Ein Gretchen in Mühlhausen an der Enz
Im Sterberegister von Mühlhausen an der Enz findet sich unter dem Datum 18. Juli 1746 als Todeseintrag für Christina Margaretha Baumgartner die Bemerkung “Caput ense capitatum est infanticida …”. Der lateinische Passus bezeichnet die Todesart, nämlich den Tod durch Enthauptung, und das Delikt der im Sterberegister eingetragenen: Kindsmörderin (“infanticida”). Wie die Suche im Taufregister ergab, handelte es sich um eine zur Tatzeit achtzehnjährige Bürgerstocher des damals reichsritterschaftlichen Fleckens und um die Mutter eines am 27. August 1745 von ihr gleich nach der Geburt ermordeten Sohnes, dessen Tod ebenfalls im Sterberegister erscheint. Wie sich über eine einfache Recherche ergab, wurde über den Fall, der zu dem Todesurteil führte, in einem zeitgenössischen juristischen Werk ausführlich behandelt, das heute digital einsehbar ist. Das Urteil erfolgte im Namen der damaligen Ortsherren, der Herren von Stein.
Der Fall wirft ein Licht auf die sozialen Zwänge in der dörflichen Gemeinschaft aber auch darauf, welche Bedeutung es für die Familien hatte, dass man meinte, die Tochter möglichst wohlhabend verheiraten zu müssen. Das getötete Kind war die Frucht einer Liebesbeziehung der Mühlhausenerin mit Albanus Müller, einem jungen Mann aus dem Dorf, die sich um die Weihnachtszeit 1744 ereignet hatte. Zwar hielt er die Hand um sie an, aber etwa zur selben Zeit lag auch ein Eheinteresse von Friedrich Kientsch, dem Sohn des Feldmessers, vor, der aus vermögenderen Verhältnissen kam. Um sich diese in Aussicht stehende bessere Partie, auf die auch ihre Eltern drängten, nicht zu verderben, kam es zu der tragischen Tat, die bald ans Licht kam. Durch eine Obduktion des in einem Versteck beim Haus aufgefundenen Kindes durch den Mühlhausener Chirurgen Georg Friedrich Eulenfuß wurde ermittelt, dass der Tod nicht durch eine natürliche Ursache eingetreten war. Im peinlichen Verhör, – also unter der Folter – , gestand die junge Frau alles, plädierte aber auf mildernde Umstände, da sie sich durch ihre Eltern wie auch durch ihre Freunde unter Druck gesetzt gefühlt habe, die bereits im Dorf gemutmaßte Schwangerschaft zu verheimlichen.
Die Geschichte ist etwas anders gelagert als bei der von Johann Wolfgang von Goethe geschaffenen Figur des verführten, dann zur Kindsmörderin gewordenen und schließlich zum Tode verurteilten “Gretchens”, aber angesichts der Namensgleichheit (Margarethe) und des gleichen Zeitraums (18. Jahrhundert), liegt es doch nahe, den Eintrag im Kirchenregister in eine Beziehung zu der sehr bekannten und zentralen Figur aus dem “Faust” zu setzen. Beide lebten in kleinen Verhältnissen und sahen sich durch die Situation einer ungeplanten Schwangerschaft überfordert, so dass sie das uneheliche Kind ermordeten.
Tatsächlich geht man davon aus, dass es ein reales Vorbild für die Gretchenfigur gab. Diese war allerdings nicht Christina Margaretha Baumgartner, sondern Susanna Margaretha Brandt aus Goethes Heimatstadt Frankfurt am Main, die 1772 bei der dortigen Hauptwache den Tod durch Enthaupten fand.
Zu einer literarischen Bearbeitung führte allerdings auch der Fall der jungen Mühlhausenerin. Der damalige Ortsherr Baron Walrad Heinrich von Stein (auch: vom Stain) wurde durch den Fall so bewegt, dass er am 28. August 1745, – dem Tag nach der Ermordung des Knaben -, ein etwa 20seitiges Klagelied verfasst hat, welches heute in der Handschriftenabteilung der Württembergischen Landesbibliothek aufbewahrt wird.
Quellen
KB Mühlhausen an der Enz, Mischbuch 1727-1799, Sterberegister, S. 21
KB Mühlhausen an der Enz, Mischbuch 1727-1799, Sterberegister, S. 19
KB, Mühlhausen an der Enz, Mischbuch 1727-1799, Taufregister, S. 1.
Walrad Heinrich vom Stain: Schmerzliche Weheklage über Margaretha Baumgärttner. Klagelied in 66 Strophen über die Kindsmörderin. Verfasst am 28. August 1745. Württembergische Landesbibliothek, Handschriften, Cod. Poet. Et Phil. 4° 180.
Karl Hittler, Familien in Mühlhausen an der Enz 1641 – 1920: mit älteren Nachweisen ab 1596, Mühlacker 2013, S. 56.