Kirchenbücher als Werkzeug für die Quellenkritik zeitgenössischer Berichte

14. August 2024 | |

Schriftliche Berichte von Zeitzeugen und Autobiografien aus der Zeit vor 1900 sind begehrte Quellen für die Forschung, da, je weiter die Zeit zurückliegt, die schriftliche Überlieferung immer mehr nur aus amtlicher Überlieferung besteht und die Quellen zur Alltagsgeschichte und dem Leben einzelner, nicht-prominenter Personen rar sind.

Doch wie zuverlässig sind diese Quellen? Kann man diesen Berichten, speziell den Autobiografien trauen? Liegt es nicht auf der Hand, dass in letzteren das ein oder andere vielleicht etwas beschönigend oder nicht ganz der Wahrheit entsprechend dargestellt wird?

Vieles wird man, da die gemachten Aussagen weder bestätigt noch widerlegt werden können, so übernehmen müssen. Anderes kann anhand anderer Quellen überprüft werden. Für Lebensdaten – Geburt, Hochzeit, Tod – sind die Kirchenbücher die primären Quellen.

Abb. 1: Taufeintrag 13. Juni 1769 in Ulm

Als Beispiel wird im Folgenden die Autobiografie des Oberforstmeisters der Reichsstadt Ulm und späteren Direktors des königlich-württembergischen Forstrates und Direktors der Finanzkammer des Neckarkreises Johann Georg Seutter von Lötzen behandelt, die er 1820 verfasst hatte und die in „Sylvan, ein Jahrbuch für Forstmänner, Jäger und Jagdfreunde für das Jahr 1822“ veröffentlicht wurde.[1]

Über seine Geburt und seine Hochzeit schreibt Seutter: „Ich wurde den 13ten Juni 1769 geboren und nebst meinen sechs jüngern Geschwistern, unter der fortwährenden Aufsicht meiner Eltern, auf dem Lande, wo mein Vater seines Amtes wegen wohnte, erzogen.“[2] „Im Jahr 1795 endlich wurde ich als Reichstadt Ulmischer Oberforstmeister bestellt […]“.[3] „Im Jahr 1795 mit einer anständigen Besoldung angestellt, verheirathete ich mich im Jahr 1796 mit einer Tochter des Raths-Aelter [!], Freiherrn v. Welser in meiner Vaterstadt […]“.[4]

Unter „Vaterstadt“ versteht man im Allgemeinen die Stadt, aus der jemand stammt, in der jemand geboren wurde und/oder aufgewachsen ist.[5] Seutters Aussagen können also dahingehend interpretiert werden, dass er am 13. Juni 1769 in Ulm geboren wurde und 1796 auch dort geheiratet hatte.

Was sagen nun die Quellen?

Im Taufregister von Ulm ist unter der Nummer 248/1769 die Taufe von Johann Georg Seutter von Lötzen am Dienstag, den 13. Juni 1769 eingetragen.[6] – Die Jahres- und Datumsangaben in Abbildung 1 erfordern hier eine kurze Erklärung: „17 JVNIVS 69“ steht für Juni 1769. Das auch als Symbol für „männlich“ verwendete Marssymbol steht hier für den Dienstag. „hujus“ = „huius“ ist Lateinisch für „dieser“ und meint „dieser Monat“, bezieht sich also auf den genannten Juni 1769.

Der Taufeintrag enthält keine Angaben zur Geburt, sondern dokumentiert allein die Taufe. Als Geburtsort kann Ulm angenommen werden, da der Vater Albrecht Ludwig Seutter von Lötzen Mitglied des Rats war und als solcher zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich auch in Ulm wohnte. Außerdem wäre bei Ortsfremden sicherlich eine entsprechende Bemerkung zu finden.

Auf den Wohnort von Albrecht Ludwig Seutter von Lötzen und damit den Geburtsort seiner Kinder kann auch anhand der Taufeinträge der Kinder geschlossen werden. Zwischen 1769 und 1778 gebar seine Ehefrau sieben Kinder, darunter ein Zwillingspaar. 1769 bis 1772 wird Albrecht Ludwig Seutter von Lötzen als Mitglied des Rats in Ulm bezeichnet, 1773 zusätzlich als Oberforstmeister. Die entsprechenden Taufen fanden in Ulm statt. 1778 wird das letzte Kind des Ehepaars in Altheim (Alb) getauft, der Vater als „Oberforstmeister zu Altheim“ bezeichnet.[7] Er scheint also zwischen 1773 und 1778 zum Oberforstmeister ernannt worden zu sein und in diesem Zeitraum nach Altheim (Alb), wo sich seit 1700 der Amtssitz des Ulmer Oberforstmeisters befand, umgezogen zu sein.

Über das Geburtsdatum kann nur spekuliert werden. Meistens war die Taufe ein oder zwei Tage nach der Geburt, immerhin musste die Taufe organisiert und die Taufpaten eingeladen werden. Zwar ist es nicht auszuschließen, dass eine Taufe noch am Tag der Geburt stattfand, jedoch war dies nur – logischerweise – bei Nottaufen üblich oder bei Eltern, die zeitnah weiterziehen mussten, z. B. Soldaten, nicht ungewöhnlich.

Abb. 2: Familienregistereintrag Seutters in Ludwigsburg

Wie kommt nun Johann Georg Seutter von Lötzen auf den 13. Juni 1769 als Geburtsdatum?

Es ist anzunehmen, dass er einen Taufschein des Pfarramts Ulm über seine Taufe besaß. Evtl. wurde dort mangels anderen Datums das Geburtsdatum mit dem Taufdatum gleichgesetzt. Dieses weitverbreitete Phänomen unterläuft nicht nur Ahnenforschungsneulingen, sondern eben auch Pfarrern. Vielleicht stand auf dem Taufschein kein Geburtsdatum und Seutter selbst hat Geburts- und Taufdatum gleichgesetzt. Dieser Fehler scheint auch demjenigen unterlaufen zu sein, der das Ludwigsburger Familienregister geführt hat, wo Seutter später lebte. In Abbildung 2 ist ein Ausschnitt des Familienregistereintrags Seutters – ohne Vornamen – in Ludwigsburg zu sehen, worin zur Geburt „Ulm 13. Jun. 1769“ eingetragen ist.[8]

Abb. 3: Todeseintrag 24. Dezember 1833 in Ludwigsburg

In seinem Todeseintrag vom 24. Dezember 1833 in Ludwigsburg, siehe Abbildung 3, wird der 13. Juni 1769 ebenfalls als Geburtsdatum angegeben, als Geburtsort jedoch „Altheim bei Ulm“, also Altheim (Alb).[9] Hier sind dem Schreiber also gleich mehrere Fehler unterlaufen.

Das Taufdatum als nicht belegtes Geburtsdatum und der falsche Geburtsort Altheim (Alb) haben sich bis in aktuelle Datenbanken eingeschlichen, z. B. in der Deutschen Biografie[10] oder bei LEO BW, wo zudem das falsche Altheim – Altheim/Allmendingen statt Altheim (Alb) – verknüpft ist.[11]

Um es nochmals festzustellen: nur die Taufe in Ulm ist durch die authentische, pfarramtliche Quelle des Taufeintrags dokumentiert. Der Geburtsort Ulm ist nicht belegt, kann aber guten Gewissens angenommen werden. Über das Geburtsdatum kann nur spekuliert werden.

Abb. 4: Hochzeitseintrag 12. Mai 1795 in Ulm

Auch hinsichtlich seiner Hochzeit „im Jahr 1796 mit einer Tochter des Raths-Aelter [!], Freiherrn v. Welser“ (vgl. oben) irrte sich Seutter – abgesehen davon, dass es etwas merkwürdig ist, dass er seine Frau, die ihn überlebte (vgl. Familienregistereintrag), nicht beim Namen nennt. Dem Eheregister von Ulm ist zu entnehmen, dass er am 12. Mai 1795 in Ulm Helena Magdalena, Tochter des Ratsälteren Marcus Theodosius Freiherr von Welser, heiratete, siehe Abbildung 4.[12]

Während Johann Georg Seutter von Lötzen sich beim Hochzeitsjahr „nur“ um ein Jahr irrte, schreibt er bezüglich des Todes seines Vaters Dinge, die nicht nur so nicht in den Quellen dokumentiert sind, sondern dem Todeseintrag des Vaters sogar widersprechen.

Seutter schreibt: „Den 4ten Oktober 1789 nachdem mein Vater den ganzen Tag hindurch amtlich auf dem Zimmer beschäftigt war, wollte er sich Abends noch in Begleitung zweier meiner Brüder etwas Bewegung machen, und ritt aus. Schon gegen die Abend-Dämmerung hin und auf dem Rückwege begriffen, verwickelte sich ein an sich unbedeutender Schwarzdorn-Zweig in dem Schweife seines ohnehin nicht frommen, von ihm als sehr gutem Reiter aber stets gebändigten Pferdes, dasselbe wurde toll, band mit meinem Vater ein und dieser war nach wenigen Augenblicken meinen Brüdern aus dem Gesichte verschwunden. Sie verfolgten mit Anstrengung seine Spur und nach wenigen Minuten schon sahen sie – den Vater todt auf dem Felde liegen.“[13]

Abb. 5: Todeseintrag 4. Oktober 1790 in Altheim (Alb)

Dieser dramatische Todesfall ist mit keinem Wort im Totenregister von Altheim (Alb) erwähnt. Dort steht, siehe Abbildung 5, dass Albrecht Ludwig Seutter von Lötzen am „Montag, den 4. Octobr. [1790] abends zwischen 6 und 7 […] in seinem Erlöser entschlaffen“ ist. Er wurde erst am Freitag darauf nach einer „christl. privat-Trauerrede zu Haus vor der nächsten hohen Anverwendtschaft [!] in der Kirchen zur Erden bestattet“.[14] Ein Unfall oder Unglück wird mit keinem Wort erwähnt und würde auch zu „entschlafen“ nicht passen. Wäre ein Sturz vom Pferd die Todesursache gewesen, so hätte dieses Unglück sicherlich seine Erwähnung im Todeseintrag gefunden.

Einen Grund, einen Sturz vom Pferd als Todesursache nicht zu erwähnen bzw. zu „verschleiern“, ist nicht ersichtlich. Der Grund, warum Johann Georg Seutter von Lötzen die Umstände des Todes seines Vaters derart angibt, abgesehen davon, dass er sich wiederum um ein Jahr irrt, kann ebenfalls nicht nachvollzogen werden. Fakt ist jedoch, dass hier die zeitgenössische, pfarramtliche Quelle glaubhafter ist als eine „Lebenserinnerung“, die 30 Jahre nach dem angeblichen Unglück verfasst wurde.

Die Autobiografie von Johann Georg Seutter von Lötzen ist ein Beispiel dafür, dass solche Quellengattungen mit Vorsicht zu genießen sind und Angaben anhand zeitgenössischer Quellen überprüft werden sollten.

 

Quellen

[1] Sylvan, ein Jahrbuch für Forstmänner, Jäger und Jagdfreunde für das Jahr 1822 = https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11038165, S. 1 – 20 (Scan-Nr. 10 – 30).

[2] Sylvan, S. 3.

[3] Sylvan, S. 7.

[4] Sylvan, S. 19.

[5] https://www.duden.de/rechtschreibung/Vaterstadt.

[6] Kirchenbücher Ulm, Taufregister 1767-1775, Bl. 124v.

[7] Kirchenbücher Ulm, Taufregister 1767-1775, Bl. 124v, 175v, 223r, 271r und 319r sowie Kirchenbücher Altheim (Alb), Taufregister 1712-1802, Nr. 17/1778.

[8] Kirchenbücher Ludwigsburg, Familienregister VII, S. 4094.

[9] Kirchenbücher Ludwigsburg, Totenregister 1828-1836, S. 180.

[10] https://www.deutsche-biographie.de/pnd117471135.html#adbcontent, Stand: 24.07.2024.

[11] https://www.leo-bw.de/web/guest/detail/-/Detail/details/PERSON/wlbblb_personen/117471135/Seutter+Johann+Georg+von, Stand: 24.07.2024.

[12] Kirchenbücher Ulm, Eheregister 1767-1800, S. 763.

[13] Sylvan, S. 4 f.

[14] Kirchenbücher Altheim (Alb), Totenregister 1712-1821, Nr. 20/1790.

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