Ein weiterer historischer Beleg für einen Fall von Intersexualität
Am 18. Juni 2020 berichteten wir über den historischen Beleg für einen Fall von Intersexualität. Wir stellten einen Taufeintrag aus Peterzell bei Alpirsbach vor, in dem beschrieben wurde, dass bei einem am Palmsonntag 1653 getauften Mädchen namens Anna Epting „ettlich Tag nach empfangener Tauf mehr männliches alß weibliches Geschlechts gefunden worden“, weshalb das Kind schließlich in Hans Jacob Epting umbenannt wurde. Anhand von weiteren Quellen konnte belegt werden, dass Hans Jacob Epting später Heiligenpfleger und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft war.[1]
Am heutigen Welttag der Intersexualität (Intersex Awareness Day) stellen wir einen weiteren historischen Beleg für einen Fall von Intersexualität vor. Im Taufregister von Kayh bei Herrenberg ist unter dem 29. März 1702 die Taufe einer Martha aus Altingen eingetragen.[2]
Die Eltern waren Johannes Hammer, „Balbierer und Beysitzer“ (Herrenfriseur, Wundarzt und Chirurg sowie Bürger mit eingeschränktem Bürgerrecht) in Altingen, „Pontif[icii] Relig[ionis]“ (päpstlicher Religion = katholischer Konfession), und seine Ehefrau („ux[or]“) Catharina Krauß, „Evang[elischer] Religionis“.
Nach der Angabe der Paten („Gevatterl[eute]“) ist zu lesen, dass die Taufe geschah, „Nach deme von beederseits hohen Obrigkeiten vogtgerichtl[ich] ist verabschidet und decredirt worden, welcherley Geschlechts das Kind ist, nach deßen Eltern Religion, auch das Kindt zur H[eiligen] Tauff soll getragen werden, deßwegen dieser bäpstl[iche] Vatter gutwillig das Kindt allhero gebracht und in Persona erschinen, weilen die Mutter Evangelisch.“
Anhand dieser Anmerkung kann geschlossen werden, dass das Geschlecht des Kindes nicht eindeutig war, weshalb es schließlich von den Obrigkeiten festgelegt wurde. Auf welcher Grundlage dies geschah, ob es evtl. ein medizinisches Gutachten gab, ist unbekannt. Schließlich hatten sich beide Obrigkeiten darauf geeinigt, dass das Kind weiblichen Geschlechts sei und dies angeordnet.
Auffällig ist, dass die Feststellung des Geschlechts ohne sonstige Bemerkungen kurz festgehalten wird, die Uneindeutigkeit des Geschlechts zwar nichts Alltägliches, aber auch nichts Ungewöhnliches war, während die unterschiedliche Konfession der Eltern und dass der katholische Vater „gutwillig“ die evangelische Taufe seines Kindes gestattet hatte besondere Erwähnung findet, für den Pfarrer also einen höheren Stellenwert hatte, was sich auch in der Verwendung des Begriffs „Religion“ anstelle von „Konfession“ erkennen lässt.
Ein weiterer Fall einer erwachsenen intersexuellen Person kann bei Martha Hammer leider nicht dokumentiert werden, da sie – wie viele Kinder ihres Alters zu der Zeit – bereits früh verstarb und am 20. Mai 1703 beerdigt wurde.[3]
Abschließend müssen noch die politischen und konfessionellen Verhältnisse in Altingen erklärt werden:
Der Ort war bis 1805 geteilt, eine Hälfte gehörte zu Württemberg, die andere zu Österreich. Die österreichischen Untertanen blieben nach der Reformation katholisch, die württembergischen Untertanen wurden evangelisch und schlossen sich der Pfarrei Kayh an, waren aber nie förmlich dort eingepfarrt.[4] Johannes Hammer war aufgrund seiner Konfession österreichischer Untertan, Catharina Krauß entsprechend ihrer Konfession württembergische Untertanin. Deshalb musste obiger Fall vor beide Obrigkeiten, vor das württembergische Amt Herrenberg und das vorderösterreichische Amt Rottenburg, gebracht werden.
[1] https://blog.wkgo.de/2020/06/18/historischer-beleg-fuer-einen-fall-von-intersexualitaet/ und https://www.facebook.com/LKAS.de/photos/a.110475517144932/170538011138682/
[2] Kirchenbücher Kayh, Taufregister 1697-1779, S. 31
[3] Kirchenbücher Kayh, Totenregister 1657-1741, Bl. 56v
[4] LKAS, A 29, Nr. 2256, Unter-Nr. 1 (Pfarrbeschreibungen der Pfarrei Kayh 1828), S. 3