Schlagworte: Zieglersche Anstalten

Evangelisches Leben zwischen 1880 und 1970 – Der Familiennachlass Gauger

13. Dezember 2023 | |

LKAS, D 180, Wappen der Familie Gauger

Vor einigen Wochen gelangten durch einen Nachkommen der Familie weitere Unterlagen aus dem Nachlass der Familie Gauger in das Archiv. Nachlässe enthalten in der Regel nur Materialien zu einer Person (z.B. eines Missionars oder Bischofs), die von kirchengeschichtlicher Bedeutung sind. Das können Predigten und theologische Traktate sein, aber auch Briefwechsel mit Kollegen oder biographische Dokumente wie Stammbäume und Lebensläufe. In diesem Fall gab es jedoch in der Familie Gauger mehrere Personen von kirchengeschichtlicher Bedeutung, weshalb eine Sammlung von Familiennachlässen sinnvoll erschien. Die Familie Gauger bildet zwar den Hauptteil des Nachlasses, doch war dieser in erster Linie genealogisch angelegt, so dass der Vollständigkeit halber auch vorhandenes Material zu Familienmitgliedern ohne kirchliche Relevanz übernommen wurde. Dies macht den Familiennachlass besonders interessant.

Die Familie Gauger umfasst neben der Stammfamilie auch die eingeheirateten Familien Ziegler, Peter, Gruss und Haas.
Hervorzuheben ist die Familie Ziegler (eingeheiratet von Jakob Ziegler), die im kirchlichen Bereich nicht ganz unbekannt ist. Ein Verwandter Jakobs, Johann Ziegler, gründete einst „Die Zieglerschen“ (Mädchen- und Knabeninstitut Wilhelmsdorf), deren Leitung Jakob nach Johanns Tod übernahm. In den “Zieglerschen” wurden von nun an die Kinder der Gauger untergebracht, wenn sie z.B. auf Urlaub waren oder wenn ihre Eltern früh verstarben (was z.B. bei Missionstätigkeiten nicht selten vorkam). Aufgrund der kirchlichen Relevanz als diakonische Einrichtung findet sich zur Familie Ziegler mehr Material außerhalb dieses Bestandes. Die anderen Familien haben dagegen nur wenige oder gar keine kirchlich engagierten Mitglieder. Die Familie Gauger kann auf ein breites Spektrum kirchlich orientierten Lebens zurückblicken – sei es als Missionar, Krankenpfleger, Lehrer, Pfarrer, Kirchenhistoriker oder Kirchenjurist. Drei dieser Persönlichkeiten sollen hier vorgestellt werden:

LKAS, D 180, Hochzeitsschmuck Ehe Gottlob Gauger

Gottlob Gauger, geboren 1855, begann seine berufliche Laufbahn als Kaufmann in Esslingen. Durch Bekannte in der Paulinenpflege lernte er 1877 die Basler Mission kennen und begann seinen Dienst als Missionskaufmann. Er arbeitete ein Jahr an der Goldküste (heutiges Ghana), wo er seine erste Frau Maria Fisch kennenlernte, die leider schon nach 5 Wochen verstarb. In zweiter Ehe heiratete er Johanna Luise Peter. Die Familie Peter war traditionell mit dem Goldschmiedehandwerk verbunden und in Zürich ansässig. Johanna lernte Gottlob durch ihren Bruder Gustav kennen, der, ungewöhnlich für die Familie, den Beruf des Missionars (in Indien) ergriff. Anlässlich der Hochzeit von Johanna und Gottlob fertigte der Goldschmied Friedrich Peter den im Nachlass befindlichen Hochzeitsschmuck an, der – von den Peters angefertigt und mit einem Käfer aus Gottlobs Missionszeit versehen – die Verbindung der beiden Familien symbolisieren sollte. Johanna und Gottlob hatten zwei Kinder, die nach Gottlobs Tod 1889 in Kamerun von seiner Schwester Maria Gauger und ihrem Mann Jakob Ziegler in den Zieglerischen Anstalten aufgezogen wurden.

LKAS, D 180. Traugott und seine Schwester Maria als Jugendliche und Kinder. Gottlob und seine Verlobte Johanna als Erwachsene.

Traugott Gauger wurde 1885 geboren und absolvierte zunächst eine Lehre als Musterzeichner, zwei seiner anschließend in Paris entworfenen Stoffe befinden sich in der musealen Sammlung des Archivs. Nach einer kurzen Phase der Arbeitslosigkeit von 1912 bis 1913 schulte er auf Anraten seines Onkels Joseph um und ergriff wie seine Schwester Maria Luise den Beruf des Krankenpflegers. Im Ersten Weltkrieg dienten beide als Kriegspfleger. Während Maria Luise ihren Lebensabend als Diakonisse in Stuttgart verbrachte, arbeitete Traugott von 1919 bis zu seiner Pensionierung 1950 als Oberpfleger im Städtischen Krankenhaus Heilbronn. Durch seine Schwester lernte er in dieser Zeit die Rotkreuzschwester Dorothea Gruss kennen. Dorotheas Familie stammte aus der Textilindustrie, vor allem Weber und Schneider, und auch Dorothea hatte zunächst eine Ausbildung als Schneiderin und Brand- und Spritzmalerin begonnen, bevor sie sich dem Roten Kreuz zuwandte. Die beiden hatten eine gemeinsame Tochter, Dora Gauger, die wiederum durch ihre Heirat mit Reinhold Haas den letzten Zweig der Familie Haas in die Familie Gauger eingliederte.

Martin Gauger promovierte 1933 zum Dr. iur. und begann danach als Rechtsassessor am Landgericht Wuppertal. Ausschlaggebend ist aber sein Widerstand gegen das Nazi-Regime. Dieser begann 1934, mit der Weigerung, einen Treueeid auf Hitler zu leisten. Martin war der Meinung, dass Treue und Gehorsamkeit gegenüber Menschen, die ihrerseits an kein Gesetz gebunden sind, nicht rechtmäßig seien. Er schloss sich der Bekennenden Kirche an und verfasste mehrere Dissertationen gegen die Irrlehren verbreitende offizielle Kirchenleitung. 1939 widersetzte er sich der Militär-Musterung und flüchtete 1940 über den Rhein in die Niederlande, wo er jedoch nach deren Kapitulation verhaftet und wenig später in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt wurde. Dort wurde Martin Gauger 1941 im Rahmen der Aktion T4 ermordet. In seinem Angedenken wird bis heute in NRW der Martin-Gauger-Preis in einem Schülerwettbewerb zum Thema Menschenrechte vergeben.

Obwohl viele Mitglieder der Familie Gauger im theologischen Bereich tätig waren, enthält der Nachlass nicht wie übliche Pfarrnachlässe Predigtsammlungen und theologische Traktate, sondern ist durch die vielen enthaltenen Biographien vielfältig und reich an Bildmaterial. Neben Stammbäumen finden sich auch persönliche Besitztümer der Betroffenen, wie z.B. der Hochzeitsschmuck der Peters oder Zeichenmappen von Traugott Gauger. Der Nachlass beschäftigt sich nicht nur mit dem Werdegang der einzelnen Personen, sondern auch mit ihrer Lebensgeschichte, wodurch ein lebendigeres und “authentischeres” Bild ihrer Zeit entsteht. Damit ist der Nachlass zwar kein klassischer Fall für ein Kirchenarchiv, aber dennoch hochinteressant und unterhaltsam – und aufgrund der Verstrickungen der Gaugers in viele Bereiche (von der Kolonialisierung Afrikas über die NS-Zeit bis hin zur diakonischen Organisationsgeschichte) auch kirchengeschichtlich relevant.
Der Familiennachlass Gauger trägt die Signatur LKAS, D 180, hat eine Gesamtlaufzeit von 1816 bis 1983 (2011) und umfasst 0,1 lfd. m. Die Erschließungsdaten sind über unser Online-Findbuch recherchierbar.

Blogbeitrag zur Geschichte des Diakonischen Werks Württemberg

25. März 2020 | |

Einen Überblick über die Geschichte des Diakonischen Werks Württemberg befindet sich nun auf Württembergische Kirchengeschichte Online. Das Diakonische Werk Württemberg besteht unter diesem Namen seit 1970 und ist aus den beiden Säulen „Landesverband der Inneren Mission in Württemberg“ und „Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Württemberg“ hervorgegangen. Der Landesverband der Inneren Mission wurde vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 gegründet, das Hilfswerk entstand nach dem Zweiten Weltkrieg im August 1945 als unmittelbare Folge von Krieg und Vertreibung. Beide Werke hatten es sich zur Aufgabe gemacht, aus christlicher Überzeugung für Notleidende zu sorgen. Unter dem Dach der Inneren Mission versammelten sich neben Vereinen und Verbänden wie z.B. der „Evangelische Verband für die weibliche Jugend“, verschiedene Einrichtungen, die aus der Kinderrettungshaus-Bewegung, der Krankenpflege oder Gefährdetenfürsorge kamen. Das Hilfswerk kümmerte sich um Flüchtlinge und Vertriebene, baute Kinder-, Jugend- und Altenheime, und versuchte Kriegsversehrten eine Perspektive durch arbeitstherapeutische Maßnahmen in speziell erbauten Versehrtenheimen zu ermöglichen. Da beide Werke in ähnlichen Arbeitsfeldern tätig waren, wurde 1950 die „Arbeitsgemeinschaft der diakonischen Werke in der Evangelischen Landeskirche Württemberg“ gegründet und somit die Weichen für eine spätere Fusion gestellt. Das Hilfswerk engagierte sich in einer Patenschaft mit der Thüringer Landeskirche, baute in Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen Siedlungswerk zahlreiche Wohnungen und Häuser für Flüchtlinge und Vertriebene. Zudem kamen für die in den 1960er Jahren angeworbenen Gastarbeiter Sprachkurse hinzu, die eine Integration in die westdeutsche Gesellschaft erleichtern sollten. Mit der Fusion zum Diakonischen Werk zum Jahresbeginn 1970 wurden die traditionsreichen Arbeitsgebiete der Gemeindekrankenpflege, Erziehungs-, und Altenhilfe weiter ausgebaut. Hinzu kamen die Bereiche der Betreuung von Zivildienstleistenden und Initiierung von Fortbildungsmaßnahmen für Mitarbeitende.

Im Dachverband des Diakonischen Werks Württemberg sind heute, im Jahr 2020, 1400 Einrichtungen angeschlossen. Dabei werden 270 000 Menschen in Beratungsstellen und Heimen betreut. Für die Hilfe bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, die Pflege von alten und behinderten Menschen, die Betreuung von Wohnungslosen und Suchtkranken ist das Diakonische Werk Württemberg heute genauso wichtig wie damals ihre Vorgängerinstitution, die Inneren Mission, vor mehr als 100 Jahren.