16. August 2021 | Andreas Butz | Jubiläum, Nachlass
Landesbischof Theophil D. Wurm an der Schreibmaschine, an der er oft selbst die Entwürfe seiner Briefe verfasste. LKAS, Bildersammlung.
Im August des Jahres 1941 wurde die als „Aktion T4“ – benannt nach der zuständigen Dienststelle für die Krankenmorde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin – bezeichnete systematische Tötung von psychisch kranken und körperlich behinderten Menschen, die Euthanasie, offiziell abgebrochen. Etwa 70.000 Anstaltsbewohner waren vom Beginn der Aktion Anfang 1940 bis zu ihrem Ende ermordet worden. Protest von kirchlicher Seite führte zur Einschränkung des Euthanasieprogramms.
Im September 1939, gleichzeitig mit Kriegsbeginn, hatte Hitler, angeordnet, unheilbar Kranken den “Gnadentod” zu gewähren. Binnen kurzer Zeit wurde daraufhin die Organisation der Tötung von nach Ansicht der Nationalsozialisten von unheilbar Kranken vorangetrieben. So auch in Württemberg. Im Oktober 1939 wurde die der Stuttgarter Samariterstiftung gehörende Anstalt Grafeneck beschlagnahmt und zu einem Vernichtungsort umgewandelt. Ab Frühjahr wurden die zur Tötung ausgewählten Menschen in den verschiedenen Einrichtungen von Bussen abgeholt, deren Scheiben grau getüncht waren. Angeblich sollten sie verlegt werden. In Wirklichkeit wurden sie auf Schloss Grafeneck in einen Duschraum gebracht, in dem sie mittels Zufuhr von Kohlenoxid ermordet wurden. Die Leichen wurden anschließend verbrannt und den Angehörigen die Urne mit einem Totenschein, der auf einen Tod durch eine Krankheit lautete, zugesandt. Die Einäscherung habe aufgrund seuchenpolizeilicher Vorschriften stattgefunden.
Früh wurden die wahren Hintergründe der Todesfälle bekannt. Als erster Landesbischof, aber auch erst am 19. Juli 1940, entschloss sich Theophil Wurm zu einem Protestschreiben an Reichsinnenminister Wilhelm Frick, das sich in mehreren Abschriften im Nachlass Wurms im Landeskirchlichen Archiv findet. In seinem sechsseitigen Brief stellt der der nationalsozialistischen Ideologie die christliche Ethik entgegen. Er warnt vor einem Sittenverfall, der “auch den Verfall des Staates nach sich ziehen würde”. Weitere Schreiben an hohe Partei- und Regierungsstellen folgten. Er wandte sich auch an das Oberkommando der Wehrmacht, deren Soldaten nach einer unheilbaren Verwundung ebenfalls die Euthanasie droht. Er wies darauf hin, mit dem Hinweis, welche Folgen solche Handlungen für die Moral der Truppe haben würden.
Wurm blieb mit seinem Protest nicht alleine. Insbesondere die Predigten des Münsteraner Bischofs von Galen, die auch publiziert wurden, wiesen eindringlich auf das Unrecht hin. Die katholischen Bischöfe protestierten im Juni 1941 auch mit einem Hirtenbrief gegen das Verbrechen. Es ist davon auszugehen, dass es der kirchliche Protest war, der zum Abbruch der Aktion führte. Inoffiziell wurden aber weiterhin solche Euthanasiemorde durchgeführt.
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Protestschreiben Theophil Wurms an Reichsinnenminister Frick vom 19.7.1940, Gesamtdokument mit 6 Seiten. LKAS, D1, Nr. 113.
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Weiterführende Links:
Epochenartikel zum Nationalsozialsmus in Württembergische Kirchengeschichte Online
Beitrag “Der nationalsozialistische Krankenmord” in Württembergische Kirchengeschichte Online
Informationen zum Widerstand gegen die Aktion T4 auf Christlicher Widerstand
13. Oktober 2020 | Andreas Butz | Jubiläum, Serie Nachkriegszeit
Führende Vertreter der neu gebildeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gaben die Stuttgarter Erklärung bei einem Treffen mit Mitgliedern des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) am 18./19. Oktober 1945 in Stuttgart ab. Erstmals bekannte sich die evangelische Kirche Deutschlands darin zu einer Mitschuld am Krieg und an den nationalsozialistischen Verbrechen. Die u. a. vom württembergischen Landesbischof Theophil Wurm unterzeichnete kirchliche Erklärung bekennt: „durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“. Die Schulderklärung markiert den Neuanfang in den Beziehungen der deutschen evangelischen Kirche mit der ökumenischen Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Veröffentlicht wurde die Erklärung zuerst im Kieler Kurier. Im Württembergischen Gemeindeblatt berichtete man davon erst zögerlich zwei Wochen später. Alle Presseorgane unterstanden der Nachrichtenkontrolle der jeweiligen Militärregierung der Alliierten.
Michael Bing vom Landeskirchlichen Archiv stellt anhand von einigen Dokumenten in dem folgenden Clip die Stuttgarter Schulderklärung vor.
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Weitere Informationen
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Unterschriebene Fassung im Nachlass von Bischof Bell in der Lambeth Palace Library in London (Bell Papers: German Church 9, f. 435).
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Kieler Kurier, 27. Oktober 1945
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Verordnungs- und Nachrichten Blatt der EKD, Nr. 1, Januar 1946
Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.
15. April 2020 | Norbert Haag | Jubiläum
„Der Reichsbischof ist durch das Vertrauen des Führers im Amt, trotz oder wegen des Widerspruchs dieser paar südwestdeutschen Herren. Daraus ergibt sich für mich: Jeder, der – auch im sog. rein kirchlichen Interesse – gegen den Reichsbischof kämpft, kämpft gegen den Führer und ist ein Feind des Staates. Und wenn der Reichsbischof […] vom Teufel eingesetzt wäre, so muß er Reichsbischof bleiben, solange es der Führer will“.
Diese Worte fielen am 16. April 1934 in einer privaten Unterredung eines württembergischen Geistlichen mit Reichsstatthalter Wilhelm Murr. Einen Tag zuvor, am 15. April, waren ungebetene Gäste in Stuttgart eingetroffen, Reichsbischof Ludwig Müller und der kurz vor zum Mitglied seines Geistlichen Ministeriums ernannten Jurist August Jäger. Beide versuchten nichts mehr und nichts weniger, als die vermeintliche Gunst der Stunde zu nutzen, konkret: Landesbischof Theophil Wurm wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Verabschiedung des kirchlichen Haushalts zu schwächen, wenn möglich durch eine kommissarische Kirchenleitung zu ersetzen. Die an Dramatik kaum zu überbietenden Sitzungen im Dienstgebäude des Oberkirchenrats am Alten Postplatz endeten damit, dass Jäger am 15 April, gegen 11 Uhr nachts, eine bereits gedruckte Verordnung zur Regelung der kirchlichen Lage innerhalb der Landeskirche in Württemberg präsentierte, der zufolge bis auf Weiteres die Einberufung des Landeskirchentages und seines Ständigen Ausschusses dem Reichsbischof zuerkannt wurde. Die bereits anberaumte Tagung des Landeskirchentages zur endgültigen Verabschiedung des Haushalts wurde vom 16. April auf den 11. Juni verschoben, zudem über das Radio die gezielte Falschmeldung verbreitet, Müller habe den württembergischen Landesbischof zur Nachgiebigkeit ermahnt und in der Landeskirche selbst Ruhe und Ordnung wiederhergestellt. Damit waren die Auseinandersetzungen um die Eingliederung der Landeskirche auch in Württemberg eröffnet.
Was der Reichsbischof und sein juristischer Berater im April 1934 erreichen sollten, war das genaue Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt hatten. Die päpstliche Gewaltherrschaft (so die Wortwahl in einem Protestschreiben aus einer Kirchengemeinde), die ihre Hand nunmehr auch auf die württembergische Landeskirche zu legen drohe, führte zu Massenprotesten im ganzen Land. Sie zu leugnen, war auch den Gegnern Wurms nicht möglich. Es sind in den letzten Tagen eine Unmasse von Vertrauenskundgebungen für den Herrn Landesbischof Wurm bei allen möglichen Stellen des Reiches, des Staates, der Reichskirchenleitung auch bei mir eingegangen, musste ein prominentes Mitglied der Deutschen Christen Württembergs einräumen. Landesbischof Theophil Wurm wurde von Vertrauenskundgebungen geradezu überschüttet. Und wer in diesen Briefen und Telegrammen blättere, so der kurz nach den Ereignissen vom April ins Leben gerufene Informationsdienst Die Stimme der Gemeinde, der gewahrt noch etwas, das auf eine tiefe Verbundenheit zwischen Bischof und Gemeinde hinweist: es wird für ihn gebetet!“.
Wenn wir heute, mehr als 80 Jahre nach dem April 1934, auf die Zeit des sog. Kirchenkampfes zurückblicken, dann wird manchem der Ulmer Bekenntnistag (22. April 1934) in den Sinn kommen, wo erstmals die rechtmäßige evangelische Kirche Deutschlands ihre Stimme erhob. Viele werden der Barmer Theologischen Erklärung gedenken, die am 31. Mai 1934 von der ersten Bekenntnissynode von all jenen angenommen wurde, die sich im Widerstand gegen die Deutschen Christen und die Kirchenpolitik des NS-Staates geeint wussten. Ob jedoch auch noch ein Wissen darüber vorhanden ist, wie sehr die einfachen Christen in Stadt und Land dazu beitrugen, die mehrfachen Gleichschaltungsversuche der württembergischen Landeskirche zu verhindern, dürfte eher fraglich sein. Diese Widerständigkeit von unten ist es aber wert, erinnert zu werden.
Eine Überblicksdarstellung über die Württembergische Landeskirche und den Nationalsozialismus finden Sie hier auf Württembergische Kirchengeschichte Online.
Beitragsbild: Landesbischof Theophil Wurm (1868-1953), Landeskirchliches Archiv Stuttgart
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Notverordnung vom 15.4.1934, Landeskirchliches Archiv Stuttgart
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Protestschreiben des Kirchengemeinderats von Nellingen auf den Fildern vom 18.4.1934, Landeskirchliches Archiv Stuttgart
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Schreiben von Landesbischof Wurm an Reichsbischof Müller vom 20.4.1934, Landeskirchliches Archiv Stuttgart
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Seite 2 des Schreibens vom 20.4.1934