärung markiert den Neuanfang in den Beziehungen der deutschen evangelischen Kirche mit der ökumenischen Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Veröffentlicht wurde die Erklärung zuerst im Kieler Kurier. Im Württembergischen Gemeindeblatt berichtete man davon erst zögerlich zwei Wochen später. Alle Presseorgane unterstanden der Nachrichtenkontrolle der jeweiligen Militärregierung der Alliierten.

Michael Bing vom Landeskirchlichen Archiv stellt anhand von einigen Dokumenten in dem folgenden Clip die Stuttgarter Schulderklärung vor.

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Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Welt-Tierschutztag am 4. Oktober

4. Oktober 2020 | | , ,

„Undankbarer Pferdequäler!“ möchte der Tübinger Pfarrer Christian Adam Dann einem Reiter zurufen, der hemmungslos auf sein Pferd eindrischt. Bei einem Gang durch die Stadt und in die umliegenden Dörfer entdeckt er zahllose Grausamkeiten gegen Tiere: Gänse mit jämmerlich blutender Brust, denen bei lebendigem Leibe die Daunen ausgerupft wurden, eine Ziege, die barbarisch an den Ohren gezerrt zum Weitergehen bewogen werden soll, halb verdurstete Kälber, die mithilfe von Hunden in den Stall gehetzt werden….
Unwillkürlich kommen uns Bilder der jüngsten Skandale in deutschen Schlachtbetrieben in den Sinn. Doch die Beobachtungen von Christian Adam Dann (1758-1837) stammen aus dem Jahr 1822. Aufgezeichnet hat sie der Pfarrer in seiner Schrift „Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn die Menschen“. Auf der Kanzel wetterte Dann gegen die Tierquäler, die er als die „elendste Klasse der Menschheit“ bezeichnete. Seine Predigten und Schriften entfalteten unter den Zuhörern und Lesern eine starke Wirkung. Noch Albert Schweitzer ließ sich später von seinen Gedanken inspirieren.

Über die Lebensverhältnisse von Tieren hat man sich lange Zeit kaum Gedanken gemacht. Tiere wurden als seelenlos und deshalb leidensunfähig angesehen. Erst ein neues Empfinden für die Natur, wie es im 18. Jahrhundert durch Aufklärung und später durch die Romantik aufkam, veränderte den Blick auf die Tiere. In Deutschland waren es vor allem vom Pietismus geprägte Pfarrer, die bei der Frage nach dem rechten Umgang des Christen mit der Schöpfung nun auch das Verhältnis zu den Tieren ins Auge fassten. So auch Christian Adam Dann, der heute als einer der herausragenden Pioniere des Tierschutzes gilt.
Nur wenige Monate nach Danns Tod gründete sein Schüler und Freund, der Pfarrer und Liederdichter Albert Knapp (1798–1864), im Winter 1837 in Stuttgart den ersten Tierschutzverein Deutschlands. Gleichzeitig rief er zur Gründung weiterer örtlicher Tierschutzvereine auf, auch über die württembergischen Grenzen hinaus. Wichtigstes Anliegen der frühen Tierschützer war der respektvolle Umgang mit Nutztieren, besonders mit Droschkenpferden und Schlachtvieh. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, sollte in Schule und Kirche die Tierliebe durch regelmäßige „Belehrungen“ gefördert werden, vor allem aber wollte man erreichen, dass Tierquälerei als Delikt in das Strafgesetzbuch aufgenommen wird. In der Tat verabschiedete der Württembergische Landtag 1839 im Polizei-Strafgesetz einen Artikel, der die rohe Misshandlung von Tieren mit einer Geldbuße oder Arreststrafe belegte.

Nachdem die beiden Pfarrer Dann und Knapp die ersten Schritte für einen organisierten Tierschutz gegangen waren, setzten sich ihre Gedanken rasch in ganz Deutschland durch. Der von Knapp initiierte Verein hatte zwar nur kurze Zeit Bestand, doch am 17. Juni 1862 kam es endgültig zur Gründung des Württembergischen Tierschutz-Vereins. 1881 vereinigten sich die lokalen deutschen Tierschutzvereine zum Deutschen Tierschutzbund. Er umfasst heute mehr als 740 örtliche Vereine mit mehr als 800.000 Mitgliedern.

Der Briefwechsel zwischen Christian Adam Dann und Albert Knapp aus den Jahren 1829 – 1836
befindet sich im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart (Knapp-Archiv D 2).

Literaturhinweise (Landeskirchliche Zentralbibliothek = LKZB):
Christian Adam Dann, Albert Knapp: Wider die Tierquälerei: Frühe Aufrufe zum Tierschutz aus dem württembergischen Pietismus (=Kleine Texte des Pietismus. Bd. 7), hrsg. von Martin H. Jung, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2002.
Darin enthalten die anonym erschienene Schrift von Christian Adam Dann: Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn, die Menschen. Fues, Tübingen 1822.
LKZB A7/8626

Beitragsbild: Ein Mann peitscht sein erschöpft zusammengebrochenes Lasttier aus. Auf dem in frommen Kreisen bekannten Zwei-Wege-Bild, das die Stuttgarterin Charlotte Reihlen 1867 entworfen hat, wird die Tierquälerei als Sünde dargestellt, die auf dem breiten Weg zur Verdammnis führt. Zum Zwei-Wege-Bild hier.

AUCH INTERESSANT:
Adam Gottlieb Weigen: De Jure Hominis in Creaturas.
Oder Schrifftmässige Erörterung Deß Rechts des Menschen Uber die Creaturen / Nach allen dessen Ständen (…). Stuttgart 1711 (Reprint 2008)
LKZB A 17/10935
Das Buch des Leonberger Pfarrers Adam Gottlieb Weigen (1677-1727) ist eines der frühesten Beispiele für die Auseinandersetzung mit dem Tierschutzgedanken in Deutschland. Es fand aber wenig Beachtung und geriet rasch in Vergessenheit. Weigen, ein Vertreter des frühen Pietismus, betonte die Gottunmittelbarkeit auch der Tiere und meinte, dass im Endgericht Tierquäler ihren Opfern wieder begegnen würden.

Teil I der Serie zur Nachkriegszeit: Nachkriegsnot in Bildern – ein Plakat von 1948

15. September 2020 | | , , ,

Der Papierrestaurator Matthias Raum brachte uns vor Kurzem das handgemalte Plakat des württembergischen Evangelischen Hilfswerks aus dem Jahr 1948 restauriert zurück.
Jahrzehntelange Lagerung hatten dem Objekt zugesetzt. Geknickt, eingerissen und verschmutzt kam es ins Landeskirchliche Archiv Stuttgart zusammen mit den Aktenbeständen des Diakonischen Werks Württemberg. Jetzt wurden die Schäden behutsam repariert und das brüchige Papier entsäuert. Das 197×136 cm große Plakat wird nun unter den klimatisch erforderlichen Bedingungen in unserem Magazin sachgerecht in einem Planschrank aufbewahrt. Das Plakat und seine Darstellungen einzelner Hilfseinrichtungen werden uns bis zum Jahresende bei unserer Serie „Nachkriegszeit“ als roter Faden begleiten.

Das Evangelische Hilfswerk

Das Evangelische Hilfswerk wurde auf der Kirchenvertreterkonferenz in Treysa am 23.8.1945 gegründet, um in der unmittelbaren Nachkriegszeit akute Nothilfe zu leisten. Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 endete in Deutschland der Zweite Weltkrieg. Das Land, das zuvor Völkermord und Zerstörung über Europa gebracht hat, lag in Trümmern. Traumatisierte und versehrte Menschen, Kriegswaisen, Heimatlose, Geflüchtete und Vertriebene benötigten Lebensmittel und Kleidung sowie eine erste Unterkunft. Auf EKD-Ebene wurde Eugen Gerstenmaier (1906-1986) mit dem Aufbau des Werks betraut, das Zentralbüro lag in Stuttgart. Die einzelnen Landeskirchen richteten eigene Hauptbüros ein, um über die regionalen kirchlichen Strukturen effektiv Hilfe leisten zu können. So auch in Württemberg. Unter der Leitung von Wilhelm Pressel (1895-1986) wurden landesweit Bezirksverantwortliche berufen und Bezirksbüros aufgebaut. Überall entstanden örtliche Kleiderkammern, Suppenküchen, Lebensmittelausgaben und Beratungsstellen – die Vorläufer der heutigen Diakonischen Bezirksstellen. Daneben errichtete das Hilfswerk Notaufnahmelager für Flüchtlinge und gründete verschiedene Heimeinrichtungen und Aufbaugilden.

Das Evangelische Hilfswerk wirkt heute als Diakonisches Werk weiter.

 

Wer hat das Plakat gestaltet?

Das Plakat zeigt eine Landkarte von Württemberg, auf der anschaulich sämtliche Einrichtungen und Initiativen des Hilfswerks dargestellt sind, die seit 1945 aufgebaut wurden und am 1.7.1948 noch bestanden. Das mit Tusche gezeichnete und kolorierte Plakat ist signiert mit „Curt Zeh 1947“. Wer ist dieser Curt Zeh? In den Akten des Evangelischen Hilfswerks liegen leider keine eindeutigen Nachweise für den Auftrag an den Künstler vor. Recherchen im Internet führten zu dem Oldenburger Plakatmaler Curt Zeh (1919-2013). Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg stand in enger Verbindung mit der württembergischen Landeskirche, so dass es durchaus vorstellbar war, dass das Evangelische Hilfswerk Württemberg auf der Suche nach einem Gestalter seinerzeit Kontakt dorthin aufgenommen hat. Ein Blick in seine Biografie ließ diese Annahme weiter plausibel erscheinen:

Curt Zeh hatte den Krieg selbst hautnah miterlebt. Mehrfach wurde er schwer verletzt, bei seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft fand er sein elterliches Haus in Leipzig zerbombt vor. In Oldenburg konnte er sich einige Zeit als Schriftenmaler über Wasser halten, indem er in einem Hangar auf dem ehemaligen Fliegerhorst für das britische Militär Grabkreuze der gefallenen britischen Soldaten beschriftete. Ab 1948 arbeitete er schließlich als Werbegestalter und machte sich in den 1950er Jahren einen Namen durch das Malen von großformatigen Kino- und Reklametafeln.

Der Kontakt zur Familie dieses Oldenburger Curt Zeh ließ jedoch Zweifel aufkommen, ob er der Gestalter des Plakats sein kann. Die Signatur in Deutscher Schrift sei, laut seiner Tochter, sehr untypisch – er signierte stets mit „ZEH“ in lateinischen Großbuchstaben. Seine Ehefrau erinnerte sich auch nicht, dass er je davon gesprochen habe, in der Zeit vor ihrer Heirat (1955) einen Auftrag vom Evangelischen Hilfswerk ausgeführt zu haben. Außerdem sei sein Malstil vollkommen anders gewesen. Die Suche nach dem Gestalter war daher nicht abgeschlossen und wir fragten uns, gibt es einen weiteren Künstler mit dem Namen Curt Zeh? Womöglich in Württemberg? Auf dem Sammlermarkt tauchten unlängst zwei Aquarelle mit Darstellungen von Bietigheim und Bad Cannstatt auf, die den gleichen Namensschriftzug tragen, wie das Hilfswerkplakat. Spannend wurde es, als wir Hinweise fanden, dass ein Curt Zeh aus Stuttgart 1952 am Rathaus Münsingen die malerische Gestaltung der Sonnenuhr ausgeführt hatte.  Der Kontakt mit dem dortigen Stadtarchiv führte uns tatsächlich zu einem zweiten Curth Zeh: Neben den Aufträgen für die Stadt Münsingen werden in einer Quelle vom 8. 11. 1950 der Auftrag für eine Bildkarte für das Evangelische Hilfswerk erwähnt. Auch wenn immer noch kein eindeutiger Beweis vorliegt, kann diese Information als Indiz gewertet werden, dass der Stuttgarter Curt Zeh auch schon 1947 mit dem Evangelische Hilfswerk in Kontakt war und damals den Auftrag für das großformatige Plakat erhalten hat.

 

Die Motive auf dem Plakat
Die Illustrationen auf dem Plakat spiegeln die Nöte und Hilfsleistungen der ersten drei Nachkriegsjahre in Württemberg wider. Die Landkarte Württembergs wird rechts und links unten eingerahmt von zerstörten Städten. Ihre Wahrzeichen liegen in Trümmern. In ihren Ruinen sind sie sich merkwürdig ähnlich, so dass der Illustrator die Stadtwappen als erkennbare Insignien und Reste des einstigen Stolzes dazu gesellte: Heilbronn, Ulm, Freudenstadt, Reutlingen, Heimsheim, Friedrichshafen, Löwenstein, Weinsberg, Crailsheim…
Am oberen und unteren Bildrand sind lange Reihen von Hilfesuchenden dargestellt: Alte, Junge, Versehrte, Kranke, Erschöpfte. Die Menschen oben entsteigen Zugwaggons – offensichtlich auf der Flucht, bepackt mit Bündeln, Koffern und Kisten. Unten kommen sie zu Fuß, schleppen ihr Hab und Gut auf Handkarren oder auf von Ochsengespannen gezogenen Wägen. In diesen Szenen sind all diejenigen dargestellt, an die sich die Arbeit des Hilfswerks richtet. Dazu wird deutlich: Der Arbeitsschwerpunkt lag bei den Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, die sich nach der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 auf den Weg in den Westen gemacht hatten. Die Probleme der Versorgung und Unterbringung, der Betreuung und Eingliederung – die Leib- und Seelsorge, waren für das Evangelische Hilfswerk in Württemberg eine immense Herausforderung.

Das zentrale bildbestimmende Motiv des Plakats ist die Karte von Württemberg. Unter anderem werden regionale Besonderheiten hervorgehoben: Wald- Wiesen- Jagd- oder Weinbaugebiete. Die Hauptinformation gilt jedoch den Orten, die Sitz einer Hilfseinrichtung sind. Eine Legende am rechten oberen Bildrand klärt auf, wo es sich um eine „Bezirksstelle“, eine „Einrichtung“ oder eine „Betreuungsstelle“ handelt. Kinderspeisungen gab es an so vielen Orten, dass sich der Illustrator mit dem Piktogramm eines essenden Kindes begnügt, das sich entsprechend wiederholt. Anders, bei Versehrteneinrichtungen wie in Isny und Oberstenfeld, wo einbeinige ehemalige Soldaten etwas individueller auf Krücken abgebildet sind. Das Altersheim in Lorch wird anschaulich durch zwei alte, gebückte Menschen auf einem Bänkchen darstellt. Jugenderholungs- und Freizeiteinrichtungen zeigen fröhliche junge Menschen, lesend, singend, musizierend.
Die Motive des Plakats sind vielgestaltig. In seiner Gesamtkomposition will es nicht nur informieren, sondern auch aufrütteln, sensibel machen für Problemfelder, vor allem aber Hoffnung vermitteln, dass die geleistete und zu leistende Hilfe wiederaufzurichten vermag, was zerstört wurde.
Mit dem Plakat zielte das Evangelische Hilfswerk Württemberg darauf ab, seine Leistungen vorzustellen, um letztendlich Gelder zu akquirieren. In den ersten Jahren nach dem Krieg war der Bedarf an Mitteln für Notleidende enorm und die Werbung um Spenden machte einen Großteil der Arbeit des Hilfswerks aus.

Wer sich das Plakat und seine Motive genauer ansehen möchte, findet die ausführliche Darstellung auf wkgo.de.

Beitrag über das Hilfswerkplakat in Württembergische Kirchengeschichte Online
Beitrag über das Diakonische Werk Württemberg in Württembergische Kirchengeschichte Online
Bestände Diakonie im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart

Einzelne Bildbeispiele der Motive:

Spuren von Georg Wilhelm Hegel im Landeskirchlichen Archiv

25. August 2020 | | ,

Am 27. August 1770 und somit vor 250 Jahren wurde der Philosoph Georg Wilhelm Hegel (1770-1831) in Stuttgart im damaligen, heute noch vorhandenen Haus der Familie geboren. Er gilt als Hauptvertreter des sogenannten Deutschen Idealismus und sein Werk hatte eine erhebliche Wirkung auf andere Denker. Im Landeskirchlichen Archiv hat er einige Spuren hinterlassen. So wurde er etwa gleich einen Tag nach seiner Geburt in der Stiftskirche evangelisch getauft, was in einem Taufregister vermerkt wurde. Und er wurde an der Universität Tübingen zu einem württembergischen Pfarrer ausgebildet. Die philosophischen Studien waren eigentlich nur als Grundlagenteil seines Studiums gedacht, auch wenn sie für seinen besonderen Lebensweg zur Hauptsache wurden. Zum Abschluss seines Theologiestudiums hatte er jedenfalls eine Prüfung vor den Stuttgarter Konsistorialräten abzulegen. Auch der Bericht über dieses Examen ist noch vorhanden.

Der Eintrag für Hegels Taufe befindet sich im Taufregister der Stuttgarter Stiftskirche, das heute im Kirchenbucharchiv im Landeskirchlichen Archiv verwahrt wird. Die Taufe, die am 28. August stattfand, also einen Tag nach der Geburt, führte vermutlich der damalige Pfarrer Johann Christian Storr (1712-1773) durch. Von eindeutig späterer Hand wurde der Eintrag mit „der Philosoph!“ markiert. In der ersten Spalte sind die Namen des Täuflings, rechts daneben der Vater Georg Ludwig Hegel (1733-1799), Rent-Cammer-Secretarius, also Finanzbeamter, dann die Mutter Maria Magdalana Louise, geborene Fromm (1741-1783) genannt. Die Taufpaten waren: Magister Johann Friedrich Breyer (1738-1826), Professor der Philosophie in Erlangen, – ein Cousin des Vaters -, mit seiner Braut Johanna Wilhelmina Frost, der Tochter eines Regimentsrats, Ludwig Heinrich Riecke (1729-1787), erster Stadt- und Amtsphysicus, Johann Georg Enßlin (1703-1779), Kommerzienrat in Tübingen, – ein Großonkel -, Magister Christian Friedrich Göritz, Gymnasiallehrer, Justina Magdalena Glöckler, Witwe von Johann Christoph Glöckler, des gewesenen Prälaten von Anhausen, Eberhardina Friedrica Breyer, geborene Hegel, Rentkammer-Expeditionsratswitwe, eine Großtante Hegels und Mutter des erstgenannten Paten, Christina Katharina Günzler, Witwe des Oberamtmanns Amandus Günzler.
In welchem Verhältnis die einzelnen Paten zu den Eltern Hegels standen, wird teilweise durch die Familienverbindungen deutlich. Teilweise waren es vermutlich persönliche Freundschaften, die die Personen verbanden. Zwei der Paten hatten ein Theologiestudium in Tübingen durchlaufen, welches sie dann aber in andere Berufe führte. Dies leitet zum nächsten Fundstück über.

Ab 1788 studierte Hegel in Tübingen Theologie und erreichte 1790 zum Abschluss des Grundstudiums den akademischen Grad eines Magisters der Philosophie. Danach fing das eigentliche Theologiestudium an, wo Hegel vor allem die dogmatischen und exegetischen Vorlesungen von Gottlob Christian Storr (1746-1805) hörte, des Sohnes des Pfarrers, der ihn getauft hatte (siehe oben). Als herzoglicher Stipendiat lebte Hegel während seines Studiums im Evangelischen Stift. Zeitweise waren dort der spätere Dichter Hölderlin und der spätere Philosoph Schelling seine Stubengenossen. Schon vor seiner theologischen Abschlussprüfung, die am 20. September 1793 im Stuttgarter Konsistorium stattfand, war bereits klar, dass Hegel als “Hofmeister” nach Bern gehen, also als Hauslehrer die Kinder einer wohlhabenden Familie unterrichten würde. Das Predigtamt lag ihm nicht. Seinem Antrag, früher zum Examen zugelassen zu werden, wurde stattgegeben. Deshalb wurde er bereits im September geprüft, während der Prüfungstermin seines Jahrgangs ansonsten drei Monate später lag (vgl. Beitrag über Hölderlin).

In einem der Testimonienbücher, welche die Zeugnisse der Konsistorialexamen und der Promotionen enthalten, ist  Hegels Examen überliefert. Er gehörte zu den Besten seines Jahrgangs (“Classe I”) und schloss sein Studium insgesamt als Viertbester (“4.”) ab, was beides oben im Zeugnis vermerkt wurde. Die Prüfung im Konsistorium bestand in einer Predigt auf der Kanzel in der Stiftskirche, die ja auch seine Taufkirche gewesen war (siehe oben), von 15 Minuten, und in einer mündlichen Prüfung, die in lateinischer Sprache geführt wurde und die in den Räumen des Konsistoriums im Kanzleigebäude stattfand. Wie aus dem entsprechenden Bericht im Konsistorialprotokoll (LKAS, A 3, Nr. 62, 1793, S. 391)  hervorgeht, waren neben ihm noch fünf andere Kandidaten zu diesem Termin eingeladen, nämlich die Pfarrer Ludwig Friedrich Le Prêtre (1748-1813) und Johann Christian Hintrager (1751-1826) sowie die Stipendiaten Christoph Ludwig Dobelmann (1756-1820), Johann Friedrich Schmoller (1760-1811) und Johann Gottlieb Helfferich (1760-1820). Wie man leicht erkennt, war Hegel bei weitem der Jüngste dieser zu Prüfenden. Zwei waren bereits als Pfarrer tätig. Vielleicht wurden bei diesem besonderen Termin außer der zeitlich vorgezogenen Prüfung für Hegel ansonsten Wiederholungsprüfungen durchgeführt. Die Prüfung fand als erster Punkt des freitäglichen Sitzungstages des Konsistoriums gleich morgens ab acht Uhr vor Konsistorialdirektor Karl Adolf Maximilian Ruoff, der von 1767-1788 weltlicher Konsistorialrat gewesen und dann zum Direktor aufgestiegen war, und den Konsistorialräten Georg Friedrich Griesinger (1734-1828),  Ernst Urban Keller (1730-1812) und Johann Ernst Friedrich Bernhard (1722-1798) statt.  Die jeweiligen Kandidaten erhielten eine Textstelle, über die sie predigen sollten, und hatten einige Zeit, um sich vorzubereiten. Hegel hatte seine Probepredigt, mit der die Prüfer nur einigermaßen zufrieden waren, über 1. Korinther 2,14 zu halten: „Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, denn es muss geistlich beurteilt werden.“

Hegels Abschlusszeugnis des Tübinger Stifts wurde im Testimonienbuch festgehalten und lautet mit deutscher Übersetzung:

Valetudo non constans (unbeständige Gesundheit), statura media (mittelgroßer Wuchs), eloquium haud gratum (keine bemerkenswerten rhetorischen Fähigkeiten), gestus pauci (zurückhaltende Gestikulationen), ingenium bonum (hervorragende geistige Anlagen), judicium excultum (gesundes Urteil), memoria tenax (sicheres Gedächtnis), scriptio lectu non difficilis (gut lesbarer Stil), mores recti (korrektes Verhalten), industria nonnumquam interrupta (gelegentlich nachlassender Fleiß), opes sufficientes (ausreichende physische Anlagen).
Studia theologica non neglexit (Erfolge in Theologie), orationem sacram non sine studio elaboravit, in recitanda non magnus orator visus (nicht ohne Eifer seine Predigerversuche, allerdings ist er kein großer Redner), philologiae non ignarus (gute philologische Kenntnisse), philosophia nullam operam impendit (keine Bemühungen in Philosophie)[!]

Das seltsame „nullam“ war ein Versehen des Schreibers. Offenbar hatte er das Wort vom Tübinger Stiftszeugnis falsch abgelesen. Mit dem heutigen Wissen um die große Bedeutung des Philosophen erscheint dies als ein geradezu komischer Fehler. Am Rand des Zeugnisses wurde denn das „nullam“ von späterer Hand auch in „multam“ korrigiert, also festgestellt, er habe ganz im Gegenteil natürlich sogar viel Mühe auf die Philosophie verwandt.

Hegel, der laut Konsistorialprotokoll das Examen insgesamt “zur Zufriedenheit” bestanden hatte, wurde die Annahme seiner Hauslehrerstelle “unter der Bedingung gestattet, daß er sich fleißig im Predigen übe, woran es ihm noch sehr fehle, und jedem Ruf in sein Vaterland sofort Folge leiste”. Der begabte Absolvent hatte als Prediger nicht überzeugt, wie übrigens in seiner späteren Philosophenlaufbahn trotz seiner Berühmtheit auch nicht als Vortragender.

Quellen: 

LKAS, Kirchenbucharchiv, Taufregister der Stiftskirche Stuttgart, 1765-72, Eintrag 28. August 1770, S. 304.

LKAS, A 13, Nr. 1, S. 389.

LKAS, A 3, Nr. 62, 1793, S. 391 (Bericht über den Prüfungstag im Konsistorialprotokoll)

 

Literatur:

Briefe von und an Hegel, Band IV, Teil 1. Dokumente und Materialien zur Biographie, Hrsg. von Friedhelm Nicolin, Hamburg 1977.

Hermann Ehmer, Das württembergische Konsistorium 1780-1795, In: Michael Franz (Hrsg.) „…an der Galeere der Theologie“?. Hölderlins, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, Bd. 23/3) Tübingen 2007, S. 263-283

 

75 jähriges Jubiläum Evangelisches Hilfswerk Württemberg

23. August 2020 | |

Heute vor 75 Jahren wurde das Evangelische Hilfswerk gegründet. Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 endete in Deutschland der Zweite Weltkrieg. Das Land, das zuvor Völkermord und Zerstörung über Europa gebracht hat, lag in Trümmern. Traumatisierte und versehrte Menschen, Kriegswaisen, Heimatlose, Geflüchtete und Vertriebene benötigten Lebensmittel und Kleidung sowie eine erste Unterkunft.

Um akute Nothilfe zu leisten, gründete die Evangelische Kirche in Deutschland am 23. August 1945 auf ihrer Konferenz in Treysa das Evangelische Hilfswerk mit Hauptsitz in Stuttgart. Die einzelnen Landeskirchen richteten eigene Geschäftsstellen ein, um über die regionalen kirchlichen Strukturen effektiv Hilfe leisten zu können. Landesweit wurden Bezirksverantwortliche berufen und Bezirksbüros aufgebaut. Auch in Württemberg entstanden so örtliche Kleiderkammern, Suppenküchen, Lebensmittelausgaben und Beratungsstellen – die Vorläufer der heutigen Diakonischen Bezirksstellen. Daneben errichtete das Hilfswerk Notaufnahmelager für Flüchtlinge und gründete verschiedene Heimeinrichtungen und Aufbaugilden.
Das Evangelische Hilfswerk wirkt heute als Diakonisches Werk weiter.

Das Landeskirchliche Archiv wird sich ab 15. September bis zum Jahresende in einer Blog-Serie anhand von Quellen, Objekten, Fotos und Plakaten mit dem Thema Nachkriegszeit beschäftigen, vieles davon aus dem Bestand des Diakonischen Werks bzw. des Hilfswerks, das sich in unserem Archiv befindet.

 

Beitrag über das Diakonische Werk Württemberg auf Württembergische Kirchengeschichte Online.

Beitragsbild: Plakat, gezeichnet von Curt Zeh, 1948 (Ausschnitt)

Zerbombte Erinnerung

16. April 2020 | | ,

Heute vor 75 Jahren, am 16. April 1945, nur wenige Wochen vor Kriegsende, wurde Freudenstadt durch französische Bombenangriffe und Artilleriebeschuss großflächig zerstört. Feuer breitete sich ungehindert in der Innenstadt aus und erfasste auch die Stadtkirche mit den in der Pfarrei befindlichen historischen Tauf-, Ehe- und Sterberegistern. Durch Abschriften dieser Kirchenbücher sind die Daten weitgehend erhalten geblieben und können heute von Familienforschern beim Kirchenbuchportal Archion eingesehen werden.

Die originalen Kirchenbücher (siehe Bild) wurden damals geborgen. Später wurden die verkohlten Bücher ins Landeskirchliche Archiv verbracht, in der Hoffnung, dass es die Technik irgendwann möglich machen wird, sie zu lesen.

 

April 1934: Kirchlicher Widerstand im „Dritten Reich“

15. April 2020 | |

„Der Reichsbischof ist durch das Vertrauen des Führers im Amt, trotz oder wegen des Widerspruchs dieser paar südwestdeutschen Herren. Daraus ergibt sich für mich: Jeder, der – auch im sog. rein kirchlichen Interesse – gegen den Reichsbischof kämpft, kämpft gegen den Führer und ist ein Feind des Staates. Und wenn der Reichsbischof […] vom Teufel eingesetzt wäre, so muß er Reichsbischof bleiben, solange es der Führer will“.

Diese Worte fielen am 16. April 1934 in einer privaten Unterredung eines württembergischen Geistlichen mit Reichsstatthalter Wilhelm Murr. Einen Tag zuvor, am 15. April, waren ungebetene Gäste in Stuttgart eingetroffen, Reichsbischof Ludwig Müller und der kurz vor zum Mitglied seines Geistlichen Ministeriums ernannten Jurist August Jäger. Beide versuchten nichts mehr und nichts weniger, als die vermeintliche Gunst der Stunde zu nutzen, konkret: Landesbischof Theophil Wurm wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Verabschiedung des kirchlichen Haushalts zu schwächen, wenn möglich durch eine kommissarische Kirchenleitung zu ersetzen. Die an Dramatik kaum zu überbietenden Sitzungen im Dienstgebäude des Oberkirchenrats am Alten Postplatz endeten damit, dass Jäger am 15 April, gegen 11 Uhr nachts, eine bereits gedruckte Verordnung zur Regelung der kirchlichen Lage innerhalb der Landeskirche in Württemberg präsentierte, der zufolge bis auf Weiteres die Einberufung des Landeskirchentages und seines Ständigen Ausschusses dem Reichsbischof zuerkannt wurde. Die bereits anberaumte Tagung des Landeskirchentages zur endgültigen Verabschiedung des Haushalts wurde vom 16. April auf den 11. Juni verschoben, zudem über das Radio die gezielte Falschmeldung verbreitet, Müller habe den württembergischen Landesbischof zur Nachgiebigkeit ermahnt und in der Landeskirche selbst Ruhe und Ordnung wiederhergestellt. Damit waren die Auseinandersetzungen um die Eingliederung der Landeskirche auch in Württemberg eröffnet.

Was der Reichsbischof und sein juristischer Berater im April 1934 erreichen sollten, war das genaue Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt hatten. Die päpstliche Gewaltherrschaft (so die Wortwahl in einem Protestschreiben aus einer Kirchengemeinde), die ihre Hand nunmehr auch auf die württembergische Landeskirche zu legen drohe, führte zu Massenprotesten im ganzen Land. Sie zu leugnen, war auch den Gegnern Wurms nicht möglich. Es sind in den letzten Tagen eine Unmasse von Vertrauenskundgebungen für den Herrn Landesbischof Wurm bei allen möglichen Stellen des Reiches, des Staates, der Reichskirchenleitung auch bei mir eingegangen, musste ein prominentes Mitglied der Deutschen Christen Württembergs einräumen. Landesbischof Theophil Wurm wurde von Vertrauenskundgebungen geradezu überschüttet. Und wer in diesen Briefen und Telegrammen blättere, so der kurz nach den Ereignissen vom April ins Leben gerufene Informationsdienst Die Stimme der Gemeinde, der gewahrt noch etwas, das auf eine tiefe Verbundenheit zwischen Bischof und Gemeinde hinweist: es wird für ihn gebetet!“.

Wenn wir heute, mehr als 80 Jahre nach dem April 1934, auf die Zeit des sog. Kirchenkampfes zurückblicken, dann wird manchem der Ulmer Bekenntnistag (22. April 1934) in den Sinn kommen, wo erstmals die rechtmäßige evangelische Kirche Deutschlands ihre Stimme erhob. Viele werden der Barmer Theologischen Erklärung gedenken, die am 31. Mai 1934 von der ersten Bekenntnissynode von all jenen angenommen wurde, die sich im Widerstand gegen die Deutschen Christen und die Kirchenpolitik des NS-Staates geeint wussten. Ob jedoch auch noch ein Wissen darüber vorhanden ist, wie sehr die einfachen Christen in Stadt und Land dazu beitrugen, die mehrfachen Gleichschaltungsversuche der württembergischen Landeskirche zu verhindern, dürfte eher fraglich sein. Diese Widerständigkeit von unten ist es aber wert, erinnert zu werden.

Eine Überblicksdarstellung über die Württembergische Landeskirche und den Nationalsozialismus finden Sie hier auf Württembergische Kirchengeschichte Online.

Beitragsbild: Landesbischof Theophil Wurm (1868-1953), Landeskirchliches Archiv Stuttgart

Theodor Dipper und der Freudenstädter Kreis – das verborgene Herz der Bekennenden Kirche im württembergischen Kirchenkampf

5. August 2019 | | ,

In diesem Sommer jährt sich der Todestag Theodor Dippers (1903-1969) zum 50. Mal. Dies nimmt der Freudenstädter Kreis zum Anlass, seine über 90 Jahre sorgsam gesammelten und bewahrten Unterlagen an das Landeskirchliche Archiv Stuttgart zu übergeben. Dieser Bestand wird den Bestand zur Bekenntnisgemeinschaft/ Theodor Dipper (D 31) , der sich bereits im Landeskirchlichen Archiv befindet und mit einem auch online recherchierbaren Findmittel erschlossen ist, gut ergänzen.

Das Landeskirchliche Archiv Stuttgart lädt vor diesem Hintergrund zu einem Vortrag in seinem Räumlichkeiten am Freitag den 20. September um 18:30 Uhr ein. Anmeldungen bitte bis zum 16.09.2019 an E-Mail: Gudrun.Dengel@elk-wue.de oder Tel. 0711-2149 212.

Theodor Dipper (1903-1969). Landeskirchliches Archiv, Bildersammlung Nr. 5217.

Der Freudenstädter Kreis wurde 1927 von Theodor Dipper und seinen Freunden als kirchliche Bruderschaft und theologische Arbeitsgemeinschaft gegründet. Anfangs nur aus einem knappen Dutzend Pfarrern bestehend, hatte diese Gemeinschaft persönliche Weggemeinschaft und kirchlich-theologisches Arbeiten zum Ziel. Sie wurde zum Rückzugsort und Kraftzentrum für diese Männer, die ab 1934 in der Bekenntnisgemeinschaft den Widerstand gegen den Einfluss der Deutschen Christen bzw. des NS-Staates in der Württembergischen Landeskirche maßgeblich trugen.

Die Pfarrerin und Historikerin Dr. Karin Oehlmann wird einen ersten Einblick in diesen faszinierenden Aktenbestand geben und dieses bislang weitestgehend unbekannte Kapitel der Gründungsgeschichte von „Evangelium und Kirche“ erzählen.

 Nach dem Vortrag haben Sie die Möglichkeit, sich bei einem Stehempfang auszutauschen.

EFW – Evangelische Frauen in Württemberg feiern 100 jähriges Jubiläum

31. Juli 2019 | |

Grund zum Feiern haben die Evangelischen Frauen in Württemberg, denn 1919 wurde die „Frauenabteilung“ des Evangelischen Volksbundes gegründet. Anfangs war die Frauenabteilung dafür vorgesehen, die Gottesdiensträume zu schmücken und sich karitativ in den Kirchengemeinden zu betätigen. Schnell realisierten jedoch die Mitgliedsfrauen, dass die karitative Arbeit auch politisches Engagement braucht und die Not der Nachkriegszeit nur durch die Vernetzung der vielfältigen Frauenaktivitäten gelindert werden konnte. Daher kam es zur Gründung des „Bunds evangelischer Frauen Württembergs“, der bis 2005 als „Frauenarbeit der Evang. Landeskirche“ Kirche und Gesellschaft maßgeblich mitgestaltete.

Die „Staatsbürgerlichen Tagungen“, die ab 1951 angeboten wurden, um Frauen zu informieren und zur politischen Partizipation zu mobilisieren, waren dabei ein wichtiges Aufgabengebiet. Die „Frauenabteilung“, aus der das spätere „Frauenwerk“ wurde, wirkte aktiv in den Gemeinden mit vielzähligen theologischen Angeboten für Frauen, wie z.B. die Vorbereitung und Feier des Weltgebetstages der Frau. Die Fusion der beiden Werke im Jahr 2005 verband die Schwerpunkte der Verbandsarbeit und der Gemeindearbeit miteinander. Zur Feier des 100 jährigen Jubiläums  beglückwünschen wir die Evangelischen Frauen (https://www.frauen-efw.de/).

Wer sich noch selbst auf Spurensuche zur Geschichte der Evangelischen Frauen machen möchte, findet im Landeskirchlichen Archiv  iStaatsbürgerliche Tagung in Herrenberg 1951, LKAS P 2709n den Beständen K 6, Frauenarbeit, K 17 Frauenwerk und K 38 Evangelische Frauen spannendes und umfangreiches Material.