Kisten, Bücher, Akten – als das Archiv der Ulmer Münsterbauhütte 2016 in das Landeskirchliche Archiv Stuttgart überführt wurde, war klar, dass damit viel Arbeit auf die Archivmitarbeiterinnen des Landeskirchlichen Archivs zukommen würde. Zu diesem Zeitpunkt konnte man allerdings noch nicht ahnen, welche enormen Herausforderungen die Erschließung mit sich bringen würde.
Doch die Arbeit hat sich gelohnt. Beispiele wie die Wiederherstellung des Chorgewölbes nach dem Bombeneinschlag vom 1. März 1945 oder der Restaurierung des Schmerzensmannes vom Hauptportal des Ulmer Münsters 1974 nehmen jede/n Nutzer*in in Wort und Bild anschaulich mit in das Münster und seine Bauhütte. Näheres dazu können Sie auf unserem Onlineportal „Württembergische Kirchengeschichte Online“ nachlesen.
Nun ist das Projekt abgeschlossen und das Archiv kann von allen Forscher*innen und Interessierten genutzt werden. Zusammen mit den im Stadtarchiv Ulm verwahrten Überlieferungen und der Plansammlung, die sich noch in der Münsterbauhütte befindet, lässt sich nicht allein die Baugeschichte des Gotteshauses mit dem höchsten Kirchturm der Welt in großen Teilen rekonstruieren, sondern man bekommt darüber hinaus auch einen beeindruckenden Einblick in den Baubetrieb der Münsterbauhütte mit ihren vielfältigen Aufgaben und ihren gesellschaftlichen und sozialen Strukturen. Insgesamt bietet das Archiv mit seiner herausragenden Überlieferungsdichte insbesondere in Bezug auf die Fertigstellung des Ulmer Münsters ein hohes Potenzial für zukünftige Forschung und stellt auf diese Weise eine Besonderheit dar, die in dieser Gesamtheit nur selten zu finden ist.
Die Auswanderung nach Südrussland in den Jahren 1816 und 1817 war die erste Massenemigration des 19. Jahrhunderts. Sie ist insofern aktuell geblieben, als um das Jahr 2000 sehr viele Russlanddeutsche aus Kasachstan in die Bundesrepublik Deutschland kamen. Dabei handelt es sich um Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs aus Südrussland nach Kasachstan umgesiedelt worden waren. Die älteren Leute hatten ihre deutsche Kultur bewahrt, aber die jüngeren Menschen kamen vorwiegend aus wirtschaftlichen Motiven nach Deutschland. Fast 200 Jahre nach der Auswanderung wurde also die Einwanderung wieder aktuell. In der Bundesrepublik sah man sich mit Immigranten konfrontiert, von denen nur noch ein Teil einen Bezug zur deutschen Kultur hatte. Da sich die deutschsprachige ältere Generation eine enge Bindung zur Kirche bewahrt hatte, sahen sich auch die evangelischen Kirchengemeinden vor die Aufgabe gestellt, diese Migranten aufzunehmen und so weit wie möglich zu integrieren.
Wie war es im frühen 19. Jahrhundert zu dieser Migrationswelle gekommen? Nach anderthalb Jahrzehnten der Kriege, der Missernten und des Mangels fiel 1816 die Ernte vollkommen aus. Im Vorjahr war der Vulkan Tambora in Indonesien ausgebrochen und hatte Unmengen von Asche in die Atmosphäre geschleudert. Im folgenden Jahr vernichteten Kältewellen und Starkregen die Früchte auf den Feldern. Ein in Württemberg geltendes Auswanderungsverbot musste aufgehoben werden. Nach der Aufhebung brachen Tausende von Menschen nach Südrussland auf. Zar Alexander I., ein Bruder der württembergischen Königin Katharina, lockte die württembergischen Siedler mit der Vergabe von fruchtbarem Land, dem Versprechen, die Söhne vom Militärdienst zu verschonen, und mit Steuervergünstigungen. Er gestand den Gemeinden eine weitgehende Selbstverwaltung zu, wie man sie in Württemberg kannte. Viele Menschen sahen darin auch einen göttlichen Fingerzeig. In Ulm schifften sich die Auswanderer auf der Donau ein und fuhren hinab bis nach Ismail, kurz vor der Mündung des Flusses in das Schwarze Meer. Auf der langen, gefährlichen Reise starb fast die Hälfte der Emigranten. Auf manchen Schiffen brachen Krankheiten aus. Die Überlebenden mussten bei Ismail längere Zeit auf einem ehemaligen Schlachtfeld in Quarantäne verweilen. Sie waren unzulänglich untergebracht, und es brachen wiederum Seuchen aus, welche viele Opfer forderten.
Dort zogen die Siedlergruppen auf dem Landweg weiter. Einige ließen sich in Bessarabien nieder, andere reisten in die Gegend von Odessa auf der Krim, und eine dritte Gruppe zog noch weiter in die Gegend von Tiflis in Georgien. Dort entstanden deutsche Siedlungen. Freilich bewahrheitete sich auch hier die alte Redensart über Auswanderer: „Den Eltern der Tod, den Kindern die Not, den Enkeln das Brot.“. Trotz allen Fleißes der Siedler waren die Aufbaujahre äußerst hart.
Lange nahm man in der Forschung an, es seien fast ausschließlich Pietisten gewesen, die an eine baldige Wiederkunft Christi geglaubt hätten. Deshalb seien sie näher an Palästina herangezogen, welches damals nicht zugänglich war. Inzwischen setzt sich aber die Erkenntnis durch, dass die Mehrzahl der Emigranten aus wirtschaftlichen Gründen das Königreich Württemberg verließen. Freilich spielte die protestantische Religion eine wichtige Rolle: einerseits als verbindendes Element der Gemeinschaft, andererseits als ideelle Stütze in der Not. Organisiert waren die Auswanderergruppen in zehn sogenannten „Harmonien“, geleitet wurden diese Verbände von Anführern, die aus einem pietistisch-separatistischen Umfeld stammten. Es waren Männer darunter, die sich aus religiöser Überzeugung von der Kirche getrennt hatten. Aber in Russland wurden in den meisten Gemeinden evangelische Kirchen gebaut, so dass sich im Lauf der Zeit eine kirchliche Organisation mit Pfarrern und Schulmeistern entwickelte.
Das Leben in den deutschen Gemeinden gestaltete sich nicht einfach. In Kaukasien kam es zu Überfällen einheimischer Stämme auf einzelne Siedlungen, bei denen Einwohner ermordet oder verschleppt wurden. Die einheimische Bevölkerung blickte zum Teil neidisch auf die wirtschaftlich erfolgreichen und vorbildlich organisierten deutschen Kolonisten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wirtschafteten die deutschen Dörfer sehr erfolgreich. Fabriken und landwirtschaftliche Kooperativen produzierten und vertrieben ihre Erzeugnisse. Beispielsweise gab es in Georgien einen florierenden Weinbau. Es entstanden auch höhere Schulen, Lehrerbildungsanstalten und Pfarrseminare sowie kulturelle Einrichtungen.
Nach einigen Jahrzehnten waren die russischen Zaren nicht mehr gewillt, die Privilegien der deutschen Gemeinden aufrechtzuerhalten. Einerseits begegneten sie damit den Neidgefühlen der Einheimischen, andererseits wollten sie eine einheitliche russische Kultur durchsetzen. Das „Angleichungsgesetz“ aus dem Jahre 1871 sorgte dafür, dass der Sonderstatus der Kolonisten allmählich aufgehoben werden sollte. So wurden die Selbstverwaltungseinrichtungen aufgelöst, Russisch wurde Amts- und Schulsprache, der Militärdienst für die Söhne der deutschen Siedler wurde 1874 verpflichtend.
Während des Ersten Weltkriegs gerieten die Russlanddeutschen als Vertreter einer feindlichen Kultur unter Druck. Zar Nikolaus II. verbot den Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Dörfer aufgelöst und die Russlanddeutschen zwangsweise ins innere Russland umgesiedelt. Von dort aus kamen sie nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs in die Bundesrepublik Deutschland. Sie können also als repräsentativ für eine Minderheit angesehen werden, die ihr Land aus wirtschaftlichen Gründen verließ. Nach fast 200 Jahren kehrte ein Teil von ihnen wieder in das Land ihrer Ahnen zurück, nachdem die ältere Generation noch im Geist der deutschen Kultur lebte.
„Tun Sie ihre Arbeit mit Liebe. Dann wird sie gut.“ Diesen Leitsatz hat Johanna Binder an viele junge Frauen weitergegeben und hat ihn in ihrem Leben am meisten doch selbst beherzigt.
Fast fünfzig Jahre lang hat Johanna Binder mit ihrer Arbeit die textilen Kirchenausstattungen der württembergischen Landeskirche geprägt. Als Leiterin der Paramentenwerkstatt beriet sie unzählige Kirchengemeinden bei der Anschaffung liturgischer Altar-, Taufstein- und Kanzelbedeckungen, die sie dann nach Entwürfen von Künstlern mit ihren Weberinnen und Stickerinnen in hoher handwerklicher Qualität herstellte.
Johanna Binder war schöpferisch begabt und als gelernte Damenschneiderin durchaus erfolgreich. 1919 wurde sie „Lehrmeisterin“ der neu eingerichteten Fachklasse für Mode an der Württembergischen Staatlichen Kunstgewerbeschule – der heutigen Kunstakademie. Doch die Aussicht auf eine Karriere in der Modebranche schlug sie aus. Als 1924 der Bund Evangelischer Frauen beabsichtigte, mitten in der Inflation eine Evangelische Frauenarbeitsschule in Stuttgart zu gründen, und Johanna Binder bat, die Leitung zu übernehmen, sagte sie kurzerhand zu.
Evangelische Frauenarbeitsschule
Junge Mädchen sollten dort nach dem Schulabschluss in Sticken, Kleider- und Weißnähen unterrichtet werden, um sich für ihre zukünftige Rolle als Hausfrau und Mutter zu qualifizieren.
Der evangelische Charakter der Schule wurde durch Morgenandachten und Vorträge über diakonische Themen gepflegt. In der Wirtschaftskrise waren mehrere städtische Nähschulen geschlossen worden, so dass der Zulauf zu der evangelischen Einrichtung mit Zentrale in der Furtbachstraße groß war. Schon im zweiten Schuljahr unterrichteten 19 Lehrerinnen in 9 Zweigstellen rund 400 Schülerinnen.
Bis in die 1930er Jahre war der Schule eine „Werkstätte für künstlerische Frauenkleidung“ angegliedert, wo individuelle und zeitgemäße Kleidung entworfen und gefertigt wurde. In Vorträgen, Zeitungsartikeln und Rundfunkbeiträgen klärte Johanna Binder unermüdlich Frauen über körperfreundliche Bekleidung, gut durchlüftete Leibwäsche oder die Schäden enger Strumpfbänder auf und referierte über Stilfragen: „Wer guten Geschmack hat, vermeidet Sinnlosigkeit, unechten Glanz und Flimmer“. Sie war überzeugt, „dass in gediegener Schlichtheit, in gutem Material und guter Arbeit Vorzüge liegen, die die Persönlichkeit eines Menschen weit besser unterstreichen.“ (Vortragstyposkript 1931)
Paramente zum Schmuck der Kirchen
Ein fertiges Parament
Noch im Gründungsjahr der Schule 1919 war auf Anregung des Vereins für christliche Kunst zusätzlich eine Paramentenwerkstatt angegliedert und ebenfalls unter die Leitung von Johanna Binder gestellt worden. Anfangs arbeitete man noch mit Tuch, Borten und Fransen. Als es in Deutschland eine Neubesinnung über Sinn und Zweck in der evangelischen Paramentik gab, machte Johanna Binder diesen Wechsel mit und erlernte, neben ihren vielfältigen Leitungsaufgaben, Spinnen von Flachs und Wolle, Färben mit Pflanzen, Weben und komplizierte Sticktechniken. Wertigkeit und „Echtheit des Materials“ waren für sie fortan Standard. 1938 legte sie mit Auszeichnung eine zweite Meisterprüfung ab und konnte nun in ihrer Werkstätte Fachkräfte ausbilden.
Nach ihrer Auffassung lag die Basis guter Paramentik in der engen Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Ausführenden, und so produzierte sie gemeinsam mit namhaften Kunstschaffenden über viele Jahre hinweg anspruchsvolle Werke.
Entwurf eines Frauenbeffchens
Zur Produktpalette der Paramentenwerkstatt gehörte auch die Amtstracht für die Geistlichen. Bei der Einführung der Frauenordination 1968 war Johanna Binders Rat zur Form des Talars und des Baretts für die Pfarrerinnen sehr geschätzt. Zuvor hatte sie schon ein spezielles Frauenbeffchen entwickelt, das sich allerdings langfristig nicht durchsetzte.
Als Johanna Binder 1970, mit 74 Jahren, in den Ruhestand ging, konnte sie auf ein Berufsleben zurückblicken, das sie in der ganzen Vielfalt ausgefüllt hatte: Da war die Verantwortung für Angestellte, Auszubildende und Schülerinnen, ihre Zähigkeit und Improvisationskunst in wirtschaftlicher Not und Krieg, weite Beratungsreisen über Land und Fußmärsche mit schwerem Gepäck, ihr notwendiges Einfühlungsvermögen in die jeweiligen Kirchenräume, Verhandlungsgeschick, kreative Gestaltungsprozesse, Überzeugungskunst für würdige Ausstattungen….
Ihr begeistertes Engagement für die Paramentik hat Johanna Binder als diakonischen Auftrag verstanden. Den Weg dorthin eingeschlagen zu haben, hat sie nach eigenem Bekunden nie bereut.
Zerstörung und Neubeginn
Neubau in der Furtbachstraße 1956
Bei einem Bombenangriff im September 1944 wurden sämtliche Unterrichts- und Werkstatträume zerstört. Nach dem Krieg machte sich Johanna Binder mit ungebrochenem Mut an den Wiederaufbau. Nach etlichen Interimsstationen konnte sie schließlich 1949 in Stuttgart eine alte Arbeitsdienstbaracke auf dem Ruinengelände hinter des Hospitalkirche aufbauen. Das Schweizer Hilfswerk stiftete zusätzlich zwei neuen Baracken für den Unterricht der Frauenarbeitsschulen. Erst im Oktober 1956 konnten die Frauenarbeitsschulen mit der Paramentenwerkstätte nach einem Neubau an ihren ehemaligen Ort in die Furtbachstraße zurückkehren.
QUELLE:
Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bestand P 50, Paramentenwerkstatt der Evangelischen Frauenarbeitsschulen Stuttgart.
HINWEIS:
Abb.: Seit der Schließung der landeskirchlichen Paramentenwerkstatt im Jahr 1997 wird die Arbeit an hochwertigen Paramenten und textilen Behängen durch die Werkstatt Knotenpunkt in Backnang fortgesetzt.
Johanna Binder bei der Arbeit, 1960er Jahre
Johanna Binder mit ihren Mitarbeiterinnen, 1960er Jahre
Johanna Binder mit dem für das Spinnen zuständigen Mitarbeiter, 1960
Zum 40. Werkstattjubiläum 1964 platzierte ein Künstler Johanna Binder im Zentrum eines Farbenfrohen Baumes
Entwurf für einen Altarbehang, Reinhard Heß
Wandteppich 1955, Stickerei auf handgewobenem Leinen, Dornenkrone mit Blutstropfen, Entwurf Robert Eberwein.
Vortrag über moderne Kleidung, 1931
Johanna Binders Arbeitskarte der Militärregierung, Juni 1945
Aufruf zur Spendensammlung für die Baracke bei der Hospitalkirche 1949
Die Mitarbeiterinnen legen beim Einrichten der Baracke selbst Hand an.
Die Stammbelegschaft vor der fertigen Baracke
„Lustiges und Bedenkliches“ aus dem Arbeitsalltag der Paramentenwerkstatt. Erinnerungen der Nachfolgerin Johanna Binders, Erna Schlotterbeck, aufgezeichnet 1985.
Upcycling ist heute groß in Mode: Altes wird zu Anderem umgestaltet und bekommt so neuen Wert. Diese Art von Nachnutzung ist ressourcenschonend und bringt oft verblüffend fantasievolle Dinge hervor.
In Krieg und Nachkriegszeit, als in weiten Bereichen Materialknappheit herrschte, waren solche Umgestaltungen notwendiger Bestandteil des Alltags – meist waren die Ergebnisse nicht weniger kreativ.
Im Landeskirchlichen Archiv befindet sich ein Leinenschlafsack der Jugendherberge Überlingen. Doch als solcher kam er nicht In die Museale Sammlung, vielmehr als Altarbehang, der in einem französischen Kriegsgefangenenlager verwendet worden war.
Mitgebracht hatte ihn der württembergische Pfarrer Karl Knoch (1894-1976), der bis Ende 1945 Kriegsgefangener im OFLAG 163 in Larzac/Frankreich war. Dort als Lagerpfarrer eingesetzt, musste er erst einmal die gottesdienstliche Ausstattung beschaffen. Für die Gestaltung des Altartuchs skizzierte Karl Knoch kurzerhand Wasser in Kreuzform und das Christusmonogramm – Symbole für Taufe, Tod und Auferstehung. Der Jugendherbergsschlafsack fand sich als Tuch, die Reste eines aufgelösten Bodenteppichs wurden als Stickgarn requiriert. Für die Ausführung der Stickerei konnte er einen ehemaligen Marinearzt gewinnen, der in Kriegszeiten sicher schon manchen Verletzten zusammengeflickt hatte.
Mit Geschichte aufgeladene Objekte
Das Altartuch mit seinem auf der Rückseite sichtbaren Stempel „Eigentum der Schwäbischen Jugendherbergen“ ist zusammen mit den Informationen zu seiner Entstehung ein besonderes Objekt. Solche sichtbaren und unsichtbaren Hintergründe werden in der Regel bei der Aufnahme in die Museale Sammlung und beim Verzeichnen in der Datenbank vermerkt. Über ihre Dinglichkeit hinaus werden Objekte so wertvolle Zeugnisse der Geschichte, die späteren Generationen Einblick in frühere Lebenswelten geben können.
Als ich für die Hintergrundinformationen die Angaben zum Kriegsgefangenenlager in Larzac im Internet überprüfte, stieß ich zufällig auf eine Online-Dokumentation, die ehemalige Lagerinsassen zusammengestellt hatten. Wie elektrisierend war der Moment, als ich dort ein Foto aus der Lagerkappelle entdeckte, auf dem das Altartuch abgebildet war, das ich in diesem Moment in den Händen hielt!
Pfarrer Karl Knoch kehrte nach der Gefangenschaft in seine Gemeinde in Esslingen-Wäldenbronn zurück. Ab 1949 war er bis zu seinem Ruhestand 1958 Dekan in Geislingen/Steige.
Der geschichtsträchtige Altarbehangs kam über seinen Sohn Werner Knoch (1928-2020), ebenfalls Pfarrer und 1980-1994 erster Leiter des Einkehrhauses Urach, ins Landeskirchliche Archiv Stuttgart.
Es gibt bis heute in Wilhelmsdorf keine evangelische Kirche. Mittelpunkt der Gemeinde ist ein heller Saal ohne jeden Schmuck, aber auch ohne Altar und Kanzel. Nur eine Orgel befindet sich im Saal. Schon diese architektonische Gestaltung weist auf den Charakter der Gemeinde als Brüdergemeinde hin. Der Gottesdienst wird nicht vom Pfarrer dominiert, sondern von der Gemeinde gestaltet. Der Saal ist auf den Brüdertisch ausgerichtet, an dem mehrere Personen sitzen und den biblischen Text auslegen. Früher konnten nur Männer in den Brüdergemeinderat gewählt werden, aber heute sind die Frauen gleichberechtigt, obwohl das Gremium seinen Namen behalten hat.
Der Betsaal wurde vier Jahre nach der Begründung der Siedlung gebaut. König Wilhelm I. von Württemberg, nach dem die Siedlung benannt wurde, stiftete nicht nur das Bauholz, sondern nach der Einweihung des Betsaals noch eine Orgel. Auch in der äußeren Architektur spiegeln sich die theologischen Überlegungen wider. Der Saal hat vier Eingänge, die nach den vier Himmelsrichtungen ausgelegt sind. Über den vier Türen sind Engel mit Posaunen als metallene Figuren zu sehen. Auf der Spitze steht das Lamm Gottes. All dieses nimmt Bilder aus der Johannesapokalypse oder der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, auf.
Die württembergischen Pietisten wollten mit ihrer Siedlung auch schon äußerlich ihre religiösen Überzeugungen zum Ausdruck bringen. Deshalb legten sie die Siedlung planmäßig an, indem sie die Wohnhäuser kreisförmig um den Betsaal bauten. Kein Wohnhaus sollte höher sein als das andere, damit sich die eine Familie nicht über die andere erheben konnte. Lange Zeit gab es kein Gasthaus am Ort, weil man den übermäßigen Alkoholgenuss und das Kartenspiel um Geld verabscheute. Dagegen spielte der Handel bald eine wichtige Rolle, weil die Kaufleute am Ort als ehrliche Leute galten und in einem guten Ruf standen. Vom Betsaal führen vier Straßen in der Form eines Kreuzes weg. So hat sich die Grundstruktur der ursprünglichen Siedlung bis heute erhalten.
Zweifelsohne war Wilhelmsdorf von der pietistischen Siedlung Herrnhut, einer Siedlung im Süden des Freistaats Sachsen, beeinflusst.
Wichtig ist die Bedeutung der Offenbarung des Johannes, weil die Pietisten fest damit rechneten, dass Jesus im Jahr 1836 wiederkommen würde. Das hatte der bekannte pietistische Theologe Johann Albrecht Bengel durch komplizierte Berechnungen aus der Bibel errechnet. Was heute etwas seltsam erscheinen mag, beschäftigte die Menschen damals sehr, auch deshalb, weil sie viel Not durchmachen mussten. Diese Erwartungshaltung wurde zu einer wichtigen Triebfeder der Siedlung Wilhelmsdorf, denn wenn das Ende der irdischen Welt nahe bevorstand, brauchte man eigentlich keinen äußeren Luxus mehr.
Beachten Sie auch den umfangreicheren Beitrag zum Thema auf Württembergische Kirchengeschichte Online.
In der Musealen Sammlung des Landeskirchlichen Archivs befinden sich mehrere historische Schaugläser mit Chinarinde aus verschiedenen Regionen der Welt. Die Rinde ist der Rohstoff für „Chinin“, das seit dem 17. Jahrhundert zur Therapie der Malaria verwendet wird. Malaria tritt vorwiegend in tropischen und subtropischen Klimazonen auf, wo sie durch den Stich einer weiblichen Stechmücke der Gattung Anopheles übertragen wird.
Um Tropenkrankheiten wie diese zu erforschen und zu bekämpfen, wurde im Jahr 1906 das Deutsche Institut für Ärztliche Mission (DIFÄM) gegründet. In Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen bereitete man Ärzte, Schwestern und Missionare auf ihren Auslandsaufenthalt vor und vermittelte neben medizinischem Basiswissen speziell auch Kenntnisse in Tropenmedizin. Für den Anschauungsunterricht baute das DIFÄM eine Lehrsammlung auf, aus der die Schaugläser stammen. In den Räumen der 1916 erbauten Tropenklinik (damals „Tropengenesungsheim“) informierte zusätzlich eine Ausstellung über die Erkenntnisse und Maßnahmen der Tropenmedizin in verschiedenen Regionen der Welt.
Das DIFÄM ist heute Träger der „Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus“ in Tübingen und der „Akademie für Gesundheit in der Einen Welt“. Inhaltliche Schwerpunkte sind die Prävention und Behandlung von HIV und Aids, Malaria, Tuberkulose und anderen Infektionskrankheiten. Das DIFÄM leistet Beratung und finanzielle Unterstützung für Projekte von Partnerorganisationen und ist engagiert im Verband entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisationen sowie in kirchlichen Netzwerken.
Noch immer sterben knapp eine halbe Million Menschen weltweit jährlich an Malaria. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist sie mit etwa 200 Millionen Erkrankten pro Jahr die häufigste Infektionskrankheit der Welt. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich die Therapiemöglichkeiten vervielfacht. Dennoch sind chininhaltige Präparate bis heute von Bedeutung.
Ein Impfstoff gegen Malaria schien lange Zeit nicht in Sicht. Mittlerweile scheint ein Durchbruch gelungen und ein Produkt befindet sich im Zulassungsverfahren.
Schaugläser mit Chinarinde aus Peru und Ecuador, um 1920 (Museale Sammlung, DIFÄM, Inv. Nrn. 13.093 und 13.094)
Malaria-Broschüre (Museale Sammlung, Nachlass Missionsarzt Lutz, um 1930, Inv. Nr. 10.121)
Ausstellung im „Tropengenesungsheim“ in Tübingen, um 1930 (DIFÄM, Bild 52 und 49). Hier: Tropenkrankheiten
Tropenbett und Rollmöbel
Die Tropenklinik um 1930 (DIFÄM, Bild 29)
Das Inventar des Bestands im Landeskirchlichen Archiv finden Sie hier.
Welch große Folgen ein kleines Virus haben kann, ist uns allen in den letzten Monaten deutlich geworden. Auch die hier in Schaugläsern gesammelten winzigen Tsetsefliegen haben es in sich: Sie übertragen die gefürchtete Schlafkrankheit, die in Afrika ganze Landstriche außer Gefecht setzt.
Um Tropenkrankheiten wie diese zu erforschen und zu bekämpfen, wurde im Jahr 1906 das Deutsche Institut für Ärztliche Mission (Difäm) gegründet. Die Initiative ging auf den christlich geprägten, sozial engagierten Stuttgarter Unternehmer Paul Lechler (1849 – 1925) zurück, der durch einen Missionsarzt der Basler Mission auf das Elend in Indien und anderen tropischen und subtropischen Ländern aufmerksam geworden war. Bereits 1909 konnte in Tübingen das Institutsgebäude des Difäm eingeweiht werden. In Kooperation mit der Universität wurden dort Ärzte und Pflegekräfte sowie Theologen der verschiedenen Missionsgesellschaften auf ihren Auslandsaufenthalt vorbereitet und in Tropenmedizin und medizinischem Basiswissen unterrichtet. 1916 wurde ein großes Genesungsheim für Tropenheimkehrer errichtet – das heutige Paul-Lechler-Krankenhaus, das als Spezialklinik für Tropenkrankheiten noch heute einen weit über Missionskreise hinausgehenden internationalen Ruf genießt.
Für den tropenmedizinischen Unterricht baute das Difäm früh schon eine Schausammlung auf. Neben dem Wissen über Krankheitserreger und Überträger beschäftigte man sich auch mit tropischen Heilpflanzen und medizinischen Rohstoffen sowie mit und Bräuchen und Heilpraktiken der jeweiligen Kulturen. Ein Teil dieser Anschauungsmittel aus der Epoche zwischen 1910 und 1930 kamen mit dem Archivbestand des Difäm im Jahr 2013 in die Museale Sammlung des Landeskirchliche Archiv Stuttgart.
Inv. Nr. 13.097 Schachtel mit gelben Harzbrocken; Deckel von Hand beschriftet: „Resina-Dammar“; „Vaterland: Ostindien, Hinterindien“. Dammar-Harz wurde u. a. für die Herstellung von Kaupastillen in der Tropenmedizin verwendet.
Inv. Nr. 13.074 „Guttapercha“ Pflanzenmodell mit Produktbeispiel in Schachtel mit Deckel; Botanische Bezeichnung. Jauch-Stein’sche Flora artefacta.
Inv. Nr. 13.100 „Fieberrindenbaum“. Ausländische Kulturpflanzen und farbige Wandtafeln, nach H. Zippel, bearbeitet von O. W. Thome, gezeichnet von Carl Bollmann; Verlag Friedrich Vieweg & Sohn, Braunschweig
Inv. Nr. 13.121 Schaukasten „Medizin der Kaffern“. Enthält 9 verschiedene Pflanzenteile mit Namen und Beschreibung der Anwendung und Heilwirkung, z. B. „Weißer Quirie: gegen Durchfall, wird getrocknet, gemahlen und mit kochendem Wasser übergossen.“ „Kaffer“ war damals ein Sammelbegriff für südafrikanische Völker, zunächst nur für die Xhosa später auch für andere Völker der Bantu-Sprachgruppe. Der Gebrauch des Wortes „Kaffer“ ist heute in Südafrika als Verunglimpfung eingestuft und verboten.
Inv. Nr. 13.120 Schaukasten „Bataksche Amulette“. Enthält 8 verschiedene Amulette mit Beschriftung der Schutz-, bzw. Heilfunktion, z. B. „Gegen Krämpfe bei Kindern. Aus Ziegenhaut gefertigt. Wird um das Hand- oder Fußgelenk getragen.“ Die Batak sind ein indigenes Volk im Norden der indonesischen Insel Sumatra.
Inv. Nr.13.096 Kästchen mit verschiedenen Tsetsefliegen (Glossina): Die Fliegen übertragen die Afrikanische Trypanosomiasis (Schlafkrankheit).
Wenn in einem Sterberegister ausdrücklich vermerkt wird, dass die Bestattung ohne die üblichen kirchlichen Zeremonien erfolgte, ist dies auf jeden Fall ein besonderer Umstand, der erklärungsbedürftig ist. Im Sterberegister von Mühlhausen an der Enz sind einige solcher Einträge vermerkt. So wurde Ferdinand Friedrich von Stein bzw. vom Stain (1696-1737) am 21. November 1737 nachts ohne kirchliche Zeremonien bestattet, wie auch seine Schwester Christina Louisa am 17. Mai 1750 und auch der ehemalige Warmbronner Pfarrer Christian Friedrich Cuhorst (1705-1750) am 28. April 1750. Bei allen drei Personen wurde im Sterberegistereintrag ausdrücklich vermerkt, dass sie sich dem Separatismus zugewandt hatten, also einem radikalen Pietismus, dessen Anhänger sich von der Amtskirche abwandten, da sie diese als zu verweltlicht ansahen. Bei Christina Louise wurde auch ihr zurückgezogenes, stilles und ihrer Glaubensrichtung entsprechendes eheloses Leben (in coelibatu) auf dem Schloss vermerkt.
Bei zwei weiteren Personen ist bekannt, dass sie ebenfalls Separatisten waren, nämlich Walrad Heinrich von Stein (-1746) und seinem langjährigen Hausvogt Johannes Wunderlich (-1752). Wunderlich scheint kurz vor seinem Tode den Wunsch geäußert zu haben, das heilige Abendmahl noch zu empfangen, so dass er am 6. April 1752 „christenlich zur Erden bestattet“ wurde, also eine gewöhnliche Beerdigung mit allen kirchlichen Zeremonien erhielt.
Der Sterbeeintrag für Walrad Heinrich hingegen ist sehr knapp gehalten. Schon dies ist für den Todeseintrag eines Ortsherren des reichsritterschaftlichen Fleckens eher ungewöhnlich, da ähnliche Sterbeeinträge im Mühlhausener Sterberegister ansonsten durch ihre Ausführlichkeit deutlich unter den sonstigen Einträgen herausragen und beim Durchblättern sofort ins Auge springen. Es mag aber vielleicht auch dem minimalistischen Stil des damals noch amtierenden Geistlichen geschuldet sein. Seine Abkehr von der Amtskirche wird zwar nicht genannt, aber die ungewöhnliche Art der Beerdigung ist dennoch eindeutig. Er wurde „nachts neben seinem Bruder begraben“.
Die Spielart des Separatismus, der sich die Adeligen im Mühlhausener Schloss zugewandt hatten, war eine Gruppierung, die man als „Inspirierte“ bezeichnet. Bereits 1729 besuchten die inspirierten Prediger Jonas Wickmark, Johann Friedrich Rock und Philipp Werner das Schloss. Zwei Jahre später fand in Mühlhausen unter der Obhut von Walrad Heinrich von Stein eine Inspirierten-Versammlung statt, an der auch der damalige Mühlhausener Pfarrer Brotbeck, wie auch aus den Nachbarorten die Pfarrer Rues (Dürrmenz), Gottlieb Seeger (Lomersheim), Georg Seeger (Friolzheim) und Johann Daniel Fulda (Möttlingen) teilnahmen. Ein Teil dieser Pfarrer wurde später entlassen, beziehungsweise versetzt. Als Brotbecks Nachfolger wurde der später als Liederdichter bekannte Pfarrer Philipp Friedrich Hiller (1699-1769) nach Mühlhausen versetzt, mit dessen Nomination die Kirchenleitung wohl eine Art Brückenschlag herzustellen suchte, zwischen der Ausrichtung des Pietismus, der sich im Rahmen der Amtskirche entwickelte und dem radikaleren Pietismus, der sich von der Amtskirche abwandte, wie er beim Ortsadel Anklang fand.
Eberhard Fritz, „Nicht sogleich wiederum zurück, sondern weiter und weiter!“ Die Inspirations-Reisen des Johann Friedrich Rock nach Württemberg und in südwestdeutsche Reichsstädte, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte, Band 115, Stuttgart 2015.
Karl Hittler: Familien in Mühlhausen an der Enz 1641 – 1920: mit älteren Nachweisen ab 1596, Mühlacker 2013.
Wir möchten auf eine Buchvorstellung am 19. März als Veranstaltung der Kirchengemeinde Oberesslingen hinweisen. Für das vorzustellende Buch ist auch in unserem Archiv recherchiert worden. Es geht um folgendes, im vergangenen Jahr erschienene Werk: Dr. Jörg Thierfelder, Hans Norbert Janowski, Günter Wagner: Gotthilf Schenkel. Pfarrer in Oberesslingen und SPD Mitglied. Vom religiösen Sozialisten zum Kultusminister.
Dass ein Pfarrer in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts SPD-Mitglied wurde, war nicht selbstverständlich. Nach ständigen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und seinem Pfarrdienst am Rand der Landeskirche kam Gotthilf Schenkel 1947 als Pfarrer nach Oberesslingen. Von 1951 bis 1953 war er Kultusminister und blieb bis zu seinem Tod der direkt gewählte Abgeordnete Esslingens im Landtag. 2020 ist Schenkels Biographie erschienen. Ihr Titel „Kirche – Sozialismus – Demokratie“ nennt, wofür Gotthilf Schenkel eingetreten ist. Die Verfasser Dr. Jörg Thierfelder, Hans Norbert Janowski und Günter Wagner werden vor allem Einblicke in Schenkels Konflikte mit dem Nationalsozialismus und in sein Engagement in Esslingen bieten.
Freitag, 19. März 2021 19.30 bis 21.30 Uhr
Evangelische Martinskirche Oberesslingen
Online-Teilnahme: https://youtu.be/AKeXqsR4sl8
Im Archiv finden sich immer wieder rätselhafte Dinge, deren Bedeutung sich nicht auf Anhieb erschließen lässt. So wie dieses nur 9 x 8 cm große Herz aus dem Nachlass einer Pfarrfamilie, das mit seinen Zahlen, Bildern und Symbolen etliche Fragen aufwirft: Handelt es sich um die Gabe zu einer silbernen Hochzeit, da dieses Herz mit silberner Folie umrahmt ist? Was bedeuten die Jahresangaben in Verbindung mit Ansichten von Gebäuden? Stellen sie etwa die Lebensstationen und Wohnhäuser einer Familie dar, die 23 ½ Jahre in einem Gebäude lebte, dann umzog und dort 1 ½ Jahre lebte und nach 25 Jahren Ehe wiederum ein neues Heim bezog? Unter den jeweiligen Gebäudeansichten sind Garnele, Fisch und Tannenbaum abgebildet. Tanne und Garnele gelten als Fruchtbarkeitsymbole, der Fisch als Symbol der Taufe. Leider finden sich keinerlei Erklärungen zu diesem Fundstück, so dass ein weiter Raum für Spekulationen bleibt.
Während amtliche Überlieferungen aus Pfarr- und Dekanatsarchiven meist vorgegebenen Aktenplänen folgen und daher selten wirkliche Überraschungen bergen, gestaltet sich die Überlieferung privater Nachlässe weit weniger homogen und ist von der Persönlichkeit dessen beeinflusst, der die Unterlagen gesammelt hatte. Im Nachlass der Familien Hermann, der derzeit verzeichnet wird, trifft die Überlieferung verschiedener Familienzweige ganzer Pfarrerdynastien aufeinander. Bedeutende Namen der württembergischen Pfarrerschaft wie Hermann, Faber, Wurm und Sapper finden sich hier wieder, doch bestehen durch Heirat auch Verbindungen zur Klavierfabrik Kaim aus Kirchheim/Teck und dem Münchner Kaim-Orchester.
Einen Gutteil der Überlieferung macht die Korrespondenz zwischen einzelnen Familienmitgliedern aus, die jedoch weit über Privates hinaus von der Amtstätigkeit der einzelnen Pfarrer und späteren Dekanen geprägt ist. Ergänzt wird dieser Nachlass durch einen umfangreichen Fotobestand mit Aufnahmen der jeweiligen Pfarrer, Dekane und Prälat Theodor von Hermann. Fotos aus einer Zeit, in der Fotographie nicht so selbstverständlich und massenhaft vorliegt wie heute.
Dass in einem solch umfangreichen Familiennachlass gelegentlich Skurriles auftaucht, ist nicht ungewöhnlich. Auch wenn das rätselhaft gestaltete Herz die erfahrene Archivarin erst einmal ratlos zurücklässt – hübsch ist es allemal!
Im Sterberegister von Mühlhausen an der Enz findet sich unter dem Datum 18. Juli 1746 als Todeseintrag für Christina Margaretha Baumgartner die Bemerkung „Caput ense capitatum est infanticida …“. Der lateinische Passus bezeichnet die Todesart, nämlich den Tod durch Enthauptung, und das Delikt der im Sterberegister eingetragenen: Kindsmörderin („infanticida“). Wie die Suche im Taufregister ergab, handelte es sich um eine zur Tatzeit achtzehnjährige Bürgerstocher des damals reichsritterschaftlichen Fleckens und um die Mutter eines am 27. August 1745 von ihr gleich nach der Geburt ermordeten Sohnes, dessen Tod ebenfalls im Sterberegister erscheint. Wie sich über eine einfache Recherche ergab, wurde über den Fall, der zu dem Todesurteil führte, in einem zeitgenössischen juristischen Werk ausführlich behandelt, das heute digital einsehbar ist. Das Urteil erfolgte im Namen der damaligen Ortsherren, der Herren von Stein.
Der Fall wirft ein Licht auf die sozialen Zwänge in der dörflichen Gemeinschaft aber auch darauf, welche Bedeutung es für die Familien hatte, dass man meinte, die Tochter möglichst wohlhabend verheiraten zu müssen. Das getötete Kind war die Frucht einer Liebesbeziehung der Mühlhausenerin mit Albanus Müller, einem jungen Mann aus dem Dorf, die sich um die Weihnachtszeit 1744 ereignet hatte. Zwar hielt er die Hand um sie an, aber etwa zur selben Zeit lag auch ein Eheinteresse von Friedrich Kientsch, dem Sohn des Feldmessers, vor, der aus vermögenderen Verhältnissen kam. Um sich diese in Aussicht stehende bessere Partie, auf die auch ihre Eltern drängten, nicht zu verderben, kam es zu der tragischen Tat, die bald ans Licht kam. Durch eine Obduktion des in einem Versteck beim Haus aufgefundenen Kindes durch den Mühlhausener Chirurgen Georg Friedrich Eulenfuß wurde ermittelt, dass der Tod nicht durch eine natürliche Ursache eingetreten war. Im peinlichen Verhör, – also unter der Folter – , gestand die junge Frau alles, plädierte aber auf mildernde Umstände, da sie sich durch ihre Eltern wie auch durch ihre Freunde unter Druck gesetzt gefühlt habe, die bereits im Dorf gemutmaßte Schwangerschaft zu verheimlichen.
Die Geschichte ist etwas anders gelagert als bei der von Johann Wolfgang von Goethe geschaffenen Figur des verführten, dann zur Kindsmörderin gewordenen und schließlich zum Tode verurteilten „Gretchens“, aber angesichts der Namensgleichheit (Margarethe) und des gleichen Zeitraums (18. Jahrhundert), liegt es doch nahe, den Eintrag im Kirchenregister in eine Beziehung zu der sehr bekannten und zentralen Figur aus dem „Faust“ zu setzen. Beide lebten in kleinen Verhältnissen und sahen sich durch die Situation einer ungeplanten Schwangerschaft überfordert, so dass sie das uneheliche Kind ermordeten.
Tatsächlich geht man davon aus, dass es ein reales Vorbild für die Gretchenfigur gab. Diese war allerdings nicht Christina Margaretha Baumgartner, sondern Susanna Margaretha Brandt aus Goethes Heimatstadt Frankfurt am Main, die 1772 bei der dortigen Hauptwache den Tod durch Enthaupten fand.
Zu einer literarischen Bearbeitung führte allerdings auch der Fall der jungen Mühlhausenerin. Der damalige Ortsherr Baron Walrad Heinrich von Stein (auch: vom Stain) wurde durch den Fall so bewegt, dass er am 28. August 1745, – dem Tag nach der Ermordung des Knaben -, ein etwa 20seitiges Klagelied verfasst hat, welches heute in der Handschriftenabteilung der Württembergischen Landesbibliothek aufbewahrt wird.
Damit beschäftigen sich am 5. März Christinnen auf der ganzen Welt.
Immer am ersten Freitag im März findet der Weltgebetstag statt und beleuchtet die Lebenssituation von Frauen eines anderen Landes. In diesem Jahr ist es Vanuatu – der Inselstaat im Südpazifik, der aus 83 Inselgruppen besteht. Jährlich wählen Frauen des ausgesuchten Landes Texte, Gebete und Lieder aus, und bringen Wünsche und Bedürfnisse sowie die eigene kulturelle Vielfalt mit ein. Nach dieser Liturgie wird in weltweiten Gottesdiensten auf 88 Sprachen in 108 Ländern gefeiert.
Der Weltgebetstag entwickelte sich in den letzten 130 Jahren zur größten christlichen Basisbewegung von Frauen. Unter dem Motto „Informiert beten – betend handeln“ engagieren sich Frauen dafür, dass Frauen und Mädchen überall auf der Welt in Frieden, Gerechtigkeit und Würde leben können.
Entstehung und Verbreitung in Deutschland
Seine Wurzeln hat der Weltgebetstag Nordamerika. Ab 1887 pflegten Frauen verschiedener Konfessionen in den USA und in Kanada unabhängig voneinander jährliche Gebetstage. Die Methodistinnen nahmen als erste Kontakt zu anderen Glaubensgemeinschaften auf und luden ein zum gemeinsamen Gebet. 1927 wurden Statements der Vision einer Weltgemeinschaft christlicher Frauen definiert und erstmalig zu einem ökumenischen Gebet weltweit aufgerufen. Das Echo war enorm: In China, Indien, Polen, Syrien und anderswo schlossen sich Christinnen an. 1929 feierten den Tag bereits Frauen in 30 Ländern, darunter neun europäische. In Deutschland waren es die international gut vernetzten methodistischen Frauen, die die Idee aufgriffen und sich beteiligten.
Zwei Methodistinnen waren es dann auch, die den Impuls nach dem Zweiten Weltkrieg ins besiegte Deutschland trugen. Die Amerikanerin Stella Dueringer-Wells, deren Mann bei der amerikanischen Zivilverwaltung im besetzten Berlin arbeitete und Luise Scholz, die Vorsitzende des Methodistischen Frauendienstes in Deutschland, besorgten kurzerhand eine Liturgie, ließen diese übersetzen und unter abenteuerlichen Bedingungen drucken. Am 22. Februar 1947 begingen 600 Frauen im zerstörten Berlin einen ökumenischen Weltgebetstagsgottesdienst. Amerikanische und englische Frauen der Siegermächte feierten gemeinsam mit deutschen Frauen trotz des Fraternisierungsverbotes einen zweisprachigen Gottesdienst – nach einer Liturgie, die eine indische Christin ausgearbeitet hatte. Ein Jahr später waren auch russische und französische Frauen aus den anderen Besatzungszonen dabei. Die Schrecken der Kriegserfahrung und die Hoffnung auf Frieden nährten den Wunsch nach Verbindung mit den christlichen Frauen der Welt und verschafften dem Weltgebetstag schließlich Eingang und breite Resonanz in Deutschland.
In die evangelische Frauenarbeit wurde der Weltgebetstag durch Antonie Nopitsch eingeführt. Als Leiterin des Bayerischen Mütterdienstes hatte sie ihn während einer USA-Reise und bei der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates in Amsterdam 1948 kennengelernt. Schon ein Jahr später wurde auf ihre Initiative hin die Gottesdienstliturgie gedruckt und 10.000 Exemplare deutschlandweit verschickt. Von da an wurden es jedes Jahr mehr.
Auch die Leiterin der Frauenhilfe in Württemberg, Gertrud Mohrmann, war sofort begeistert, als sie 1948 bei einer Tagung der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland erstmals vom Weltgebetstag hörte. Sie nutzte ihren Verteiler, um die Idee in Württemberg bekannt zu machen. Seither sind auch die Evangelischen Frauen in Württemberg (EFW) dabei.
Musik-CD zum Weltgebetstag 2012 (Malaysia), Landeskirchliches Archiv Stuttgart, K 38:
Fotos aus der WGT-Werkstatt Indonesien 1999, Landeskirchliches Archiv Stuttgart, K 38
Das ökumenische Team der württembergischen WGT-AG veranstaltet unter der Leitung der EFW regionale Vorbereitungstage. Die Teilnehmerinnen tragen anschließend die Impulse für die Gestaltung der Gottesdienste in die Bezirke und in die Gemeinden.
Foto Weltgebetstagsgottesdienst mit Logo im Hintergrund, Stuttgart 2007, Landeskirchliches Archiv Stuttgart, K 38:
Mottobändchen verschiedener Weltgebetstage, LKAS, Museale Sammlung, Nr. 18.082:
In früherer Zeit (wie auch in Einzelfällen heute noch) kam es leider manchmal vor, dass ein neugeborenes oder noch junges Kind ausgesetzt wurde. Hierfür gab (und gibt) es mehrere vermeintliche Gründe, wie z.B. Armut, eine zu hohe Kinderzahl, die „Schande“ eines unehelichen Kindes, die Zeugung des Kindes durch eine Vergewaltigung oder die Angst, der Verantwortung für ein Kind nicht gewachsen zu sein.
Eine Kindsaussetzung ist im Taufregister von (Bad) Liebenzell für den 1. Mai 1716 belegt. Das Mädchen wurde Christina Sibylla genannt. An der Stelle, an der normalerweise die Eltern angegeben wurden, ist folgendes zu lesen:
„infantis huius Parentes ignorantus [= die Eltern dieses Kindes sind unbekannt], dann es ist den 6. Aprilis, monntags früh unter dem allhießigen untern Statt-Thor gefunden worden. Weyl man aber nicht gewußt, ob es getaufft, so ist auf unterth[änigstem] Bericht der herrschaftliche Befehl ergangen, solches Kind unverzuglich zuer h[eiligen] Tauff zu bringen, der dann auch den 1. Maii drauff in der Catechisation vorgenommen worden.“
Dem Taufeintrag ist weder zu entnehmen, welcher Aufwand betrieben wurde, um die Eltern dieses Kindes ausfindig zu machen, noch in wessen Obhut es gelangte. Möglicherweise kam es in die Familie eines der vier Paten, Friedrich Benjamin Schönlin, Amtspfleger, Hannß Michel Dieffenbacher, Bürgermeister, Christina Barbara, die Ehefrau des Pfarrer Georg Ludwig Fischers, und Sibylla Agnes, die Ehefrau des Vogtes Böhm.
Die Verantwortlichen standen aber noch vor einem anderen Dilemma: Es war ihnen nicht bekannt, ob das Kind bereits getauft worden war. Jedoch war man damals der Ansicht, ein neugeborenes Kind „sey ein Kind der Sünden, des Zorns und Ungnad, und das ime nicht anders geholffen werden möge, dann das es durch den Tauff, auß Gott neu geborn, und von Gott an eines Kindstatt, von wegen unsers Herrn Jesu Christi, angenommen werde“, wie es bereits in der Großen Kirchenordnung vom 4. November 1559 festgalten war. Dies ist ein Grund, warum man darauf bedacht war, dass ein Kind spätestens am zweiten Tag nach der Geburt getauft wurde, und das Neugeborene, bei denen man annahm, dass sie wegen ihrer Schwachheit nicht mehr lange zu leben hätten, zuhause notgetauft wurden („Gähtaufe“). Jedoch durften die letztgenannten Kinder in der Kirche nicht ein zweites Mal getauft werden, sondern wurden der Gemeine nur vorgetragen, also ihre Geburt und Taufe bekanntgegeben. Der Großen Kirchenordnung ist hierzu zu entnehmen: „Hierauff das das heilig, hochwirdig Sacrament des Tauffs nicht geschendt, noch Gottes Wort, darbey gefüret, für ein Spot gehalten werde, soll es bey dem empfangnen Tauff beleiben, unnd nicht wider geteüfft werden.“ – Dies ist u.a. auch der Grund, warum die Wiedertaufe so vehement abgelehnt und die Täuferbewegung (Wiedertäufer, Anabaptisten) so radikal verfolgt und bekämpft wurden. – Die Verantwortlichen erstatteten über das Findelkind Bericht an die Obrigkeit, die als Antwort die Taufe des Kindes befahlen, was dann schließlich dann auch – mehr also einen Monat nach der Auffindung des Kindes – am 6. April 1716 im Rahmen eines Katechismusunterrichts („Religionsunterricht“) geschah.
Das weitere Schicksal der Christina Sibylla ist (leider) bekannt. Sie starb bereits am 16. Juli 1717. In wessen Obhut sie sich bis dahin befand, ist ihrem Todeseintrag ebenfalls nicht zu entnehmen, der Eintrag lautet nur: „Christina Sibylla, ein Fundelkind, so unter dem allhiesigen Thor gefunden worden“.
Exkurs: heutige Situation
In einen ähnlich gelagerten Fall käme in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg heutzutage übrigens § 3 Abs. 5 der Taufordnung mit der dazugehörigen Ausführungsbestimmung zu Anwendung (auch wenn das Eintreten eines solchen Falles heutzutage eher unwahrscheinlich ist):
„Muß nach den Umständen angenommen werden, daß keine oder keine gültige Taufe stattgefunden hat, so wird die Taufe vollzogen, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen.“
„Bestehen Zweifel an der Gültigkeit einer Taufhandlung oder ob überhaupt eine solche stattgefunden hat, so sind die näheren Umstände, vor allem die Taufformel, zu ermitteln. Nur wenn diese Ermittlungen die Annahme begründen, daß keine oder keine gültige Taufe stattgefunden hat, wird die Taufe gemäß Abs. 5 vollzogen.“
Zitate aus der Großen Kirchenordnung vom 04.11.1559: Reyscher, August Ludwig (Hrsg.): Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Achter Band. Enthaltend den ersten Theil der Sammlung der Kirchen-Geseze. Tübingen 1834, S. 174 und 179.
Bei der Ahnenforschung stößt man hin und wieder auf so genannte Tote Punkte, also Stellen in der Forschung, an den man mit den üblichen oder den in dem Moment bearbeitenden Quellen nicht mehr weiterkommt. So kommt es nicht selten vor, dass unter den Ahnen sich solche befinden, die von auswärts zugezogen sind, der Zuzug bzw. ihre Herkunft in den Quellen zu dem jeweiligen Ort, in denen man gerade forscht, jedoch nicht vermerkt ist. Hier hilft dann oft eine Umgebungssuche weiter, also die Recherche in den Quellen der umliegenden Orte.
Ein Beispiel hierfür ist die Familie des Weingärtners (Hans) Ulrich Esenwein auf dem zu Maulbronn gehörenden Elfinger Hof, die zum ersten Mal im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts in den Maulbronner Kirchenbücher auftaucht. Ulrich Esenwein hatte in Maulbronn sechs Kinder. Lediglich einer seiner Söhne gründete in Maulbronn bzw. auf dem Elfinger Hof eine eigene Familie, jedoch fehlt ausgerechnet von ihm der Hochzeitseintrag, aus dem möglicherweise die Herkunft seines Vaters hervorgegangen wäre – man steht hier also an einem eben beschrieben Toten Punkt.
Nun war es hilfreich, die Kirchenbücher, speziell die Eheregister der Umgebung auf Einträge zu den Esenweins zu untersuchen – und tatsächlich haben drei seiner Kinder im benachbarten Knittlingen geheiratet, 1722, 1727 und 1742. Gleich der erste Eintrag, der vom 10. Februar 1722, lieferte den entscheidenden Hinweis. Die Angabe zum Bräutigam lautet nämlich:
„Jacob Esenwein, Ulrich Esenweins, von Beutelspach, Schorndorffer Amts, dermahlen [= jetzt] Weingärtners auff dem Eylfinger Hof ehlicher Sohn“.
Ulrich Esenwein war also ein Weingärtner aus Beutelsbach, der mit seiner Familie nach Maulbronn zog, um in den dortigen Weinbergen zu arbeiten.
Dieses Beispiel zeigt, dass Tote Punkte leicht überwunden werden können, wenn man sich bei seinen Recherchen nicht nur auf eine Quelle beschränkt, sondern weitere heranzieht.
Eine ausführliche Beschreibung des eben kurz erläuterten Falls ist im Aufsatz „Die ersten Esenwein in Maulbronn und Knittlingen und ihre Herkunft aus Beutelsbach“ auf www.uwe-heizmann.de/esenwein.html zu finden und auch in gedruckter Form in den Südwestdeutschen Blättern für Familien- und Wappenkunde 37 (2019), S. 127 – 135 veröffentlicht.
Grundsätzlich könnte die bis hierhin gemachte Forschung Ausgangspunkt zu einer größer angelegten Forschung zu den Weingärtnern in Maulbronn und ihre Herkunft sein. Die Quellenlage hierzu wäre sehr gut. Von Maulbronn sind ab 1728 informationsreiche Seelenregister überliefert und stehen auch online auf Archion zur Verfügung. Im Hauptstaatsarchiv Stuttgart sind zudem im Bestand A 284/60 aufschlussreiche Aufstellungen („Consignatio“) über die Weingärtner vorhanden.
In der Grundschule in Ruit stand im Mai 2003 „Martin Luther“ auf dem Lehrplan im Religionsunterricht der dritten und vierten Klasse. Als die Kinder hörten, dass der Reformator ganz allein in seiner Studierstube auf der Wartburg gesessen und handschriftlich seine Übersetzung des Neuen Testamentes geschrieben hatte, waren sie sehr beeindruckt. Es schloss sich die Diskussion an, ob eine einzelne Person oder eine kleine Gruppe auch heute noch die Bibel in wenigen Wochen abschreiben könnte. Daraus entstand die Idee zu einer Wette. Die Lehrerin wettete gegen die beiden Klassen, dass sie es nicht schaffen würden, innerhalb von 6 Wochen eine Kinderbibel abzuschreiben. Als Preis winkte den beiden Klassen ein Sommerfest. Die Bedingungen waren: der Text sollte nach der „Bibel für die Grundschule“ auf weißen (von der Lehrerin zur Verfügung gestellten) Blättern abgeschrieben, die Initiale besonders gestaltet und außerdem ein passendes Bild dazu gemalt werden. Zuerst waren alle Kinder mit Feuereifer dabei. Aber als einige Blätter neu geschrieben werden mussten, da die Schreiber zu viele Fehler gemacht hatten und der heiße Sommer die Schüler vom Schreibtisch ins Freibad lockte, erlahmte das Interesse. Da war dann die Unterstützung von Geschwistern und Freunden gefragt, die noch das eine oder Kapitel übernahmen. Schließlich wurde der Text bis zum 2. Juli 2003 fertig und repräsentativ in blaues Leinen eingebunden. Zum Sommerfest lud die Klasse den damaligen Landesbischof Dr. Gerhard Maier ein, der dann auch nach Ruit kam, um den Kindern zur gewonnenen Wette zu gratulieren und eine Widmung in die Bibel zu schreiben.
Das Landeskirchliche Archiv hat seit einiger Zeit eine neue Scanstation im Einsatz. Wir hatten auf unserem Blog bereits darüber berichtet. Von Anfang an haben wir uns das Ziel gesetzt, häufig genutzte und aus konservatorischer Hinsicht gefährdete Unterlagen eigenständig zu digitalisieren und den Archivbenutzenden auch auf digitalem Wege unsere Bestände zugänglich zu machen. Vor allem durch die pandemiebedingten Ereignisse des letzten Jahres, wie die Einschränkung im Arbeitsalltag oder die temporären Schließungen unseres Archivs, deren Auswirkungen uns immer noch und vermutlich noch eine Weile begleiten werden, hat diese Scanstation nochmals an Bedeutung gewonnen. Daher haben wir uns dazu entschieden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch detaillierter in der Objekterfassung mit der Scanstation zu schulen. So können wir unser Angebot für unsere Archivbenutzenden erweitern und auch aus dem Homeoffice effektiv weiterhelfen. Diese Schulung hat vor kurzem bei uns stattgefunden. Nun sind wir in der Lage, neben Dokumenten, Büchern und Papierabzügen von Fotografien auch unsere Schätze aus der Musealen Sammlung und dem Bildarchiv richtig in Szene zu setzen. Fotoalben, Negative, Münzen, gerahmte Exponate oder andere dreidimensionale Objekte können ab sofort von uns bereitgestellt werden. Wir sind froh, unsere digitalen Unterlagen ergänzen und unseren Benutzerinnen und Benutzern damit auch ihre Recherchearbeit erleichtern zu können.
Hier eine Auswahl von Scans einer Gedenkmünze mit unterschiedlichen Belichtungseinstellungen:
Eine Lesung aus Feldpostbriefen (1940-1944) aus dem Bestand Landeskirchliches Archiv Stuttgart, L2 (Diakonenanstalt Karlshöhe), Nr. 6703 (Brüderakte Hans Röhm)im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart von Dorothea Besch und Sabine Tomas. Die Lesung wurde für den Tag der Archive des Jahres 2020 zusammengestellt.
Hans Röhm (1921-1944) Kurzbiografie und Einführung
Hans Röhm wurde am 25. August 1921 als 12. von 15 Kindern in Söhnstetten auf der Ostalb geboren (vgl. zu den biografischen Daten: LKAS, L 2, Nr. 6703, Personalakte Hans Röhm). Seine Eltern hatten einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb, in dem er mithelfen musste. Nach Beendigung der Volksschule 1935 verbrachte er seine Zeit auf verschiedenen Bauernhöfen als „Schweizer Bursch“, als Melker und Knecht. Von Jugend auf wollte Hans Röhm Diakon werden. Daher bewarb er sich an der traditionsreichen „Brüder- und Kinderrettungsanstalt Karlshöhe in Ludwigsburg, die seit 1876 bestand. In dieser Anstalt konnten sich junge Männer als “Brüder“ bzw. Diakone zum „Hausvater“ für Waisenkinder ausbilden lassen. Für die angehenden Diakone war die Kinderrettungsanstalt ein praktisches Übungs- und Lernfeld. 1879 kam das Männerheim, ein Pflege- und Altenheim, hinzu. Hier wurden die Brüder respektive Diakone während ihrer Ausbildung zum Krankenpfleger eingesetzt.
Für Hans Röhm erfüllte sich sein Berufswunsch, als er die Ausbildung zum Krankenpfleger im Männerheim der Karlshöhe am 1. Dezember 1938 begann. Mit der Aufnahme in den Karlshöher Brüderverband im Januar 1939 war Hans Röhm Teil der diakonischen Gemeinschaft, denn die Aufnahme in den Karlshöher Brüderverband wurde als Auszeichnung verstanden. Der Brüderverband war nicht nur eine Arbeitsgemeinschaft, sondern verstand sich vor allem als eine geistliche Gemeinschaft, die „in der Liebe Jesu Christi ihre Wurzel und im Mutterhaus ihren Mittelpunkt hat“. Die glücklichen beruflichen Umstände änderten sich mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Hans Röhm wurde eingezogen und wurde in Frankreich als Sanitätsgefreiter eingesetzt. Im Oktober 1940 schrieb er den ersten Feldpostbrief aus den Vogesen an den Direktor der Karlshöhe, Fritz Mössner. Fritz Mössner unterhielt mit Soldatenrundbriefen regen Kontakt zu den Karlshöher Brüdern an der Front. Die Korrespondenz mit Hans Röhm zeichnet sich dadurch aus, dass von Röhm von 1940 bis zu seiner Verwundung im Oktober 1944 viele Briefe an Fritz Mössner erhalten sind. Die Briefe zeigen einen naiven jungen Mann, der die Rolle des nationalsozialistischen Deutschlands nicht reflektiert, sondern sich seinem Schicksal ergibt. Röhm macht sich zwar Gedanken über den „bösen Russenkrieg“ und erkennt die Sinnlosigkeit des Krieges, verfällt jedoch in nationalsozialistischen Sprachduktus, wenn er von den „Terrorfliegern“ in der Heimat schreibt. In der Heimat wartete Röhms Verlobte Frieda L. auf ihren Hans. Auch von ihr existieren mehrere Briefe an Fritz Mössner, die in einer Auswahl vorgestellt werden. Frieda war zwei Jahre jünger als Hans und wohnte in Stuttgart-Münster. Sie war das einzige Kind ihrer kranken Eltern, die sie pflegte. Vermutlich haben sich Hans Röhm und Frieda Lindauer 1943 oder auch erst 1944 kennengelernt. Von den vorliegenden Feldpostbriefen wurde für den Tag der Archive eine Auswahl getroffen, die die Kriegssituation besonders verdeutlichen.
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Am 6. August 1759 starb Johann Bernhard, der Sohn des Witticher Farbmeisters Sigmund Christian Mayer und dessen Ehefrau Juliana, und wurde am 8. August 1759 in Reinerzau beerdigt. Wie der Pfarrer selbst im auf Lateinisch verfassten Schlusssatz des Todeseintrages angegeben hatte, war die Beerdigung des Johann Bernhard eine ungewöhnliche Zeremonie, weshalb er eine ausführliche Beschreibung derselben als Erinnerung für Zukünftige notiert hatte. Der Eintrag lautet wie folgt:
„Herrn Sigmund Christian Mayern, Farb-Meistern auf der benachbart Witticher Farb-Mühle ein Söhnlein, namens Johann Bernhard, an Gichter gestorben, welche ihn plözlich unvermuthet in 19 – 20 Stunden seines Lebens beraubten, aetatis [= seines Alters] 9 Jahr 11 Monath 2 Tag. Es kam auch ein Schlag- und Stek-Fluß darzu. Erat natus [= er wurde geboren] den 4. Septembris 1749, er sang den 4ten abends vor Schlafengehen noch aus eigenem Drieb, mit innigster Herzens-Raegung die 3 Lieder (deren er sehr viele auswendig kunnte, und sehr gluklich in Erlernung derselben war) ‘ach! wie nichtig, ach! wie flüchtig ist der Menschen Leben‘ etc. ‘Sey getreu in deinem Leiden, laße dich kein Ungemach‘ etc. und ‘ach! alles was Himmel und Erden umschließet‘ etc. Die beede erstere Lieder wurden rogatu parentum [= auf Wunsch der Eltern] bei der Leiche gesungen, und das leztere auf der Eltern Begehren nach geendigter Parentation [= Grab- oder Leichenrede] vorgeleßen vom Pastore in dieser Ordnung. Weilen es stark und anhaltendes Regenwetter war, so wurde die Leiche unter Absingung des Liedes: ‘ach! wie nichtig ach! wie flüchtig‘ in die Kirche getragen, und vor dem Altar niedergesezet; darauf hielte Past[ore] die Parentation, und verlaß cum conexione [= in Verbindung] mit derselben das Lied: ‘ach! alles was Himmel und Erden umschließet‘ etc. Darauf wurde die Leiche wieder aufgehoben und unter begehrter Absingung des Liedes: ‘Sey getreu in deinem Leiden‘ wieder aus der Kirche hinaus und zu Grabe gebracht. Als sich der Leichen-Convent wider in die Kirch zurukbegeben, wurden 4 Verse von dem Lied: ‘Ich sterbe täglich und mein Leben geht näher zu dem Grabe hin‘ etc. abgesungen, und darauf eine Bettstund mit Verlesung des XC. [Psalm] gehalten. Propter cerimonias has, h.l. alias insolitas, pastor hac in memoriam futurorum temporen […] annotare voluit.“
Diese Beerdigung wich wohl deutlich vom sonst üblichen Ritus ab. Aber nicht nur die Zeremonie war ungewöhnlich, sondern auch der Eintrag selbst ist es. Selten findet man in den Kirchenbüchern zu einem Kind mehr Information als die Angaben der Eltern, des Namens, des Geschlechts und des Alters. Dass der Pfarrer die Leidenschaft des Johann Bernhard für das Singen so genau beschrieben hat, dürfte so gut wie einmalig sein. Auch die detaillierte Beschreibung der Zeremonie ist äußerst selten.
Die im Todeseintrag angegeben Krankheiten Gichter, Schlag- und Steckfluss sind in Todeseinträgen der damaligen Zeit oft als Todesursache genannt. Mit Gichter wurden verschiedene meist krampfhafte Krankheitserscheinungen bei Kindern, deren Ursachen sehr verschieden sein konnte, bezeichnet. Unter einem Schlagfluss ist meist ein Gehirnschlag oder Schlaganfall, mit Steckfluss das Asthma bronchiale gemeint.
Musik- und sozialgeschichtlich interessant dürfte die Nennung der Lieder sein und die Erkenntnis, dass sie auch an dem von den großen Städten und Bildungseinrichtung des Herzogtums doch weit entlegenen Ort im Schwarzwald bekannt waren und selbst von einem 9-jährigen Jungen gekonnt und gesungen wurden.
Zum Verständnis der im Todeseintrag gemachten Angaben sind noch die bergbaulichen und konfessionellen Verhältnisse um Reinerzau zu erklären. Südwestlich von Reinerzau liegen die Täler Kaltbrunn und Wittichen, die damals zum Fürstentum Fürstenberg gehörten. In den Bergwerken in Wittichen wurde u.a. Kobalt abgebaut, das in einer Farbmühle zur Farbherstellung (Cobaltblau) zermahlen wurde. Interessanterweise wurde die Farbmühle ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von württembergischen Kaufleuten finanziert. Das Fürstentum Fürstenberg hatte, wie auch das Herzogtum Württemberg, zur Förderung des Bergbaus erfahrene Bergleute aus anderen Bergbauregionen, z.B. dem sächsischen Erzgebirge, das evangelisch geprägt war, angeworben. Da das Fürstentum katholisch war, waren die evangelischen Bergleute in den genannten fürstenbergischen Tälern bei der benachbarten evangelisch-württembergischen Pfarrei in Reinerzau eingepfarrt.
Anmerkung
Die Titel der Lieder sind in der Transkription mittel Hochkommas (‘) hervorgehoben, der Pfarrer hatte diese nicht verwendet.
Schon kurz nach Kriegsbeginn 1939 hatte der Evangelische Oberkirchenrat verfügt, dass alle Unterlagen gesammelt werden sollten, die die Rolle der Kirche im Krieg beleuchten könnten. Man stellte sich dabei vor allem vor, es würde um die Beteiligung von Geistlichen oder von Pfarrerssöhnen am Kriegsgeschehen gehen. Spätestens ab 1944 gingen aus allen Ecken der Landeskirche aber ganz andere Berichte ein: In knappen, oft atemlosen Berichten ging es um Fliegerschäden an kirchlichen Gebäuden, um die Einnahme der Orte, um Kampfhandlungen und das Verhalten der Besatzungstruppen, um Plünderungen und Vergewaltigungen, aber auch um Rettung und Bewahrung. In den chaotischen Tagen der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die Pfarrämter oft genug das einzig Beständige. Der Waldenbucher Pfarrer Georg Pfäfflin schreibt: „Da plötzlich alle anderen Aemter ausgeschaltet sind, hatte ich für alles zu sorgen.“ (LKAS A 126, Nr. 2716, Qu. 469)
Zwei Jahre später, im April 1947, beauftragte die Kirchenleitung alle württembergischen Gemeinden, die Zeit des Nationalsozialismus, des Kriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit in einer Kriegschronik zu dokumentieren. Sie gab dafür ein Schema vor, an dem sich die Gemeinden orientieren sollten. Viele Pfarrer kamen der Anweisung nicht nach: Teils hatten sie schlicht keine Zeit, teils schreckten sie aber auch davor zurück, Gemeindeglieder bloßzustellen. Es kamen aber bis zum Abschluss der Aktion im Jahre 1957 immerhin ungefähr 250 Kriegschroniken zusammen. Ihr Umfang reicht von einer Seite bis über fünfzig Seiten, und ihre Qualität schwankt enorm. Insgesamt bilden sie aber eine einzigartige Quelle für die lokale Geschichte der NS-Zeit.
Eine solche Chronik verfasste auch der bereits genannte Waldenbucher Pfarrer Georg Pfäfflin. Pfäfflin, Jahrgang 1908, hatte einige Jahre in der Auslandsgemeinde in Lima/Peru verbracht, bevor er 1943 Pfarrer in Waldenbuch wurde. Er hatte den Kirchenkampf in Waldenbuch nicht miterlebt und erwähnt jene Zeit in seiner Kriegschronik nicht. Sein Bericht aus dem Jahre 1952 weicht vom vorgegebenen Schema ab und konzentriert sich in der Form „einiger Ergänzungen“ auf wenige Aspekte. So ist er einer der wenigen, die klarstellen, dass man um die Verfolgung und Ermordung der Juden wissen konnte: „so wußten wir doch genug, u. nicht nur der Pfarrer, auch die hellhörigen in der Gemeinde wußten genug.“ (hier und im Folgenden LKAS A 126, Nr. 145)
Und er war einer der mutigen Menschen, die sich im Rahmen der Württembergischen Pfarrhauskette an der Rettung von verfolgten Juden beteiligte. Pfäfflin berichtet, wie er gerade über Matthäus 25,31ff. saß („Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“), als die Bitte an ihn herangetragen wurde, einer verfolgten Jüdin, Elfriede Friedemann alias Ella Braun, Unterschlupf zu gewähren. Das Risiko war ihm bewusst, er empfand das als seine „schwerste persönliche Prüfung“. Er zog zwei seiner Kirchengemeinderäte ins Vertrauen und erfuhr auch von Dekan Kopp Unterstützung, konnte aber weder seiner Gemeinde trauen noch seinen Kollegen, denn „ein großer Teil der Amtsbrüder hätte einen nicht verstanden u. einzelne – es tut mir leid, das zu schreiben – hätten es vielleicht nicht lassen können zu verraten.“ Nach der Verhaftung von Richard Gölz musste auch Pfäfflin jederzeit damit rechnen, aufzufliegen.
Einen besonderen Eindruck machten offenbar die letzten Durchmärsche deutscher Truppen. Pfäfflin schreibt: „Erschütternd war der Durchzug der letzten deutschen Truppen, ein geschlagenes Heer.“ Dieser Eindruck findet sich in vielen Kriegschroniken wieder, in Winnenden schildert Pfarrer Pfeiffer, wie die Truppen durch den Ort ziehen, „todmüde und schweigend […] Es war ein trauriger Anblick, die Zeichen völliger Auflösung“ (LKAS A 126, Nr. 298).
Während Waldenbuch bei der Beschießung und Einnahme des Orts noch verhältnismäßig glimpflich davonkam, litt die Bevölkerung stark unter den ersten Tagen der Besatzung, unter Plünderungen und Vergewaltigungen. Vor allem die oft bei den ersten Truppen eingesetzten marokkanischen Angehörigen der französischen Armee blieben in diesem Kontext im kollektiven Gedächtnis verankert. Oft genug hatte das auch mit einem rassistischen Blick zu tun. Pfäfflins Ton ist ein anderer – er macht sich diesen eklatant rassistischen (und die Realität über die deutschen Truppen verleugnenden) Blick so nicht zu eigen. Dennoch schildert er die Situation in den ersten Besatzungstagen drastisch: „Aber so sehr sie unser Haus schonten, so räuberisch u. grausam ging es nun in den andern Häuser[n] zu. Die Hilfeschrei[e] gingen schrill durch die Stadt.“ Ein 16-jähriges Mädchen wurde 17 Mal vergewaltigt. Zwei andere Vergewaltigungen seien abgebrochen worden, als die Opfer anfingen zu beten. Auch hier bewies sich Pfäfflin als zupackend und brachte die vergewaltigten Frauen mit einem Fuhrwerk in die Tübinger Frauenklinik. Vor dem Hintergrund dieser Erlebnisse wurde die Übernahme der Besetzung durch die amerikanische Armee in Waldenbuch mit Erleichterung aufgenommen.
Es macht den Reiz der Kriegschroniken aus, dass sie Teil eines großen, bunten Gesamtbilds sind und zugleich ganz individuell über lokale Verhältnisse berichten. Aus der Waldenbucher Kriegschronik spricht ein Mann von tiefer Frömmigkeit, der die Schwierigkeiten jener Kriegs- und Nachkriegszeit konsequent aus seinem Glauben heraus deutet und danach handelt. Pfäfflin wurde später Pfarrer in der Gedächtniskirchengemeinde in Stuttgart, 1952 dann Dekan in Aalen und 1967 in Bad Cannstatt, bevor er 1972 bei einem Unfall ums Leben kam.
Das Landeskirchliche Archiv hat den gesamten Bestand der überlieferten Kriegschroniken digitalisieren lassen und wird ihn, sobald die technischen Voraussetzungen gegeben sind, online zugänglich machen.
Mohr ist ein veralteter, präkolonialer Begriff für Menschen mit dunkler Hautfarbe, in erster Linie aus Afrika, der im Grunde, anders als spätere Termini nicht abwertend gemeint war, aber sicher mit Stereotypen assoziiert wird, wie etwa dem Firmensignet des Sarottimohren, also eines afrikanischen Jungen in orientalischer Kleidung, der als Diener eine Kaffeetasse serviert. Dass einer solchen Darstellung historische Vorbilder zugrunde lagen, beweisen auch Quellen des Landeskirchlichen Archivs.
Folgendes Zitat stammt aus einem Dekret zur Taufe eines „Mohren“ aus dem Jahr 1713, welches sich unter den Akten der allgemeinen Akten des Evangelischen Konsistoriums findet.
„[…] denjenigen mohren, Welcher bißhero alß cammerjung dienste gethan, durch die heylige tauf dem christenthumb einverleibet und mit dem offentlichen gewöhnlichen taufs actu fürgegangen, auch ihme den namen Ludwig Wilhelm Weiß in gnaden beygelegt wissen wollen: Alß lassen allerhöchstermellt dieselbe solches dero consistorial directori und übrigen räthen zu ihrem verhallt und behörigen veranstalltung benachrichtlich in gnaden hiermit anfügen.“
Die „Kammer“ meint hier unmittelbare Umgebung der Regentenfamilie am fürstlichen Hof in Ludwigsburg, beziehungsweise in Stuttgart. „Kleine Kammermohren“ wurden gegen Kostenerstattung in Familien der sonstigen Dienerschaft untergebracht. Ihnen wurde ein Unterricht gewährt und sie wurden getauft. Später erfolgte zumeist eine Ausbildung zum Pauker oder Trompeter. In fortgeschrittenem Alter oft wieder als „Kammermohr“ tätig. Sie gehörten aufgrund ihres in Württemberg ungewohnten Aussehens zu einer höfischen Inszenierung, offenbar genoss die höfische Welt ihre exotische Erscheinung. Ihre Anwesenheit erbrachte auch den scheinbaren Nachweis für eine Weltläufigkeit des jeweiligen Hofes.
Der hier beschriebene afrikanische Junge war zum Zeitpunkt seiner Taufe zwölf Jahre alt. Die Taufe erfolgte in der Stuttgarter Stiftskirche am 30. Juli 1713. Als Taufpaten stellten sich 33 Personen aus der allerbesten Hofgesellschaft zur Verfügung. Im Taufeintrag wird Näheres zu seiner geographischen und religiösen Herkunft deutlich gemacht: „ein Heydnischer Mohren=knab der Vermuthung nach Von 12 Jahren auß Madagascar“. Vermutlich war er ein „Geschenk“ Prinz Heinrich Friedrichs von Württemberg-Winnental, der damals in niederländischen Diensten stand und mit Herzog Eberhard Ludwig die Patenliste anführte. Er erhielt den Namen Ludwig Wilhelm Weiss. Die Vornamen waren damals typische Vornamen des württembergischen Adels. Der Name des damaligen Herzogs war Eberhard Ludwig, der seines Vorgängers war Wilhelm Ludwig. Der ihm zugedachte Nachname erscheint eigentümlich, fast wie zur heimlichen Verspottung seines Trägers einladend. Der Name „Weiss“ sollte aber die durch die Taufe gewonnene Reinheit symbolisieren. Der „Kammermohr“ wurde beim Hilfspauker Jeremias Reisinger aufgezogen, dessen Beruf er später erlernte. 1724 heiratete er eine Seidenstickerin. Zwei Jahre später nahm er seinen Abschied vom Hof.
Neben Weiss gab es am Stuttgarter Hof noch weitere Schwarze. Zwischen 1650 und 1750 sogar mehrere gleichzeitig. Sie übernahmen gegenseitig Patenschaften für ihre Kinder.
Der pietistische Theologe Samuel Urlsperger hielt 1716 bei der Taufe eines anderen „Mohren“ aus Westafrika in der Stuttgarter Schlosskapelle eine Predigt, in der er den christlichen Verkündigungsauftrag an alle Völker hervorhob und „die beiden aus der Bibel bekannten afrikanischen Höflinge – den ‚Kämmerer‘ und Ebedmelech – der korrupten Hofgesellschaft als Vorbilder für Umkehr, Bekehrung und Einsatz für Wahrheit und Gerechtigkeit“ gegenüberstellte.
„Mohren“ waren in höherem Maße von der Gunst des regierenden Fürsten abhängig waren als andere Mitglieder der ständischen Gesellschaft, die meist über dichtere soziale Beziehungsnetze verfügten. Entgegen einer oberflächlichen Einschätzung waren solche „Kammermohren“ keine Sklaven. Das Heilige Römischen Reich deutscher Nation kannte keine Sklaverei.
Bild: Landeskirchliches Archiv Stuttgart, A 26, Nr. 155, Qu. 101 (Dekret zur Taufe eines Kammermohren)
Literatur:
Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Hrsg.): Exotisch – höfisch – bürgerlich. Afrikaner in Württemberg vom 15. bis 19. Jahrhundert. Katalog zur Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart. Stuttgart 2001.
Firla, Monika / Forkl, Hermann: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof im 17. Jahrhundert. In: Tribus 44, 1995, S. 149-193.
Firla, Monika: Afrikanischer Pauker und Trompeter am württembergischen Herzogshof im 17. und 18. Jahrhundert. In: Musik in Baden-Württemberg 3, 1996, S. 11-41.
Firla, Monika: Samuel Urlsperger und zwei »Mohren« (Anonymus und Wilhelm Samson) am württembergischen Herzogshof. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 97, 1997, S. 83-97.
Firla, Monika: Quellen des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart zur Erforschung der Afrikanischen Diaspora des 18. Jahrhunderts in Württemberg. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 99, 1999, S. 90-112.
Als infolge des Zweiten Weltkriegs unzählige Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten nach Deutschland strömten, wurden sie von der Bevölkerung keineswegs mit offenen Armen empfangen. Sie wurden als „Rucksackdeutsche“ beschimpft und mit Argwohn betrachtet. Kleidung, Bräuche, Kochgewohnheiten, Dialekte, Konfessionen – alles erschien fremd.
Woher kamen die Menschen, die eine neue Heimat im zerstörten Deutschland suchten? Wie hatten sie gelebt, gearbeitet, gewohnt? In welchen Berufen waren sie ausgebildet worden, welches Handwerk hatten sie erlernt?
Um die einstigen Lebenswelten der Flüchtlinge näherzubringen und dabei Vorurteile abzubauen, finanzierte das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Württemberg 1948 eine Ausstellung mit dem Titel „Wer wir sind“. Die sogenannten Neubürger hatten die Möglichkeit, sich und ihre Heimat durch Schnitzereien, Fotos, Trachten und Handarbeiten darzustellen. „Wer diese Ausstellung gesehen hat, der musste ein anderes Bild von den Heimatvertriebenen bekommen“, resümierte der Monatsbrief des Hilfswerks nach Abschluss der Ausstellung. Ziel der Schau war die Einsicht, „dass diese Bauern und Handwerker für uns keine Fremdlinge sein können.“ Die in Hilfskomitees organisierten Donauschwaben, Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Bessarabier und Dobruschdadeutsche beteiligten sich an der Ausstellungskonzeption. In 18 württembergischen Städten wurde die Ausstellung gezeigt und in Feierstunden und Gottesdiensten eröffnet. Eine Brücke des gegenseitigen Verstehens und der christlichen Nächstenliebe sollte gebaut werden. Die Alteingesessenen konnten mit dem Besuch der Ausstellung deutlich machen, „daß man hierzulande nicht ohne Herz ist und immer mehr zu tun gewillt ist, das materielle und das seelische Leiden der Brüder und Schwestern zu lindern und ihnen eine wirkliche Heimat in unserem armen und gequälten Land zu bereiten.“
Der Verlust der Heimat und die Traumatisierung der rund 600 000 Vertriebenen (in Württemberg, bis 1948), vor allem aus Rumänien und Jugoslawien, erfuhren durch die Schau ein gewisses Maß an Anerkennung. Um Verständigung werbend, versäumte man im Bericht im Monatsbrief des Hilfswerks nicht, das Leid und die schwierigen Lebensumstände der Altbürger in die Waagschale zu werfen.
Die Ausstellung als Experiment für den kulturellen Austausch und als Brückenschlag zwischen Alt- und Neubürger*innen wurde mit rund 50 000 Besucher*innen als „gesegneter Erfolg“ verbucht.
Quellen:
Unser Monatsbrief. Hilfswerk der Evang. Landeskirche in Württemberg, 2. Jahrgang, November 1948.
L1, Nr. 3455 (U 954)
L1, Nr. 305
Matthias Beer, Die ‚Flüchtlingsforschung‘ zum deutschen Südwesten. Anmerkungen und Thesen, in: Rainer Bendel/Abraham Kustermann (HG.), Die kirchliche Integration der Vertriebenen im Südwesten nach 1945, Berlin 2010, S. 197-211.
Beitragsbild: Handarbeiten der Siebenbürger Sachsen aus Rumänien
Ausstellungsprogramm, Vorderseite, LKAS, L 1 Nr. 305
Eineinhalb Millionen kriegsversehrter Menschen lebten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Es waren zumeist Soldaten, die ohne Arme oder Beine aus dem Krieg zurückkamen, viele hatten durch Kriegseinwirkungen ihr Augenlicht oder ihr Hörvermögen verloren, hatten Gesichts- oder Hirnverletzungen. Aber auch eine große Anzahl von Zivilisten wurden bei den Bombardierungen der Städte an Leib und Seele versehrt. Für all diese Menschen stellte sich die Frage, wie ein Leben bewerkstelligt werden sollte, ohne sehen, laufen oder Dinge in die Hand nehmen zu können? Wie konnte Anschluss an das Berufsleben, an das Leben in Friedenszeiten überhaupt gefunden werden? Um diese vom Krieg gezeichneten Menschen aufzufangen und beruflich zu fördern, gründete das Evangelische Hilfswerk – die spätere Diakonie – 1945 ein Versehrtenheim in Oberstenfeld. Ein Jahr später wurde in Isny ein zweites Heim in Betrieb genommen. Hier bestand die Möglichkeit einer Berufsausbildung zum Maler, Schreiner, Schuh- oder Korbmacher. Tägliche Andachten und seelsorgerliche Angebote sowie Vorträge und Freizeiten sollten das psychische Wohlergehen der Heimbewohner unterstützen und ihnen helfen, wieder ins Leben zu finden. Durch die arbeitstherapeutischen Angebote und die Möglichkeit, eine Berufsausbildung zu machen, konnten viele Heimbewohner Selbstvertrauen gewinnen und nach mehreren Jahren Heimaufenthalt wieder ein selbständiges Leben führen. Speziell für traumatisierte Menschen war im Versehrtenheim Isny als beschäftigungs- und arbeitstherapeutische Maßnahme seit 1952 ein landwirtschaftlicher Betrieb angegliedert worden. Während das Versehrtenheim in Oberstenfeld 1950 aufgegeben wurde, erweiterte die Einrichtung in Isny ihre Werkstätten. Das Heim existiert bis heute als „Stephanuswerk“ für Menschen mit Unterstützungsbedarf.
Quellen:
L1 Nr. 296, 297, 379
A 126 Nr. 3150
Unser Monatsbrief, Hilfswerk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, November 1949
Herbert Keller (Hrsg.), 10 Jahre Hilfswerk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1955
LKAS, Bildersammlung, P 8684 Holzarbeiten im Versehrtenheim Oberstenfeld
LKAS, Bildersammlung, P 8850.3 Hilfsmittel zur Rasur im Versehrtenheim Isny
LKAS, Bildersammlung, P 8683 Empfang im Versehrtenheim Oberstenfeld
LKAS, Bildersammlung, P 8849.1 So junge Kriegsversehrte im Versehrtenheim in Isny
Gemälde aus dem Jahr 1963 des Künstlers Paul Kälberer (1896-1974), Glatt bei Sulz a. N., Größe: 107×87 cm. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Museale Sammlung.
Martin Haug war von 1948 bis 1962 Landesbischof der evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er wurde als Sohn eines Gymnasiallehrers in Calw geboren. Im ersten Weltkrieg meldete er sich wie viele andere als Freiwilliger und wurde in Frankreich schwer verwundet. Nach dem Theologiestudium in Tübingen, der 1920 erfolgten Ordination und verschiedenen Stellen als Religionslehrer und Pfarrverweser wurde er zunächst Repetent am Tübinger Stift. 1925 promovierte er zum Doktor der Theologie. Seine erste Pfarrstelle trat er 1926 an der Eberhardskirche in Tübingen an. 1930 wurde er Studienrat am Evangelischen theologischen Seminar in Bad Urach und 1935 Direktor des Pfarrseminars in Stuttgart. In den Oberkirchenrat als Personalreferent wurde er 1943 berufen und 1946 zum Prälaten und Stellvertreter des Landesbischofs Wurm ernannt, zu dessen Nachfolger er 1948 wurde. Die Landeskirche hatte in dieser Zeit vielfältige Herausforderungen zu bewältigen, wie etwa die Unterstützung und Integration der Flüchtlinge und der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Kirchen.
Was die Überlieferung im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart zu seiner Person und zu seinem Wirken in der Landeskirche betrifft, so ist hier zunächst auf die Personalakte in Bestand A 227 hinzuweisen. Zudem verwahrt das Archiv als Bestand AH 4 die Handakten Haugs, welche unter anderem eine umfangreiche Korrespondenz enthalten. Fotos des früheren Bischofs finden sich in der Bildersammlung des Archivs.
Ein rascher Zugriff auf die Daten zu seinem Leben und zu seinem Wirken in der Landeskirche ist über die Personendatenbank in Württembergische Kirchengeschichte Online möglich.
In der Nachkriegszeit mussten viele Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland als Halbwaisen aufwachsen, da die Väter als Wehrmachtssoldaten gefallen waren. Normalerweise haben dann die Mütter die Kinder allein betreut. Allerdings gab es auch Mütter, die dazu aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage waren, oder Kinder, die während der Kriegswirren am Ende des Krieges beide Eltern verloren hatten, also zu Vollwaisen wurden. Das evangelische Hilfswerk in Württemberg richtete für diese vom Schicksal schwer getroffenen und oft traumatisierten Kinder eine Knabenheimschule in Kleinglattbach bei Vaihingen an der Enz ein.
In der archivischen Überlieferung dieser Einrichtung finden sich etliche Beschreibungen dieser Schicksale, von denen wir drei herausgreifen:
1) T.K., ein 14-jähriger, 1933 in Ödenburg (Sopron) in Ungarn geborener Junge kam am 6. Juli 1946 in die Knabenheimschule. 1944 musste er beim Vormarsch der Russen seine Heimat verlassen und verbrachte die Zeit dazwischen in verschiedenen Lagern. Dreckig, zerlumpt und unterernährt kam er zusammen mit fünf anderen Jungen in Kleinglattbach an. Nach einer Dusche und mit neuen Kleidern kamen nette und saubere Jungen zum Vorschein. Er hat dann durch eine wundersame Fügung seine Eltern wiedergefunden. Nach drei Wochen wurde er aber wieder in die Knabenheimschule aufgenommen.
2) Vier Brüder aus Oberschlesien (Horst, geb. 1933, Heinz, geb. 1934, Egon, geb. 1935, Gottlieb, geb. 1937) kamen als Halbwaisen in die Heimschule. Der Vater war in einem KZ umgekommen. Die alleinerziehende Mutter, die noch einen kleinen Buben und zwei kleine Mädchen zu versorgen hatte, war mit der Betreuung ihrer Kinder überfordert. Die Jungen scheinen auch unterernährt angekommen zu sein.
3) E.T. war 1935 in Schönborn (heute Novo Selo), einem damals von Deutschen besiedelten Ort in Bosnien, geboren. Der Vater betrieb dort eine kleine Zuckerbäckerei. Die Erinnerung an den nächtlichen Überfall von Partisanen auf das Dorf und die damals erfolgte sofortige Vertreibung der Bewohner hat ihn traumatisiert. Seine Eltern waren nun ausgezehrt und krank und konnten sich nicht ausreichend um ihn kümmern. Der Vater lebte in einem Flüchtlingslager, die Mutter war auf unabsehbare Zeit zur Erholung verschickt.
In den Akten findet sich auch eine erstaunliche, fast filmreife Geschichte. An einem Sonntag im Sommer 1946 machte eine zwölfköpfige Gruppe der Heimschule eine Ausflugswanderung zum nahen Aussichtsturm Eselsburg. In die Balken des hölzernen Turms waren wie so üblich die verschiedensten Namen eingeritzt. Zu seiner großen Überraschung entdeckte ein Junge darunter auch den Namen seines Vaters. Dabei stand auch ein Ortsname. Zunächst war unklar, ob das nur eine zufällige Namensgleichheit war. Aber der Sache musste nachgegangen werden. Deshalb wurde der Junge zusammen mit zwei anderen Schülern als Begleiter in den genannten Ort geschickt, der sich in etwa einer Stunde Fußmarsch von Kleinglattbach entfernt befand. Sie sollten sich dort beim Pfarrer erkundigen, ob er die Person kenne und, wenn ja, um wen es sich handle. Wie sich mit Hilfe des Pfarrers herausstellte, war diese Person tatsächlich der Vater des Jungen. Es kam dann zu einer tränenreichen Begegnung im Pfarrhaus. Nach der Entlassung aus dreijähriger russischer Gefangenschaft war der Vater in diesem Dorf in Württemberg untergekommen. Der in Ungarn geborene Sohn, dessen Mutter inzwischen nicht mehr am Leben war, war 1946 als Waise in Kleinglattbach aufgenommen worden. Wie dem Bericht zu entnehmen ist, war die Freude in der Heimschule insgesamt sehr groß, als der Junge am Abend tatsächlich zusammen mit seinem Vater zurückkam.
Der Standort der Knabenheimschule waren während der ersten drei Jahre ihres Bestehens (1946-1948) angemietete Räume im Hofgut der Familie von Neurath in Kleinglattbach, die unmittelbar davor interimsweise vom Seminar Blaubeuren genutzt worden waren. Leiter der Schule war Dr. Willibald Heldt (1900-1968), ein baltendeutscher ehemaliger Schuldirektor aus Estland, dem nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft die Rückkehr in seine Heimat nicht mehr möglich war.
Bei Aufnahme der Arbeit im Februar 1946 konnten bereits 20 Jungen, die auf der Flucht ihre Eltern verloren hatten, aufgenommen werden. Die Schule bot Unterkunft für etwa 65 Schüler, die sich in ihrer Freizeit im Chor und Streichorchester einbringen oder sportlich betätigen konnten. Die Schüler legten im Garten Beete an. Die eigentliche Verpflegung wurde durch das Evangelische Hilfswerk bereitgestellt. Insgesamt 126 Schüler konnten bis 1948 in der Heimschule untergebracht werden. 1948 wurde der Schulbetrieb mit 60 Schülern in die Laufenmühle bei Welzheim verlegt. Aus finanziellen Gründen wurde die Arbeit 1949 eingestellt. Die Schüler wurden daraufhin an der Landeswaisenanstalt in Schwäbisch Gmünd und im Evangelischen Landeserziehungsheim Urspring untergebracht und konnten dort ihre Schulausbildung vollenden.
Das Evangelische Hilfswerk war von Anfang an bestrebt, der großen Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg Abhilfe zu schaffen. Die Beschaffung von Baustoffen war zunächst fast unmöglich. Daher begann man 1945 mit dem Bau von Häusern in Lehmbauweise. Diese Bauart kannten viele Flüchtlinge z.B. aus ihrer südosteuropäischen Heimat, so dass sie ihre Erfahrung in das Bauverfahren einbringen konnten. In Kleinbottwar entstand unter Federführung des Hilfswerks eine der ersten Lehmbausiedlungen, und zugleich eine Ausbildungsstätte für diese traditionelle Bauweise. Handgeformte und luftgetrocknete Lehmziegel, die kaum Bindungsmörtel benötigen, dienten als Baumaterial. Nach der Währungsreform 1948 konnte der Wohnungsbau durch staatliche und kirchliche Förderung weiter vorangetrieben werden. Die Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft des Hilfswerks der EKD war beratend tätig und stellte Darlehen für Eigenheimbauer bereit. In Württemberg konnten mit Hilfe der Siedlungsgesellschaft bis 1955 etwa 2500 Wohnungen errichtet werden. Um schnell Wohnraum zu schaffen, gründete das Hilfswerk nach dem Krieg die Aktion „Ausbauwohnung“. Diese Wohnungen wurden in bestehenden meist kommunalen Häusern ausgebaut. In Württemberg konnten so 350 Wohnungen für etwa 1200 Flüchtlinge bereitgestellt werden. Landesbischof Martin Haug startete 1952 einen öffentlichen Aufruf: „Seitdem ich von der großen Not in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern gehört habe, kann ich des Nachts nicht mehr ruhig schlafen. Ich bitte dem Ruf des Hilfswerks zu folgen: Jede Gemeinde baut eine Ausbauwohnung für eine heimatvertriebene Familie.“
Quellen:
LKAS, Bildersammlung
OKR Altreg. Generalia 529 b
L 1 Nr. 333, 346, 349, 353
Beitragsbild: Spendenappell des Hilfswerks zur Förderung des Wohnungsbaus
Wohnungsbau in Eigenregie durch die Siedlungsgesellschaft
Solche Adventssterne schmückten früher in der Vorweihnachtszeit manch frommes Haus. Dieser ausgesprochen evangelische Brauch ist heute nahezu in Vergessenheit geraten. Dabei gehörte er in vielen diakonischen Anstalten seit Mitte des 19. Jahrhunderts fest zum vorweihnachtlichen Geschehen. Auch in frommen Privathaushalten war er noch bis in die 1950 er Jahre hinein zu finden. Jeden Tag wurde eine biblische Verheißung der Christgeburt vorgelesen und als Kärtchen an einen dafür aufgestellten Baum gehängt.
Die religionspädagogischen Möglichkeiten adventlicher Einstimmung für die Jugend hatte man in den Einrichtungen der Inneren Mission früh erkannt. Ausgangspunkt waren die täglichen Adventsandachten mit den Kindern und Jugendlichen im Rauhen Haus bei Hamburg, die Johann Hinrich Wichern, der Begründer der Inneren Mission, einführte. Daraus entwickelte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Adventsbräuchen. Vertraut sind uns der Adventskranz und der Adventskalender, daneben gab es auch Adventsuhren und Adventsbäume, die die Zeit des Wartens auf die Ankunft des Erlösers begleiteten.
Die Not nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war auch unter den Heranwachsenden und Jugendlichen besonders groß. Ohne jegliche Perspektiven drohten heimat- und elternlose Jugendliche, die in Bunkern und Luftschutzräumen der zerstörten Städte lebten oder ziellos über die Landstraßen zogen, in die Kriminalität abzurutschen. Um dies zu verhindern, engagierte sich das Evangelische Hilfswerk in der Jugendsozialarbeit mit dem Aufbau sogenannter „Gilden“. Dieser Name wurde in Anlehnung an die mittelalterlichen Genossenschaften ausgesucht, die religiöse oder berufliche Ziele verfolgten und sich dabei um das Wohl ihrer Mitglieder sorgten. Dies war auch bei den Aufbaugilden der Fall. Die jungen Menschen sollten in familienähnlichen Gemeinschaften zusammenleben und Halt im christlichen Glauben finden.
Die erste Aufbaugilde entstand im Februar 1948 auf Schloss Stettenfels bei Heilbronn, als ein Zeichen des Neuanfangs und gleichzeitig als Selbsthilfe zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Hier half die Gilde beim Ausbau eines Altersheims für Flüchtlinge. Die nach und nach entstehenden Gilden wurden zu gemeinnützigen Arbeiten eingesetzt, wie Trümmerbeseitigung, Forst- und Steinbrucharbeiten. In Calw-Stammheim wurde mit Hilfe von Spendengeldern aus der Schweiz eine Gilde aufgebaut, die das beschädigte Freibad wieder instand setzte.
1952 gab es in Württemberg bereits 12 Aufbaugilden. Mit der steigenden Zahl von „Ostflüchtlingen“ aus der DDR wurden nach württembergischem Vorbild auch in Hessen und Nordrhein-Westfalen mehr als 60 Gilden bis Ende 1953 gebaut. Im selben Jahr startete die Mädchengilde in Stuttgart. Zusätzlich entstanden Abiturienten- und Studentengilden, sowie Stadt- und Landgilden. Beim zehnjährigen Jubiläum 1958 wurde von 59 Gilden berichtet, in denen über 11 000 Jugendliche für mindestens ein halbes Jahr mit den westlichen Lebensverhältnissen vertraut gemacht wurden. 1958 existierten im gesamten Bundesgebiet über 120 Gilden. Mit dem Bau der Mauer im August 1961 stoppte der Flüchtlingsstrom aus der DDR. Die Gildenarbeit widmete sich nun spätausgesiedelten Jugendlichen, die mit ihren Eltern aus ehemaligen deutschen Ostgebieten kamen. Um ihnen die Integration in Westdeutschland zu erleichtern, wurden Förderschulen mit Sprachkursen eingerichtet. Die meisten Gilden in Württemberg stellten jedoch ihre Arbeit zu Beginn der 1970er Jahre ein. Lediglich die Heilbronner Aufbaugilde hat sich erhalten und arbeitet bis heute mit jungen Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen eine Betreuung brauchen.
Quellen:
LKAS, L 1, Nr. 93, Nr. 777, Nr. 887, Nr. 1384, Nr. 2300, Nr. 3447
Reinhold Schäffer, Die Gilde – Das Stammheimer Gildenhaus – eine fast vergessene diakonische Einrichtung 1949-1956.
Unser Monatsbrief. Hilfswerk der Evang. Landeskirche in Württemberg, 4. Jahrgang, Februar 1950, S. 2-11.
Monatsbrief. Der Arbeitsgemeinschaft der Diakonischen Werke in der Evang. Landeskirche in Württemberg, 13. Jahrgang, Nr. 2 Februar 1959, S. 2-3.
Gudrun Köpf, Von „Hühnerhofpädagogik“ und Gildenarbeit im Kalten Krieg. Hans Walter Mehlhorn erzählt, in: Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit (Hrsg.), Jugendsozialarbeit im Wandel der Zeit. Eine Bundesarbeitsgemeinschaft wird Fünfzig, Münster 1999, S. 89-92.
Die Einträge in den Toten- bzw. Begräbnisregistern sind meist knapp gehalten. Sie enthalten den Namen der verstorbenen Person, bei Kindern den Namen ihres Vaters (und manchmal auch der Mutter), bei verheirateten Frauen den Namen des Ehemannes und das Datum und Ort der Beerdigung, später auch das Datum und Ort des Todes sowie ggf. Angaben zum Beruf und häufig auch zum Alter. Besondere Todesumstände, wie z.B. ein Unfall, werden meist ausführlicher beschrieben.
In einem Totenregister von Neuenstadt am Kocher findet man zwei eher ungewöhnliche Einträge, die neben den üblichen Angaben eine persönliche Trauerlyrik enthalten. Im ersten Fall musste der Neuenstädter Diakon Johann Ludwig Hochstetter seinen eigenen Sohn betrauern und zu Grabe tragen. Im zweiten Fall starb der Sohn des Special-Superintendenten (Dekan) von Neuenstadt Wilhelm Christoph Stein. In beiden Fällen hatte Hochstetter den Todeseintrag um eine Trauerlyrik in Deutsch und Latein ergänzt, im zweiten Fall hatte außerdem Stein ein Gedicht auf Hebräisch angefügt. Hochstetter scheint ein gebildeter und in der Dichtkunst bewanderter Mensch gewesen zu. Selbiges gilt auch für Stein, der auch das Hebräische gut beherrschte. Beide verfügten deshalb wohl über einen hohen Bildungsgrad.
Die hebräischen Zeilen sind in Reimen geschrieben und sind im Takt. Die Vokalisierung ist (außer in einem Fall) korrekt. Durch die Verwendung biblischer Vokabeln und Vokabeln aus der späteren talmudischen Zeit ist die Sprache relativ modern. Unser Kollege Dr. Jakob Eisler hat diese Zeilen übersetzt und eingesprochen, die entsprechende MP3-Datei (28 Sekunden) kann hier geöffnet bzw. heruntergeladen werden.
Aufgrund dieser doch emotionalen Einträge ist anzunehmen, dass zwischen den Familien Hochstetter und Stein eine engere Beziehung bestand.
Der Todeseintrag von Albrecht Martin Hochstetter (1684-1685)
Albrecht Martin wurde am 9. November 1684 in Neuenstadt am Kocher getauft. Die Eltern waren der Diakon Johann Ludwig Hochstetter und dessen Ehefrau Johanna Barbara Lusterer. Er verstarb bereits am 15. April 1685, sein Todeseintrag lautet wie folgt:
„Den 15. dises [= April 1685] stirbt mir, dem Diacono M[agister] Hochstetter eines gar schnellen und plötzlichen Todes, ein Söhnlein von 6 Monaten nahmens Albrecht Martin, und wurde den folgenden Tag in einer wortreichen Procession in den eußeren Kirchhoff, zum Helmbund [= Helmbundkirche], beisetzet und zur Ruhe gebracht.
So gesstu liebstes Kind die finstre Todesstraßen!
Und wilt uns Eltern hier in großem Leide laßen!
Die wir an deiner Gestalt und Rosen Lippen roth,
so offtmals uns ergözt; nun aber bisstu tod.
Doch lebt dein Seelelein in Gottes Vatter Händen,
da werden wir dereinst gewiß dich wider finden.
Ade du liebes Hertz, nun seliges Gotteskind,
wir denken jammers voll stehts an dein so schmerzlichs schnelles End.
Sic properas, Fili, pallentas ire sub umbras,
Cui quondam nobis gaudia mille dabas!
Gaudia quid dico, in luctum tam versa repente,
dum cadis ante diem, morte perempte fera.
Non tamen omne cadis, Pars nobilis incola facta
Iam Coeli, tristes suadet abesse voces.
Dextra Dei, nostros quae iam divulsit amores,
Haec olim celsa iunget in arce Poli.”
Übersetzung:
So gehst du, Sohn, eilends unter die bleichen Schattenbilder,
einstmals machtest du uns ungezählte Freude!
Was sage ich Freude? Mit einem Schlag ist die Freude in Trauer verwandelt,
indem du vor der Zeit ins Grab sinkst, durch einen grausamen Tod umgekommen.
Trotzdem sinkst du nicht ganz tot hin, dein edler Teil ist schon Bewohner des Himmels,
rät an, sich von betrübten Reden fernzuhalten.
Die rechte Hand Gottes, die unsere Liebe gewaltsam trennte,
wird sie dereinst in der stolzen Himmelsburg zusammenfügen.
Der Todeseintrag von Johann Martin Stein (1681-1687)
Johann Martin wurde am 21. September 1681 in Brettach (Langenbrettach) geboren und am 23.09.1681 in der dortigen Pfarrei getauft. Die Eltern waren Wilhelm Christoph Stein, damals Pfarrer in Brettach, und dessen Ehefrau Maria Catharina Friesenegger. Einer der Paten war Johann Ludwig Hochstetter, Diakon in Neuenstadt.
Johann Martin starb am 7. Mai 1687, sein umfangreicher Todeseintrag lautet:
„Den 7. dises Monats [Mai 1687], stirbt Herrn M[agister] Wilhelm Christophoro Steinen, Special Superintendenten und Stattpfarrer alhir, sein so jüngstes Söhnlein nahmens Hans Martin, seines Alters 5 Jahr und 6 Monat und wurde den 9. darauff christlich zur Erden bestattet, auch zu besten Angedenck ihme ein Sermon vor dem Altar gehalten.
Mensis erat Majus, quo Tellus flore superbit
Multiplici et Oculis gaudia mille parat.
Torva cum facie Mors invida viderat hortum,
Cum gaudio qualem hic nostra Juventus habet.“
Übersetzung:
Es war der Monat Mai, wenn die Landschaft voll von Blüten ist
und dies den Augen ungezählte Freude macht,
als der missgünstige Tod mit finsterem Antlitz den Garten sah,
den unsere Jugend hier mit Freude besitzt.
„Ilicet attingens falcem, prae millibus unus
Esto meus, dixit, cui Coler gratus erit;
Unde tuum petiit Patus, lethale venenum
Admiscens falci, te feriendo secat.
Te puto Martinum, quem Fonte lavare sacrato
Inq(ue) dei foedus ducere sors voluit.“
(Auf eine Übersetzung wurde an dieser Stelle wegen Unklarheiten bewusst verzichtet – Übersetzungsvorschläge sind willkommen.)
„Inde Tuam morte doleo sed gaudeo sortem
Coelicolam quando pensito iamq(ue) tuam;
Vivis enim superis admixtur, liber ab omni
Moestitia, et coeli gaudia mille capis.“
Übersetzung:
Daher bedauere ich deinen Tod, aber wenn ich es überdenke,
dann freue ich mich darüber, dass du im Himmel wohnst.
Denn du befindest dich bei Gott, frei von aller Traurigkeit,
und empfängst die unzähligen Freuden des Himmels.
„In dem der bunte Mai das Feld thut stattlich ziren,
Mit Blumen mancher Art, so wo wir nun hinführen
Die Augen alles lacht, tritt unversehens ein
Mit seiner Sensen scharff der blaße Schenken Bein;
Bald nam er sie zur Hand und thut damit abhauen
Aus unserm Garten hier ein schöne Blum zuschauen;
Dich mein‘ ich junger Stein du schöner Vasen roth,
Da du vorher gewest erblaßest du im Tod;
Nun soll dein schnelles End gantz billich mir Laid bringen,
Weil du von mir getaufft in guten Künsten Dingen
Schon gebest Hoffnung dar, allein weil Gottes hand
Dich zu sich abgeholt, ist glücklich jetzt dein Stand;
So leb nun wolvergnügt die liebe Seel im Himmel
Wir ächzen underdeß noch in dem Welt Getümmel,
des Herrn Tag wird uns zusamen bringen bald,
wann Himmel und die Erd in einen Hauffen falt.
memoria sua ponebat [= Aus seiner Erinnerung setzte dies mit hin]
HL. H. Diac. [= Magister Hans Ludwig Hochstetter, Diakon]“
Übersetzung des Hebräischen:
Mein Sohn, Dein Todestag ist ein dunkler Tag
Du hast mir viel bedeutet.
Wir liebten dich wie die Anderen.
Meine Seele war mit Deiner verbunden.
Du bist ins Grab (Hölle) gekommen,
und ich und deine Mutter trauern,
wie auch deine Brüder und Schwestern.00
Dein Körper ist nicht mehr da.
Deine Knochen ruhen im ewigen Leben
bei Gott.
„solatii ergo Parens appon(ebat) [= Der Vater fügte dies als Trostspender hinzu]“
Vokalisierung der hebräischen Zeilen (bitte Anklicken):
Außenansicht Erholungsheim Bergfreude in Scheidegg. LKAS, Bildersammlung, P 8500
Schlafraum, LKAS, Bildersammlung, P 8517
Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte das Evangelische Hilfswerk in Württemberg (die spätere Diakonie) verschiedene Erholungsheime für Kinder, um geschwächten und von Krankheit bedrohten Kindern einen Erholungsaufenthalt zu ermöglichen. Kinder, die als Spätfolgen des Krieges beispielsweise unter nervösen Erschöpfungszuständen, Wachstumsstörungen, Appetitlosigkeit litten oder der Gefahr einer Tuberkuloseerkrankung ausgesetzt waren, wurden über Gesundheits- und Jugendämter in verschiedene Hilfswerk-Erholungsheime vermittelt. So auch nach Scheidegg, denn das Reizklima in den Allgäuer Bergen sollte für asthmatische und Bronchitis anfällige Kinder gesundheitsfördernd wirken. Im Frühjahr 1948 wurde das evangelische Kindererholungsheim „Bergfreude“ eröffnet und sollte den Kindern auch die christliche Botschaft nahebringen. Der Tagesablauf war strukturiert mit Morgenlied, Tischgebet und Abendsegen, sonntags nahmen die Kinder am Kindergottesdienst teil. In den vier- bis achtwöchigen Kuraufenthalten konnten in Scheidegg jeweils 35 Kinder aus meist benachteiligten Familien im Alter von 5-14 Jahren mit „ausgezeichnete[r] Kost, regelmäßige[r] Tageeinteilung, Liegekuren, Spaziergänge[n] in den angrenzenden Wäldern“ (Anm. 1) wieder zu Kräften kommen. Ob den Kindern dieses Programm gefallen hat, lässt sich aus den Akten nicht wirklich entnehmen. Zumindest die Mittagsruhe erfreute sich keiner großen Beliebtheit, wie im „Scheidegger Lied“ (siehe Anhang) zu lesen ist. Angenommen werden kann, dass die individuellen Bedürfnisse des Kindes vermutlich keine große Rolle gespielt haben. Offensichtlich haben sich die Verantwortlichen in der damaligen Zeit wenig Gedanken darüber gemacht, wie ein fünfjähriges Kind vier- bis acht Wochen ohne vertraute Bezugsperson in einer völlig fremden Umgebung zurechtkommen soll. Kinder mussten zu dieser Zeit einfach funktionieren, sich ein- und unterordnen. Trotzdem wurde nach Angaben im „Monatsbrief der Arbeitsgemeinschaft der diakonischen Werke“ darauf geachtet, „daß sich die Kinder während ihres Aufenthalts geborgen fühlen und die Nestwärme kennen lernen, die sie zu Hause oft vermissen.“ (Anm. 2) Sicherlich gab es Kinder, die sich in der Erholungskur wohlgefühlt und das pädagogische Personal als liebevoll erlebt haben. Es kann jedoch angenommen werden, dass manche Kinder vor allem die „gute Ordnung und feste Zucht“ wahrgenommen haben und unangemessen bestraft wurden, wenn sie eingenässt, nicht aufgegessen oder keine Mittagsruhe halten wollten. Für diese Kinder war ein Kuraufenthalt traumatisch und manche leiden noch heute darunter. Erst in den letzten zwei Jahren wurde das Schicksal der „Verschickungskinder“ in den Medien thematisiert. Daher erreichen auch unser Archiv Anfragen Betroffener zu ihrem Aufenthalt in Erholungsheimen. Leider sind nur wenige Sachakten von einigen Erholungsheimen vorhanden, zumeist ohne Namenslisten anhand derer sich rekonstruieren ließe, wer wann in welchem Erholungsheim untergebracht war.
Anm. 1: L 1 Nr. 689, Zeitungsartikel „Neues Kinderheim in Scheidegg“, ohne Datum. Weitere Informationen in Nr. 686, 690, 2575.
Anm. 2: Monatsbrief der Arbeitsgemeinschaft der diakonischen Werke der evangelischen Landeskirche in Württemberg Nr. 8, August 1959.
Anm. 3: Unser Monatsbrief. Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Württemberg, März 1950. Siehe auch „Unser Monatsbrief Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Württemberg“, August 1949.
Man läuft oft mehr oder weniger achtlos an solchen Gefallenendenkmälern mit den vielen Namen vorbei. Aber hinter jedem Namen verbirgt sich ein Leben, das durch den Krieg abgeschnitten wurde.
Zum heutigen Volkstrauertag zeigen wir zwei Gefallenengedenktafeln der Karlshöhe aus unserer Musealen Sammlung.
Der Volkstrauertag wurde 1919 vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge als Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs initiiert und wird seit 1925 begangen.
Gefallenengedenktafeln werden heute sehr zwiespältig betrachtet. Werden hier diejenigen gewürdigt, die für ihr Land starben, im Bewusstsein, ihre nationale Pflicht zu erfüllen? Oder werden hier Täter gefeiert, Kriege verherrlicht und ein falsches Heldentum gefördert? Wo wird um die Toten getrauert? Müsste nicht aller Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaften gedacht werden?
Überhaupt: ist das nicht alles viel zu lange her? Der richtige Umgang mit dieser Art von Erinnerung und Gedenken wird in der Öffentlichkeit jedenfalls heftig diskutiert.
Für die Diakonie Karlshöhe passten die Gefallenengedenktafeln schon lange nicht mehr in die Zeit. Jahrzehntelang lagerten sie in einem Abstellraum, bis sie in diesem Frühjahr ins Landeskirchliche Archiv gebracht wurden. Als historische Objekte sind sie dort am richtigen Platz. Mit den sorgfältig aufgemalten Namen und Daten der im ersten Weltkrieg „für das Vaterland“ gefallenen diakonischen Brüder und ehemaligen Zöglinge des Kinderheims in Ludwigsburg sind die Tafeln wichtige Zeugnisse für die Geschichte der Brüderanstalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf diese Weise können Kriegerdenkmäler und Gefallenengedenktafeln sinnvoll in ihrem historischen Kontext verortet werden.
Der Volkstrauertag wird heute als Gedenktag für alle von Krieg, Gewaltherrschaft und Terrorismus Betroffenen begangen. Bei der zentralen Feierstunde im Deutschen Bundestag spricht der Bundespräsident das traditionelle Totengedenken, das mit folgenden Worten beginnt: „Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.“
Namen und Lebensläufe – Spurensuche in den Karlshöher Brüderbüchern
Um den Namen der gefallenen Karlshöher Brüder weiter nachzugehen, eignen sich die regelmäßig herausgegebenen „Brüderbücher“ als interessante Quelle. Darin finden sich Kurzbiogramme der Diakone, die Einblick in ihre Lebensläufe und Arbeitsstationen geben.
Greifen wir zwei Namen auf der Gefallenengedenktafel heraus – Christoph Wohlgemuth und Jakob Waldenmayer.
Links auf der Tafel ist das Jahr des Eintritts in die Karlshöhe vermerkt, bei beiden 1904. Die Sterbedaten befinden sich rechts.
Aus dem Brüderbuch das Jahres 1912 erfahren wir Genaueres, nämlich, dass Christoph Wohlgemuth 1877 in Möttlingen bei Calw geboren wurde, dass er sich 1905 mit Friederike Hohenberger verheiratet hat und 1907 seine Tochter Maria zur Welt kam. Seine beruflichen Stationen erstrecken sich vom Stuttgarter Ludwigsspital, über das „Brenzhaus“, bis zum Gesellenheim „Hans Sachs“, wo er zuletzt als Hausvater wirkte und das alkoholfreie Vereinskaffeehaus betrieb.
Jakob Waldenmayer wurde 1881 in Zell, bei Kirchheim/Teck geboren. Bevor er die Karlshöher Ausbildung zum Krankenpfleger und Diakon begann, war er zwei Jahre beim Militär in Ulm. Seine beruflichen Stationen führten ihn nach Stuttgart in die „Herberge zur Heimat“ für wandernde Arbeitssuchende und in eine ähnliche Eirichtung in Straßburg. Er war tätig in der Chirurgischen Klinik in Tübingen, in der Arbeiterkolonie Erlach, als Diakon in Staigacker und schließlich wieder auf der Karlshöhe in Ludwigsburg.
Schauen wir im Brüderbuch von 1921, finden wir beide bei den Verstorbenen, unter der Rubrik „Entschlafene Brüder“.
Bei Christoph Wohlgemuth ist vermerkt, dass er am angegebenen Datum in einem Feldlazarett in Rostow seinen Kriegsverletzungen erlag. Darüber hinaus ist noch zu ersehen, dass vor dem Krieg, 1913, seine zweite Tochter, Elsa, geboren worden war.
Bei Jakob Waldenmayer erfahren wir, dass er bei Favreuil (Frankreich) gefallen ist.
Einträge für Waldenmayer und Wohlgemuth im Karlshöher Brüderbuch von 1912
Einträge in der Rubrik „Entschlafene Brüder“ im Karlshöher Brüderbuch von 1921