Ungewöhnliche Beerdigung mit Liedern
Am 6. August 1759 starb Johann Bernhard, der Sohn des Witticher Farbmeisters Sigmund Christian Mayer und dessen Ehefrau Juliana, und wurde am 8. August 1759 in Reinerzau beerdigt. Wie der Pfarrer selbst im auf Lateinisch verfassten Schlusssatz des Todeseintrages angegeben hatte, war die Beerdigung des Johann Bernhard eine ungewöhnliche Zeremonie, weshalb er eine ausführliche Beschreibung derselben als Erinnerung für Zukünftige notiert hatte. Der Eintrag lautet wie folgt:
„Herrn Sigmund Christian Mayern, Farb-Meistern auf der benachbart Witticher Farb-Mühle ein Söhnlein, namens Johann Bernhard, an Gichter gestorben, welche ihn plözlich unvermuthet in 19 – 20 Stunden seines Lebens beraubten, aetatis [= seines Alters] 9 Jahr 11 Monath 2 Tag. Es kam auch ein Schlag- und Stek-Fluß darzu. Erat natus [= er wurde geboren] den 4. Septembris 1749, er sang den 4ten abends vor Schlafengehen noch aus eigenem Drieb, mit innigster Herzens-Raegung die 3 Lieder (deren er sehr viele auswendig kunnte, und sehr gluklich in Erlernung derselben war) ‘ach! wie nichtig, ach! wie flüchtig ist der Menschen Leben‘ etc. ‘Sey getreu in deinem Leiden, laße dich kein Ungemach‘ etc. und ‘ach! alles was Himmel und Erden umschließet‘ etc. Die beede erstere Lieder wurden rogatu parentum [= auf Wunsch der Eltern] bei der Leiche gesungen, und das leztere auf der Eltern Begehren nach geendigter Parentation [= Grab- oder Leichenrede] vorgeleßen vom Pastore in dieser Ordnung. Weilen es stark und anhaltendes Regenwetter war, so wurde die Leiche unter Absingung des Liedes: ‘ach! wie nichtig ach! wie flüchtig‘ in die Kirche getragen, und vor dem Altar niedergesezet; darauf hielte Past[ore] die Parentation, und verlaß cum conexione [= in Verbindung] mit derselben das Lied: ‘ach! alles was Himmel und Erden umschließet‘ etc. Darauf wurde die Leiche wieder aufgehoben und unter begehrter Absingung des Liedes: ‘Sey getreu in deinem Leiden‘ wieder aus der Kirche hinaus und zu Grabe gebracht. Als sich der Leichen-Convent wider in die Kirch zurukbegeben, wurden 4 Verse von dem Lied: ‘Ich sterbe täglich und mein Leben geht näher zu dem Grabe hin‘ etc. abgesungen, und darauf eine Bettstund mit Verlesung des XC. [Psalm] gehalten. Propter cerimonias has, h.l. alias insolitas, pastor hac in memoriam futurorum temporen […] annotare voluit.“
Diese Beerdigung wich wohl deutlich vom sonst üblichen Ritus ab. Aber nicht nur die Zeremonie war ungewöhnlich, sondern auch der Eintrag selbst ist es. Selten findet man in den Kirchenbüchern zu einem Kind mehr Information als die Angaben der Eltern, des Namens, des Geschlechts und des Alters. Dass der Pfarrer die Leidenschaft des Johann Bernhard für das Singen so genau beschrieben hat, dürfte so gut wie einmalig sein. Auch die detaillierte Beschreibung der Zeremonie ist äußerst selten.
Die im Todeseintrag angegeben Krankheiten Gichter, Schlag- und Steckfluss sind in Todeseinträgen der damaligen Zeit oft als Todesursache genannt. Mit Gichter wurden verschiedene meist krampfhafte Krankheitserscheinungen bei Kindern, deren Ursachen sehr verschieden sein konnte, bezeichnet. Unter einem Schlagfluss ist meist ein Gehirnschlag oder Schlaganfall, mit Steckfluss das Asthma bronchiale gemeint.
Musik- und sozialgeschichtlich interessant dürfte die Nennung der Lieder sein und die Erkenntnis, dass sie auch an dem von den großen Städten und Bildungseinrichtung des Herzogtums doch weit entlegenen Ort im Schwarzwald bekannt waren und selbst von einem 9-jährigen Jungen gekonnt und gesungen wurden.
Zum Verständnis der im Todeseintrag gemachten Angaben sind noch die bergbaulichen und konfessionellen Verhältnisse um Reinerzau zu erklären. Südwestlich von Reinerzau liegen die Täler Kaltbrunn und Wittichen, die damals zum Fürstentum Fürstenberg gehörten. In den Bergwerken in Wittichen wurde u.a. Kobalt abgebaut, das in einer Farbmühle zur Farbherstellung (Cobaltblau) zermahlen wurde. Interessanterweise wurde die Farbmühle ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von württembergischen Kaufleuten finanziert. Das Fürstentum Fürstenberg hatte, wie auch das Herzogtum Württemberg, zur Förderung des Bergbaus erfahrene Bergleute aus anderen Bergbauregionen, z.B. dem sächsischen Erzgebirge, das evangelisch geprägt war, angeworben. Da das Fürstentum katholisch war, waren die evangelischen Bergleute in den genannten fürstenbergischen Tälern bei der benachbarten evangelisch-württembergischen Pfarrei in Reinerzau eingepfarrt.
Anmerkung
Die Titel der Lieder sind in der Transkription mittel Hochkommas (‘) hervorgehoben, der Pfarrer hatte diese nicht verwendet.
Quelle
KB Reinerzau, Totenregister 1747-1812, S. 10
KB Reinerzau, Taufregister 1558-1815, S. 176
Gemeinde Schenkenzell: Silber und Kobalt – Die Geschichte des Bergbaus in Schenkenzell und Umgebung
Liedtexte und weitere Informationen
https://hymnary.org/text/ach_wie_nichtig_ach_wie_fluechtig
https://hymnary.org/text/sei_getreu_in_deinem_leiden_lasse_dich_k
https://hymnary.org/text/ach_alles_was_himmel_und_erden_umschlies
https://hymnary.org/text/ich_sterbe_taglich_und_mein_leben
Hörbeispiele (youtube)
J.S. Bach – Kantate BWV 26 Ach wie flüchtig, ach wie nichtig | 1 Chorus (J. S. Bachstiftung)