Welt-Tierschutztag am 4. Oktober

4. Oktober 2020 | | , ,

„Undankbarer Pferdequäler!“ möchte der Tübinger Pfarrer Christian Adam Dann einem Reiter zurufen, der hemmungslos auf sein Pferd eindrischt. Bei einem Gang durch die Stadt und in die umliegenden Dörfer entdeckt er zahllose Grausamkeiten gegen Tiere: Gänse mit jämmerlich blutender Brust, denen bei lebendigem Leibe die Daunen ausgerupft wurden, eine Ziege, die barbarisch an den Ohren gezerrt zum Weitergehen bewogen werden soll, halb verdurstete Kälber, die mithilfe von Hunden in den Stall gehetzt werden….
Unwillkürlich kommen uns Bilder der jüngsten Skandale in deutschen Schlachtbetrieben in den Sinn. Doch die Beobachtungen von Christian Adam Dann (1758-1837) stammen aus dem Jahr 1822. Aufgezeichnet hat sie der Pfarrer in seiner Schrift „Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn die Menschen“. Auf der Kanzel wetterte Dann gegen die Tierquäler, die er als die „elendste Klasse der Menschheit“ bezeichnete. Seine Predigten und Schriften entfalteten unter den Zuhörern und Lesern eine starke Wirkung. Noch Albert Schweitzer ließ sich später von seinen Gedanken inspirieren.

Über die Lebensverhältnisse von Tieren hat man sich lange Zeit kaum Gedanken gemacht. Tiere wurden als seelenlos und deshalb leidensunfähig angesehen. Erst ein neues Empfinden für die Natur, wie es im 18. Jahrhundert durch Aufklärung und später durch die Romantik aufkam, veränderte den Blick auf die Tiere. In Deutschland waren es vor allem vom Pietismus geprägte Pfarrer, die bei der Frage nach dem rechten Umgang des Christen mit der Schöpfung nun auch das Verhältnis zu den Tieren ins Auge fassten. So auch Christian Adam Dann, der heute als einer der herausragenden Pioniere des Tierschutzes gilt.
Nur wenige Monate nach Danns Tod gründete sein Schüler und Freund, der Pfarrer und Liederdichter Albert Knapp (1798–1864), im Winter 1837 in Stuttgart den ersten Tierschutzverein Deutschlands. Gleichzeitig rief er zur Gründung weiterer örtlicher Tierschutzvereine auf, auch über die württembergischen Grenzen hinaus. Wichtigstes Anliegen der frühen Tierschützer war der respektvolle Umgang mit Nutztieren, besonders mit Droschkenpferden und Schlachtvieh. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, sollte in Schule und Kirche die Tierliebe durch regelmäßige „Belehrungen“ gefördert werden, vor allem aber wollte man erreichen, dass Tierquälerei als Delikt in das Strafgesetzbuch aufgenommen wird. In der Tat verabschiedete der Württembergische Landtag 1839 im Polizei-Strafgesetz einen Artikel, der die rohe Misshandlung von Tieren mit einer Geldbuße oder Arreststrafe belegte.

Nachdem die beiden Pfarrer Dann und Knapp die ersten Schritte für einen organisierten Tierschutz gegangen waren, setzten sich ihre Gedanken rasch in ganz Deutschland durch. Der von Knapp initiierte Verein hatte zwar nur kurze Zeit Bestand, doch am 17. Juni 1862 kam es endgültig zur Gründung des Württembergischen Tierschutz-Vereins. 1881 vereinigten sich die lokalen deutschen Tierschutzvereine zum Deutschen Tierschutzbund. Er umfasst heute mehr als 740 örtliche Vereine mit mehr als 800.000 Mitgliedern.

Der Briefwechsel zwischen Christian Adam Dann und Albert Knapp aus den Jahren 1829 – 1836
befindet sich im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart (Knapp-Archiv D 2).

Literaturhinweise (Landeskirchliche Zentralbibliothek = LKZB):
Christian Adam Dann, Albert Knapp: Wider die Tierquälerei: Frühe Aufrufe zum Tierschutz aus dem württembergischen Pietismus (=Kleine Texte des Pietismus. Bd. 7), hrsg. von Martin H. Jung, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2002.
Darin enthalten die anonym erschienene Schrift von Christian Adam Dann: Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn, die Menschen. Fues, Tübingen 1822.
LKZB A7/8626

Beitragsbild: Ein Mann peitscht sein erschöpft zusammengebrochenes Lasttier aus. Auf dem in frommen Kreisen bekannten Zwei-Wege-Bild, das die Stuttgarterin Charlotte Reihlen 1867 entworfen hat, wird die Tierquälerei als Sünde dargestellt, die auf dem breiten Weg zur Verdammnis führt. Zum Zwei-Wege-Bild hier.

AUCH INTERESSANT:
Adam Gottlieb Weigen: De Jure Hominis in Creaturas.
Oder Schrifftmässige Erörterung Deß Rechts des Menschen Uber die Creaturen / Nach allen dessen Ständen (…). Stuttgart 1711 (Reprint 2008)
LKZB A 17/10935
Das Buch des Leonberger Pfarrers Adam Gottlieb Weigen (1677-1727) ist eines der frühesten Beispiele für die Auseinandersetzung mit dem Tierschutzgedanken in Deutschland. Es fand aber wenig Beachtung und geriet rasch in Vergessenheit. Weigen, ein Vertreter des frühen Pietismus, betonte die Gottunmittelbarkeit auch der Tiere und meinte, dass im Endgericht Tierquäler ihren Opfern wieder begegnen würden.

Teil III der Serie zur Nachkriegszeit: Vermisst? Der Suchdienst nach dem Zweiten Weltkrieg

29. September 2020 | | , ,

Mütter verloren ihre Kinder, Kinder ihre Mütter, Geschwister, Tanten, Großeltern. Auf dem Treck nach Westen wurden viele Familien auseinandergerissen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren Millionen von Menschen in Deutschland zwangsweise auf den Landstraßen und in Städten unterwegs. Es waren vor allem Menschen aus ehemaligen deutschen Ostgebieten, die Haus und Hof verlassen hatten, um sich vor der herannahenden Roten Armee im Westen in Sicherheit zu bringen. Aber auch Soldaten, die sich nach der Kapitulation der Front auf dem Rückweg zu ihren Familien befanden und in den zerbombten Städten weder ihr Haus noch ihre Angehörigen wiederfanden. Sie alle wanderten auf der Suche nach ihren Angehörigen mehr oder weniger ziellos durch das zertrümmerte Deutschland.

Um in dieser verzweifelten Lage Hilfe zu leisten, wurde ein Suchdienst aufgebaut. Eine Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus dem Rotem Kreuz, dem Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Caritas, war bis Juni 1948 gemeinsam tätig, danach lag der Suchdienst ausschließlich in den Händen des Roten Kreuzes. Der Suchdienst hatte drei Schwerpunkte:

 

1) Die Suche nach Kriegsgefangenen, Wehrmachtsvermissten und Verschleppten

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, L1, Nr. 3627.

Heimkehrende aus der Kriegsgefangenschaft wurden nach Namen und Adressen ihrer Kameraden in den Gefangenenlagern befragt. Auf Karteikarten wurden dann Feldpostnummern sowie Nummern der Gefangenlager gesammelt, um Anhaltspunkte über den letzten Aufenthalt des Vermissten geben zu können. Mit der Einrichtung einer „Sammelstelle für Heimkehrer Nachrichten“ konnte eine Auswertung der erhaltenen Nachrichten erfolgen. Bei der Suche nach Kriegsgefangenen und Wehrmachtsvermissten spielten Pfarrämter eine große Rolle. Sie waren für die Einholung und Überbringung von Heimkehrer-Nachrichten von Bedeutung, da sie als Anlaufstelle für Suchanträge fungierten.

 

2) Flüchtlingssuchdienst

Dem Flüchtlingssuchdienst standen Adressen zur Verfügung, die bei der Erfassung der Neubürger durch die Flüchtlingskommissare aufgenommen wurden. In der englisch und amerikanisch besetzten Zone – Deutschland war von den Alliierten in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden, einer englischen, amerikanischen, französischen und sowjetischen Zone –  gab es eine Zonenzentrale, die mit dem Suchdienst zusammenarbeitete.

Die Hilfskomitees ehemaliger deutschen Volksgruppen in Nordost- und Südosteuropa, wie z.B. der Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, der Slowakeideutschen, der Bessarabiendeutschen, Dobruschdadeutschen, und Baltendeutschen erstellten jeweils eine eigene „Heimatkartei“, die sich für viele als hilfreich erweisen sollte.

 

3) Kindersuchdienst

In Württemberg-Baden umfasste die Kartei des Suchdienstes 2 400 Kinder, die von ihren Angehörigen gesucht wurden und elternlose Kinder, die ihre Familien suchten. Der Großteil der Kinder stammte aus Ost- und Westpreußen und Schlesien. Über Rundfunk, Suchzeitungen und Bildplakaten versuchte der Suchdienst die Kinder ihren Familien zu zuführen. In Württemberg konnten von Mai 1947 bis Februar 1948 jedoch nur 30 Kinder wieder mit ihren Angehörigen vereint werden.

In unserem Archiv befinden sich verschiedene Archivalien über den Suchdienst. Aus dem Bestand des Diakonischen Werks L 1, das seine Wurzel im Evangelischen Hilfswerk hat, stammen das Plakat „Nachrichten über Vermisste“ von 1948, der Fragebogen der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Kirche der Umsiedler und das Formular der Zonenzentrale München. Das ehemalige Internierten-Lagerpfarramt Ludwigsburg mit der Signatur GS 6, dessen Dokumente von 1945 bis 1949 in unserem Archiv verwahrt werden, enthält die abgebildeten Formulare des Roten Kreuzes.

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Die Akademie Bad Boll feiert ihr 75-jähriges Jubiläum

25. September 2020 | |

Die Evangelische Akademie Bad Boll ist die älteste und größte europäische Akademie in kirchlicher Trägerschaft. Hinter ihr liegt eine lebendige Geschichte: 1945 Gründung durch Pfarrer Eberhard Müller, intensive Förderung einer demokratischen Gesprächskultur, Behandlung unterschiedlichster Themen, Vorreiterrolle in vielen Bereichen bspw. Nachhaltigkeit, prominente Gäste wie Theodor Heuss, Rudi Dutschke, Richard von Weizsäcker, Erhard Eppler, Theo Zwanziger, Alice Schwarzer, Winfried Kretschmann, Harald Welzer, Dorothee Sölle, Host Eberhard Richter und viele mehr.

Am Sonntag, 27. September, ab 15.00 findet der Festakt statt, der über Livestream übertragen wird. Näheres über den Festakt erfahren Sie über die Homepage der Akademie.

Teil II der Serie zur Nachkriegszeit: CARE-Pakete gegen verzweifelte Not

22. September 2020 | |

Das „CARE-Paket“ ist zum Symbol geworden für die Hilfe, die den Deutschen nach 1945 aus dem Ausland zuteilwurde. CARE bedeutet „Cooperative for American Remittances to Europe“.

In den ersten Jahren nach dem Krieg war die Ernährungslage in Deutschland dramatisch. Hunger und Auszehrung grassierten überall. Als Strafmaßnahme war von den Alliierten das Verbot verhängt worden, Hilfslieferungen in das besetzte Deutschland zu senden. Doch schon bald betrachteten die Westmächte die leibliche Versorgung der Bevölkerung als Voraussetzung für einen geordneten demokratischen Neuanfang. Deshalb wurde das Verbot im Dezember 1945 aufgehoben.

Vor allem aus den USA kamen Pakete mit hochwertigen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Fett, Zucker, Mehl, Reis, Ei- und Milchpulver. Das Evangelische Hilfswerk übernahm in Deutschland die Vermittlung eines großen Teils der Hilfsgüter. Als kirchliche Einrichtung verfügte es über einen Vertrauensvorschuss bei den Besatzungsmächten und verstand es zudem, seine ökumenischen Verbindungen in aller Welt zu nutzen. In Württemberg konnte das Evangelische Hilfswerk über ihre Verteilerstellen bis 1955 rund 4,5 Tonnen Hilfsgüter plus nahezu 65.000 Spendenpakete aus dem Ausland verteilen.

CRALOG – Spenden der Partnerkirchen in Übersee

Ein erheblicher Teil der Spenden, die das Hilfswerk aus dem Ausland erhielt, war den amerikanischen Partnerkirchen und den Mutterkirchen der deutschen Freikirchen zu verdanken. Die beiden hier gezeigten Pakete stammen von der CRALOG, der Dachorganisation der Hilfswerke der amerikanischen Kirchen. CRALOG heißt „Council of Relief Agencies Licensed to Operate in Germany“ (Rat der zur Arbeit in Deutschland zugelassenen Hilfsorganisationen). Eines der Pakete war vom „Lutheran World Relief Inc.“ an das Evangelische Hilfswerk, das andere Paket vom „Catholic Relief Services N.C.W.C.“ an den Caritasverband per Schiff nach Bremen gesandt worden. Im Gegensatz zu CARE ließ CRALOG seine Hilfssendungen ausschließlich durch die deutschen Wohlfahrtsverbände verteilen. Aufgrund dieser nur indirekten Beziehung zur deutschen Bevölkerung erlangte CRALOG im Bewusstsein der Menschen nicht die symbolische Bedeutung wie die CARE-Pakete, obwohl über CRALOG deutlich mehr Hilfsgüter verteilt wurden als durch CARE.

Die beiden leeren Hilfsgüter-Kartons überdauerten in württembergischen Pfarrhäusern, die als Verteilungsstellen des Evangelischen Hilfswerks fungiert hatten. In den Jahren 1994 und 2000 kamen sie mit Aktenlieferungen in die Museale Sammlung des Landeskirchlichen Archivs.

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Ein „monströses“ Kind

17. September 2020 | | ,

Die Menschen der Frühen Neuzeit waren fasziniert vom Fremden und Unbekannten, weshalb vor allem an fürstlichen Höfen so genannte Kuriositätenkabinette entstanden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass der Pfarrer von Unterheinriet die Fehlbildungen des am 9. Mai 1753 geborenen und auch getauften und namenlos gebliebenen wohl weiblichen Kindes des Schneiders Johann Eberhard Binder und seiner Ehefrau Margaretha detailliert – und in teils derben Worten – beschrieben hatte:

„Dieses war ein monstreuses Kind, in dem Gesicht sahe es ganz geschuppt aus wie ein Spiegel-Karpff, die Augendeckel waren ganz feüerroth, hatte eine kleine eingebuckte Nase mit 2 großen Löchern, die Ohren waren ganz hinten angewachsen, und an dem übrigen Leib, Händen, Armen, Schenckel und Füßen hatte es von außen her die Gestallt wie eine fetter abgezogener Hammel mit weißen und rothen Strichen durchströmgig, wurt von mir dem Pfarrer in seiner großen Schwachheit zu Hauß getauft und starb, nach vorherig geschehener Berichtung an das Löbliche Oberamt anderen Tags.“

 

Anmerkung

Spiegel-Karpff = Spiegelkarpfen, Zuchtform des Karpfens

 

Quelle

KB Unterheinriet, Mischbuch 1736-1808, Taufregister 1741-1775, S. 53

Teil I der Serie zur Nachkriegszeit: Nachkriegsnot in Bildern – ein Plakat von 1948

15. September 2020 | | , , ,

Der Papierrestaurator Matthias Raum brachte uns vor Kurzem das handgemalte Plakat des württembergischen Evangelischen Hilfswerks aus dem Jahr 1948 restauriert zurück.
Jahrzehntelange Lagerung hatten dem Objekt zugesetzt. Geknickt, eingerissen und verschmutzt kam es ins Landeskirchliche Archiv Stuttgart zusammen mit den Aktenbeständen des Diakonischen Werks Württemberg. Jetzt wurden die Schäden behutsam repariert und das brüchige Papier entsäuert. Das 197×136 cm große Plakat wird nun unter den klimatisch erforderlichen Bedingungen in unserem Magazin sachgerecht in einem Planschrank aufbewahrt. Das Plakat und seine Darstellungen einzelner Hilfseinrichtungen werden uns bis zum Jahresende bei unserer Serie „Nachkriegszeit“ als roter Faden begleiten.

Das Evangelische Hilfswerk

Das Evangelische Hilfswerk wurde auf der Kirchenvertreterkonferenz in Treysa am 23.8.1945 gegründet, um in der unmittelbaren Nachkriegszeit akute Nothilfe zu leisten. Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 endete in Deutschland der Zweite Weltkrieg. Das Land, das zuvor Völkermord und Zerstörung über Europa gebracht hat, lag in Trümmern. Traumatisierte und versehrte Menschen, Kriegswaisen, Heimatlose, Geflüchtete und Vertriebene benötigten Lebensmittel und Kleidung sowie eine erste Unterkunft. Auf EKD-Ebene wurde Eugen Gerstenmaier (1906-1986) mit dem Aufbau des Werks betraut, das Zentralbüro lag in Stuttgart. Die einzelnen Landeskirchen richteten eigene Hauptbüros ein, um über die regionalen kirchlichen Strukturen effektiv Hilfe leisten zu können. So auch in Württemberg. Unter der Leitung von Wilhelm Pressel (1895-1986) wurden landesweit Bezirksverantwortliche berufen und Bezirksbüros aufgebaut. Überall entstanden örtliche Kleiderkammern, Suppenküchen, Lebensmittelausgaben und Beratungsstellen – die Vorläufer der heutigen Diakonischen Bezirksstellen. Daneben errichtete das Hilfswerk Notaufnahmelager für Flüchtlinge und gründete verschiedene Heimeinrichtungen und Aufbaugilden.

Das Evangelische Hilfswerk wirkt heute als Diakonisches Werk weiter.

 

Wer hat das Plakat gestaltet?

Das Plakat zeigt eine Landkarte von Württemberg, auf der anschaulich sämtliche Einrichtungen und Initiativen des Hilfswerks dargestellt sind, die seit 1945 aufgebaut wurden und am 1.7.1948 noch bestanden. Das mit Tusche gezeichnete und kolorierte Plakat ist signiert mit „Curt Zeh 1947“. Wer ist dieser Curt Zeh? In den Akten des Evangelischen Hilfswerks liegen leider keine eindeutigen Nachweise für den Auftrag an den Künstler vor. Recherchen im Internet führten zu dem Oldenburger Plakatmaler Curt Zeh (1919-2013). Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg stand in enger Verbindung mit der württembergischen Landeskirche, so dass es durchaus vorstellbar war, dass das Evangelische Hilfswerk Württemberg auf der Suche nach einem Gestalter seinerzeit Kontakt dorthin aufgenommen hat. Ein Blick in seine Biografie ließ diese Annahme weiter plausibel erscheinen:

Curt Zeh hatte den Krieg selbst hautnah miterlebt. Mehrfach wurde er schwer verletzt, bei seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft fand er sein elterliches Haus in Leipzig zerbombt vor. In Oldenburg konnte er sich einige Zeit als Schriftenmaler über Wasser halten, indem er in einem Hangar auf dem ehemaligen Fliegerhorst für das britische Militär Grabkreuze der gefallenen britischen Soldaten beschriftete. Ab 1948 arbeitete er schließlich als Werbegestalter und machte sich in den 1950er Jahren einen Namen durch das Malen von großformatigen Kino- und Reklametafeln.

Der Kontakt zur Familie dieses Oldenburger Curt Zeh ließ jedoch Zweifel aufkommen, ob er der Gestalter des Plakats sein kann. Die Signatur in Deutscher Schrift sei, laut seiner Tochter, sehr untypisch – er signierte stets mit „ZEH“ in lateinischen Großbuchstaben. Seine Ehefrau erinnerte sich auch nicht, dass er je davon gesprochen habe, in der Zeit vor ihrer Heirat (1955) einen Auftrag vom Evangelischen Hilfswerk ausgeführt zu haben. Außerdem sei sein Malstil vollkommen anders gewesen. Die Suche nach dem Gestalter war daher nicht abgeschlossen und wir fragten uns, gibt es einen weiteren Künstler mit dem Namen Curt Zeh? Womöglich in Württemberg? Auf dem Sammlermarkt tauchten unlängst zwei Aquarelle mit Darstellungen von Bietigheim und Bad Cannstatt auf, die den gleichen Namensschriftzug tragen, wie das Hilfswerkplakat. Spannend wurde es, als wir Hinweise fanden, dass ein Curt Zeh aus Stuttgart 1952 am Rathaus Münsingen die malerische Gestaltung der Sonnenuhr ausgeführt hatte.  Der Kontakt mit dem dortigen Stadtarchiv führte uns tatsächlich zu einem zweiten Curth Zeh: Neben den Aufträgen für die Stadt Münsingen werden in einer Quelle vom 8. 11. 1950 der Auftrag für eine Bildkarte für das Evangelische Hilfswerk erwähnt. Auch wenn immer noch kein eindeutiger Beweis vorliegt, kann diese Information als Indiz gewertet werden, dass der Stuttgarter Curt Zeh auch schon 1947 mit dem Evangelische Hilfswerk in Kontakt war und damals den Auftrag für das großformatige Plakat erhalten hat.

 

Die Motive auf dem Plakat
Die Illustrationen auf dem Plakat spiegeln die Nöte und Hilfsleistungen der ersten drei Nachkriegsjahre in Württemberg wider. Die Landkarte Württembergs wird rechts und links unten eingerahmt von zerstörten Städten. Ihre Wahrzeichen liegen in Trümmern. In ihren Ruinen sind sie sich merkwürdig ähnlich, so dass der Illustrator die Stadtwappen als erkennbare Insignien und Reste des einstigen Stolzes dazu gesellte: Heilbronn, Ulm, Freudenstadt, Reutlingen, Heimsheim, Friedrichshafen, Löwenstein, Weinsberg, Crailsheim…
Am oberen und unteren Bildrand sind lange Reihen von Hilfesuchenden dargestellt: Alte, Junge, Versehrte, Kranke, Erschöpfte. Die Menschen oben entsteigen Zugwaggons – offensichtlich auf der Flucht, bepackt mit Bündeln, Koffern und Kisten. Unten kommen sie zu Fuß, schleppen ihr Hab und Gut auf Handkarren oder auf von Ochsengespannen gezogenen Wägen. In diesen Szenen sind all diejenigen dargestellt, an die sich die Arbeit des Hilfswerks richtet. Dazu wird deutlich: Der Arbeitsschwerpunkt lag bei den Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, die sich nach der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 auf den Weg in den Westen gemacht hatten. Die Probleme der Versorgung und Unterbringung, der Betreuung und Eingliederung – die Leib- und Seelsorge, waren für das Evangelische Hilfswerk in Württemberg eine immense Herausforderung.

Das zentrale bildbestimmende Motiv des Plakats ist die Karte von Württemberg. Unter anderem werden regionale Besonderheiten hervorgehoben: Wald- Wiesen- Jagd- oder Weinbaugebiete. Die Hauptinformation gilt jedoch den Orten, die Sitz einer Hilfseinrichtung sind. Eine Legende am rechten oberen Bildrand klärt auf, wo es sich um eine „Bezirksstelle“, eine „Einrichtung“ oder eine „Betreuungsstelle“ handelt. Kinderspeisungen gab es an so vielen Orten, dass sich der Illustrator mit dem Piktogramm eines essenden Kindes begnügt, das sich entsprechend wiederholt. Anders, bei Versehrteneinrichtungen wie in Isny und Oberstenfeld, wo einbeinige ehemalige Soldaten etwas individueller auf Krücken abgebildet sind. Das Altersheim in Lorch wird anschaulich durch zwei alte, gebückte Menschen auf einem Bänkchen darstellt. Jugenderholungs- und Freizeiteinrichtungen zeigen fröhliche junge Menschen, lesend, singend, musizierend.
Die Motive des Plakats sind vielgestaltig. In seiner Gesamtkomposition will es nicht nur informieren, sondern auch aufrütteln, sensibel machen für Problemfelder, vor allem aber Hoffnung vermitteln, dass die geleistete und zu leistende Hilfe wiederaufzurichten vermag, was zerstört wurde.
Mit dem Plakat zielte das Evangelische Hilfswerk Württemberg darauf ab, seine Leistungen vorzustellen, um letztendlich Gelder zu akquirieren. In den ersten Jahren nach dem Krieg war der Bedarf an Mitteln für Notleidende enorm und die Werbung um Spenden machte einen Großteil der Arbeit des Hilfswerks aus.

Wer sich das Plakat und seine Motive genauer ansehen möchte, findet die ausführliche Darstellung auf wkgo.de.

Beitrag über das Hilfswerkplakat in Württembergische Kirchengeschichte Online
Beitrag über das Diakonische Werk Württemberg in Württembergische Kirchengeschichte Online
Bestände Diakonie im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart

Einzelne Bildbeispiele der Motive:

Spuren von Georg Wilhelm Hegel im Landeskirchlichen Archiv

25. August 2020 | | ,

Am 27. August 1770 und somit vor 250 Jahren wurde der Philosoph Georg Wilhelm Hegel (1770-1831) in Stuttgart im damaligen, heute noch vorhandenen Haus der Familie geboren. Er gilt als Hauptvertreter des sogenannten Deutschen Idealismus und sein Werk hatte eine erhebliche Wirkung auf andere Denker. Im Landeskirchlichen Archiv hat er einige Spuren hinterlassen. So wurde er etwa gleich einen Tag nach seiner Geburt in der Stiftskirche evangelisch getauft, was in einem Taufregister vermerkt wurde. Und er wurde an der Universität Tübingen zu einem württembergischen Pfarrer ausgebildet. Die philosophischen Studien waren eigentlich nur als Grundlagenteil seines Studiums gedacht, auch wenn sie für seinen besonderen Lebensweg zur Hauptsache wurden. Zum Abschluss seines Theologiestudiums hatte er jedenfalls eine Prüfung vor den Stuttgarter Konsistorialräten abzulegen. Auch der Bericht über dieses Examen ist noch vorhanden.

Der Eintrag für Hegels Taufe befindet sich im Taufregister der Stuttgarter Stiftskirche, das heute im Kirchenbucharchiv im Landeskirchlichen Archiv verwahrt wird. Die Taufe, die am 28. August stattfand, also einen Tag nach der Geburt, führte vermutlich der damalige Pfarrer Johann Christian Storr (1712-1773) durch. Von eindeutig späterer Hand wurde der Eintrag mit „der Philosoph!“ markiert. In der ersten Spalte sind die Namen des Täuflings, rechts daneben der Vater Georg Ludwig Hegel (1733-1799), Rent-Cammer-Secretarius, also Finanzbeamter, dann die Mutter Maria Magdalana Louise, geborene Fromm (1741-1783) genannt. Die Taufpaten waren: Magister Johann Friedrich Breyer (1738-1826), Professor der Philosophie in Erlangen, – ein Cousin des Vaters -, mit seiner Braut Johanna Wilhelmina Frost, der Tochter eines Regimentsrats, Ludwig Heinrich Riecke (1729-1787), erster Stadt- und Amtsphysicus, Johann Georg Enßlin (1703-1779), Kommerzienrat in Tübingen, – ein Großonkel -, Magister Christian Friedrich Göritz, Gymnasiallehrer, Justina Magdalena Glöckler, Witwe von Johann Christoph Glöckler, des gewesenen Prälaten von Anhausen, Eberhardina Friedrica Breyer, geborene Hegel, Rentkammer-Expeditionsratswitwe, eine Großtante Hegels und Mutter des erstgenannten Paten, Christina Katharina Günzler, Witwe des Oberamtmanns Amandus Günzler.
In welchem Verhältnis die einzelnen Paten zu den Eltern Hegels standen, wird teilweise durch die Familienverbindungen deutlich. Teilweise waren es vermutlich persönliche Freundschaften, die die Personen verbanden. Zwei der Paten hatten ein Theologiestudium in Tübingen durchlaufen, welches sie dann aber in andere Berufe führte. Dies leitet zum nächsten Fundstück über.

Ab 1788 studierte Hegel in Tübingen Theologie und erreichte 1790 zum Abschluss des Grundstudiums den akademischen Grad eines Magisters der Philosophie. Danach fing das eigentliche Theologiestudium an, wo Hegel vor allem die dogmatischen und exegetischen Vorlesungen von Gottlob Christian Storr (1746-1805) hörte, des Sohnes des Pfarrers, der ihn getauft hatte (siehe oben). Als herzoglicher Stipendiat lebte Hegel während seines Studiums im Evangelischen Stift. Zeitweise waren dort der spätere Dichter Hölderlin und der spätere Philosoph Schelling seine Stubengenossen. Schon vor seiner theologischen Abschlussprüfung, die am 20. September 1793 im Stuttgarter Konsistorium stattfand, war bereits klar, dass Hegel als “Hofmeister” nach Bern gehen, also als Hauslehrer die Kinder einer wohlhabenden Familie unterrichten würde. Das Predigtamt lag ihm nicht. Seinem Antrag, früher zum Examen zugelassen zu werden, wurde stattgegeben. Deshalb wurde er bereits im September geprüft, während der Prüfungstermin seines Jahrgangs ansonsten drei Monate später lag (vgl. Beitrag über Hölderlin).

In einem der Testimonienbücher, welche die Zeugnisse der Konsistorialexamen und der Promotionen enthalten, ist  Hegels Examen überliefert. Er gehörte zu den Besten seines Jahrgangs (“Classe I”) und schloss sein Studium insgesamt als Viertbester (“4.”) ab, was beides oben im Zeugnis vermerkt wurde. Die Prüfung im Konsistorium bestand in einer Predigt auf der Kanzel in der Stiftskirche, die ja auch seine Taufkirche gewesen war (siehe oben), von 15 Minuten, und in einer mündlichen Prüfung, die in lateinischer Sprache geführt wurde und die in den Räumen des Konsistoriums im Kanzleigebäude stattfand. Wie aus dem entsprechenden Bericht im Konsistorialprotokoll (LKAS, A 3, Nr. 62, 1793, S. 391)  hervorgeht, waren neben ihm noch fünf andere Kandidaten zu diesem Termin eingeladen, nämlich die Pfarrer Ludwig Friedrich Le Prêtre (1748-1813) und Johann Christian Hintrager (1751-1826) sowie die Stipendiaten Christoph Ludwig Dobelmann (1756-1820), Johann Friedrich Schmoller (1760-1811) und Johann Gottlieb Helfferich (1760-1820). Wie man leicht erkennt, war Hegel bei weitem der Jüngste dieser zu Prüfenden. Zwei waren bereits als Pfarrer tätig. Vielleicht wurden bei diesem besonderen Termin außer der zeitlich vorgezogenen Prüfung für Hegel ansonsten Wiederholungsprüfungen durchgeführt. Die Prüfung fand als erster Punkt des freitäglichen Sitzungstages des Konsistoriums gleich morgens ab acht Uhr vor Konsistorialdirektor Karl Adolf Maximilian Ruoff, der von 1767-1788 weltlicher Konsistorialrat gewesen und dann zum Direktor aufgestiegen war, und den Konsistorialräten Georg Friedrich Griesinger (1734-1828),  Ernst Urban Keller (1730-1812) und Johann Ernst Friedrich Bernhard (1722-1798) statt.  Die jeweiligen Kandidaten erhielten eine Textstelle, über die sie predigen sollten, und hatten einige Zeit, um sich vorzubereiten. Hegel hatte seine Probepredigt, mit der die Prüfer nur einigermaßen zufrieden waren, über 1. Korinther 2,14 zu halten: „Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, denn es muss geistlich beurteilt werden.“

Hegels Abschlusszeugnis des Tübinger Stifts wurde im Testimonienbuch festgehalten und lautet mit deutscher Übersetzung:

Valetudo non constans (unbeständige Gesundheit), statura media (mittelgroßer Wuchs), eloquium haud gratum (keine bemerkenswerten rhetorischen Fähigkeiten), gestus pauci (zurückhaltende Gestikulationen), ingenium bonum (hervorragende geistige Anlagen), judicium excultum (gesundes Urteil), memoria tenax (sicheres Gedächtnis), scriptio lectu non difficilis (gut lesbarer Stil), mores recti (korrektes Verhalten), industria nonnumquam interrupta (gelegentlich nachlassender Fleiß), opes sufficientes (ausreichende physische Anlagen).
Studia theologica non neglexit (Erfolge in Theologie), orationem sacram non sine studio elaboravit, in recitanda non magnus orator visus (nicht ohne Eifer seine Predigerversuche, allerdings ist er kein großer Redner), philologiae non ignarus (gute philologische Kenntnisse), philosophia nullam operam impendit (keine Bemühungen in Philosophie)[!]

Das seltsame „nullam“ war ein Versehen des Schreibers. Offenbar hatte er das Wort vom Tübinger Stiftszeugnis falsch abgelesen. Mit dem heutigen Wissen um die große Bedeutung des Philosophen erscheint dies als ein geradezu komischer Fehler. Am Rand des Zeugnisses wurde denn das „nullam“ von späterer Hand auch in „multam“ korrigiert, also festgestellt, er habe ganz im Gegenteil natürlich sogar viel Mühe auf die Philosophie verwandt.

Hegel, der laut Konsistorialprotokoll das Examen insgesamt “zur Zufriedenheit” bestanden hatte, wurde die Annahme seiner Hauslehrerstelle “unter der Bedingung gestattet, daß er sich fleißig im Predigen übe, woran es ihm noch sehr fehle, und jedem Ruf in sein Vaterland sofort Folge leiste”. Der begabte Absolvent hatte als Prediger nicht überzeugt, wie übrigens in seiner späteren Philosophenlaufbahn trotz seiner Berühmtheit auch nicht als Vortragender.

Quellen: 

LKAS, Kirchenbucharchiv, Taufregister der Stiftskirche Stuttgart, 1765-72, Eintrag 28. August 1770, S. 304.

LKAS, A 13, Nr. 1, S. 389.

LKAS, A 3, Nr. 62, 1793, S. 391 (Bericht über den Prüfungstag im Konsistorialprotokoll)

 

Literatur:

Briefe von und an Hegel, Band IV, Teil 1. Dokumente und Materialien zur Biographie, Hrsg. von Friedhelm Nicolin, Hamburg 1977.

Hermann Ehmer, Das württembergische Konsistorium 1780-1795, In: Michael Franz (Hrsg.) „…an der Galeere der Theologie“?. Hölderlins, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, Bd. 23/3) Tübingen 2007, S. 263-283

 

Teil VI der quellenkundlichen Serie über die Kirchenkonventsprotokolle: „Sodom und Gomorrah“ auf der Alb oder illegale Spielfreuden an den Weihnachtsfeiertagen

24. August 2020 | |

Am Morgen des 24. Dezember 1749 fand der Laichinger Pfarrer Matthias Friedrich Brecht einen anonymen Zettel an seine Tür geheftet. Der Inhalt des Zettels und das Vorgehen wurden peinlichst genau in den Kirchenkonventsprotokollen festgehalten.
“An den hochgehrtesten Herrn Pfarrer,
bitte Euch um Gottes Willen, Ihr wollt so gut sein, und dem gottlosen Sodom und Gomorrha abhelfen, dem schrecklichen, in des Jakob Röschen Haus; Es ist schrecklich gottlos: man spielt jede Nacht […] bis morgens! Gott erbarme sich. Ich habe selbst ein Kind dorthin gehen; ich bitte den hochgehrtesten Herrn Pfarrer, er wolle doch dem gottlosen Haus abhelfen, darf doch der ganze Ort um des Lasters Willen gestrafft werden. […]. Es gehen Buben dahin mit 14 Jahren, Schüler; auch Konfirmierte mit 15., 16. Jahren. In der heiligen Christnacht stehen sie auf um 12. Uhr. Sie spielen bis morgends, da man in die Kirche geht; das ist ja ein Greul vor Gott dem Allmächtigen.”
Mit diesem Zettel, so ist weiter vermerkt, begab sich Pfarrer Brecht umgehend zum Amtmann und hat dort Unterredung gepflegt wie die Sache anzugehen sei. Sie gingen am selben Abend noch zum Haus von Jakob Rösch – aber dort herrschte Ruhe in dieser Nacht.
Am nächsten Abend, dem 26.12., ging der Pfarrer mit seinem Sohn gegen 21 Uhr wieder dorthin. Der Pfarrer traf eine ganze Stube voll Männer und ledige Burschen an, die Kartenspiele lagen auf den Tischen. Wohl 30 Leute waren an drei Tischen versammelt.
So bald der Pfarrer sich zu erkennen gab, war alles auf, und wollte zur Tür hinaus – des Pfarrers Sohn aber stand dagegen und ließ keinen hinaus, darauf lief eine Gruppe der Kammer zu, und stieg zum Laden hinauf; da aber diese Sache zu langsam ging, brachen die Leute die Fenster samt den hölzernen Rahmen entzwei, und schlupften haufenweise zum zerbrochenen Fenster hinaus, bis auf einen, nämlich dem so genannten Haffner Stoffel.
Die beteiligten Personen wurden unterschiedlich abgestraft: je nachdem, ob sie Karten gespielt oder gewürfelt hatten, bzw. nur als Zuschauer anwesend gewesen waren. Der ganze Vorgang wurde nach der Predigt im Gottesdienst “publice” (öffentlich) gemacht. Jakob Rösch wurde mitgeteilt, dass der Bericht über ihn noch nicht an das gemeinschaftliche Oberamt geschickt wurde, weil man sehen wolle, ob er sich nicht bessern werde.
(Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 24. und 29.12.1749)
Jakob Rösch wurde wegen der Sache vor das Gremium zitiert. Weil er bisher in seinem Haus kein Glücksspiel und andere dergleichen ärgerliche Dinge zugelassen hatte, kam er nur ins Zuchthaus. „Gebessert“ hat er sich nicht, wie spätere Eintragungen zeigen – dabei war seine Frau Anna Katharina die Tochter des Heiligenpflegers.
(Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 27.2.1750)
Hier war so gut wie alles, was nicht erlaubt war, versammelt – eine illegale Spielhölle in einem Privathaus am 2. Weihnachtfeiertag. Und am Ende stolpern alle zum Fenster hinaus und dabei bricht auch noch das Fenster aus der Wand. Nur der Haffner Stoffel schafft es nicht nach draußen. Die Liste der Unfug-Treibenden war bei 30 Beteiligten entsprechend lang. Zu vermuten bleibt, dass auch der Spaß, den die Beteiligten hatten, entsprechend groß war. Sprich, dass die riskierte Strafe einschätzbar und vielleicht auch einkalkuliert war. Denn dass eine solche Spielhölle unbemerkt bleiben würde, war nicht zu erwarten. Aber weiter nach oben, also an das Oberamt, sollte die Sache auch nicht gehen. Man regelte die Dinge gerne unter sich im Dorf.
Ein Blick in die Protokolle alleine reicht für ein Bild nicht aus. Sie geben jedoch Einblicke in die Arbeit der Richter und die Lebenssituationen der Gemeindeglieder. Dabei entsteht durchaus kein Abbild des Alltags, aber die Protokolle ermöglichen Ansichten des Alltags auf dem Land im 18. Jahrhundert. Sie gewähren Einblick in zwischenmenschliche, familiäre und dörfliche Konflikte und den Umgang mit diesen. Nicht zuletzt hat jeder Kirchenkonvent seine ganz eigene Geschichte, seine ganz eigenen Umstände.

Beitragsbild: LKAS, PfA Laichingen, B 75 (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 27.2.1750)

Bitte beachten Sie auch hier die Einführung in die Serie, sowie den quellenkundlichen Beitrag zu den Kirchenkonventsprotokollen auf der Homepage des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart.

75 jähriges Jubiläum Evangelisches Hilfswerk Württemberg

23. August 2020 | |

Heute vor 75 Jahren wurde das Evangelische Hilfswerk gegründet. Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 endete in Deutschland der Zweite Weltkrieg. Das Land, das zuvor Völkermord und Zerstörung über Europa gebracht hat, lag in Trümmern. Traumatisierte und versehrte Menschen, Kriegswaisen, Heimatlose, Geflüchtete und Vertriebene benötigten Lebensmittel und Kleidung sowie eine erste Unterkunft.

Um akute Nothilfe zu leisten, gründete die Evangelische Kirche in Deutschland am 23. August 1945 auf ihrer Konferenz in Treysa das Evangelische Hilfswerk mit Hauptsitz in Stuttgart. Die einzelnen Landeskirchen richteten eigene Geschäftsstellen ein, um über die regionalen kirchlichen Strukturen effektiv Hilfe leisten zu können. Landesweit wurden Bezirksverantwortliche berufen und Bezirksbüros aufgebaut. Auch in Württemberg entstanden so örtliche Kleiderkammern, Suppenküchen, Lebensmittelausgaben und Beratungsstellen – die Vorläufer der heutigen Diakonischen Bezirksstellen. Daneben errichtete das Hilfswerk Notaufnahmelager für Flüchtlinge und gründete verschiedene Heimeinrichtungen und Aufbaugilden.
Das Evangelische Hilfswerk wirkt heute als Diakonisches Werk weiter.

Das Landeskirchliche Archiv wird sich ab 15. September bis zum Jahresende in einer Blog-Serie anhand von Quellen, Objekten, Fotos und Plakaten mit dem Thema Nachkriegszeit beschäftigen, vieles davon aus dem Bestand des Diakonischen Werks bzw. des Hilfswerks, das sich in unserem Archiv befindet.

 

Beitrag über das Diakonische Werk Württemberg auf Württembergische Kirchengeschichte Online.

Beitragsbild: Plakat, gezeichnet von Curt Zeh, 1948 (Ausschnitt)

Teil V der quellenkundlichen Serie über die Kirchenkonventsprotokolle: Häusliche Gewalt gegen Ehefrau, Kinder, Mägde

21. August 2020 | |

Weitaus mehr als nur die Anklage wegen Kindesmisshandlung steht hinter einem tragischen Fall von 1742. Johannes Schwenk klagte zusammen mit seiner Tochter Barbara gegen deren Ehemann, den Kaufmann Georg Friedrich Schnitzer. Der Angeklagte hatte dem gemeinsamen Kind, geboren am 18.10.1741, während es krank war, kalte Milch zu Trinken gegeben und seine Kleidung nass gemacht. Nachdem ihn seine Schwiegermutter dafür gescholten hatte, beleidigte er sie als eine “krumme Scheißmaul”, zog seinen Degen und wollte sie damit verletzen. (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 9.5.1742).
Der Kirchenkonvent befürchtete, dass Georg Friedrich Schnitzer seiner Frau und dem Kind etwas anhaben könnte. Da Lebensgefahr (“periculus in mora”) bestand, wurde ihrem Vater, dem Rößle-Wirt Johannes Schenk-Edel, erlaubt, sie und das Kind für acht Tage zu sich ins Haus zu nehmen. Barbara Schnitzer wurde befragt, wie ihr Sinn bei diesen und anderen unerträglichen viehischen Aufführungen ihres Mannes sei? Sie meinte dazu, dass sie an Leib und Seele zugrunde gehe. Sie halte ihren Mann für “incorigibel” (unverbesserlich) und wünsche die Scheidung. Georg Fridrich Schnitzer sagte aus, dass er alles nur als Spaß getan und es nicht böse gemeint habe. Er wolle sich bessern und freundlich mit seiner Ehefrau umgehen. Das Ehepaar wurde vom Kirchenkonvent zum Frieden ermahnt und ihnen Gottes Gnade und Segen mitgegeben. Sollte Georg Friedrich Schnitzer weiter auf seinem “Unsinn” beharren, drohte man ihm mit der Weiterleitung an höhere Stelle.
Als Marginale ist vermerkt, dass der Vater dem Kind Schnupftabak in die Nase gestopft und gedroht hatte, es in die Hüle (den Dorfteich) zu werfen oder in die kalte Kammer zu legen. Ebenfalls vermerkt ist dort, dass Amtmann und Pfarrer den Vater schon vor einem halben Jahr verwarnt hatten. Die gemeinsame Tochter Angelica verstarb im Haus der Großeltern am 11.5.1742 mit gerade acht Monaten.
Für den Kirchenkonvent schien damit der Fall zunächst erledigt gewesen zu sein. Er hatte seine Pflicht getan, indem er die Parteien zum Frieden ermahnt hatte. Genügend Gründe, um ein Scheidungsverfahren einzuleiten, lagen nicht vor. Sechs Jahre später, nachdem Georg Friedrich Schnitzer dann auch noch seine Magd geschwängert hatte (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 13.2.1742, 14.2.1748: Schwangerschaft der Magd Angelica Moll)  und eine versuchte Vergewaltigung vorlag (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 9.5.1742: Versuchte Vergewaltigung der Maria Bainer im Haus des Delinquenten), waren genügend Gründe gegeben und der Kirchenkonvent in Laichingen schaltete höhere Stellen ein. Das Ehegericht in Stuttgart beschäftigte sich dann mit dem Fall.
Die Scheidung muss Ende 1748 oder Anfang 1749 stattgefunden haben, da Anna Barbara Schwenk-Edel 1749 in zweiter Ehe den Metzger, Kaufmann und Krämer Leonard Hetzler heiratete. Aus dieser Ehe gingen sieben Töchter hervor, von denen aber nur zwei das erwachsene Alter erreichten und heiraten.
(Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Pfarrarchiv Laichingen, Nr. 185.)

Beitragsbild: Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 9.5.1742.

 

Diakonieplakate

19. August 2020 | | ,

In unserem Archiv werden nicht nur Akten, sondern auch Plakate aufbewahrt. Im umfangreichen Bestand des Diakonischen Werks Württemberg, das dieses Jahr sein 50-jähriges Jubiläum feiert, befinden sich 182 Plakate, deren Verzeichnung nun abgeschlossen ist. Die Plakate erzählen in bildhafter Gestaltung von den Arbeits- und Aufgabengebieten der Inneren Mission und des Evangelischen Hilfswerks, die sich 1970 zum Diakonischen Werk Württemberg zusammengeschlossen haben. Die frühesten Plakate der beiden Institutionen, die sich bei uns befinden, stammen von 1947, das neueste von 2013. Ein wahrer Bilderschatz, der gesellschaftliche Entwicklungen und Notstände deutlich macht.

Zur Vertiefung: Beitrag über das Diakonische Werk Württemberg auf Württembergische Kirchengeschichte Online.

Teil IV der quellenkundlichen Serie über die Kirchenkonventsprotokolle: Häusliche Gewalt in der Ehe

17. August 2020 | |

Kartenspiel, um 1920. Landeskirchliches Archiv, Museale Sammlung

Durch „schlechtes Hausen“ und „Uneinigkeit im Hauswesen“, das oft mit Verschwendung, Müßiggang und Alkoholismus verbunden war, sah sich die Obrigkeit aus wirtschaftlichen Gründen zum Einschreiten gezwungen. Nicht, dass die Trinkenden und Streitenden irgendwann nicht mehr genug arbeiten konnten und Geld aus der Gemeindekasse wollten. An dieser Schnittstelle verbanden sich obrigkeitliche Interessen und die Nöte der Ehepartner, besonders oft der Ehefrauen.

Ein Fall aus dem Kirchenkonventsprotokoll des Albdorfs Laichingen mag beispielhaft die Thematik illustrieren. Nicht durch die geschlagene Ehefrau, sondern den Pfarrer Friedrich Ernst I. Perrenon kam es 1783, noch am Tag des Vorfalls (einem Sonntag!), zur Anklage gegen Jakob Hirsch. Er hatte auf der Straße beim Pfarrhaus seine Ehefrau mit einem Stecken auf den Rücken, auf den Kopf und ins Gesicht geschlagen. Sie blutete an der Schläfe. Wenn nicht ein Mann ihn von weiteren Schlägen abgehalten hätte, hätte er seine Frau wohl zu Tode geschlagen. Er wurde zum Pfarrer gebracht, Zeugen und seine Ehefrau wurden verhört. Er gab an, dass er „sein Weib auf diesem Platz oder zu Haus todschlagen“ wolle. Für die Körperverletzung musste Jakob Hirsch drei Tage bei Wasser und Brot und einer warmen Mahlzeit am Tag in das Gefängnis. Gleich zu Anfang der Verhandlung wurde erwähnt, dass der Angeklagte vor einem Jahr wegen „spielens sauffens und gehabter Händel“ einen halben Tag in den Dorfarrest musste. Er hatte kein Geld gehabt, um die Strafe zu bezahlen.

Viele Fragen bleiben offen. Zum einen, ob es ohne die Anwesenheit des Pfarrers zu einer Anklage gekommen wäre, ob die Sache überhaupt den Kirchenkonvent erreicht hätte. Oder ob hier durch das Schlagen der Frau auf offener Straße eine Grenze überschritten worden war ? Zum andern tritt die Schutzlosigkeit der Ehefrau zu Tage sowie das Unvermögen – und vielleicht auch der Unwille – des Kirchenkonvents, ihr Schutz zu gewähren.

Quelle: Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1782-1792, 4.10.1783

Teil III der quellenkundlichen Serie über den Kirchenkonvent: Sexualität

14. August 2020 | | ,

Die Ehe war ein zentraler Ordnungsfaktor der Gesellschaft und von oben geregelt. Dabei war festgelegt, ab welchem Alter geheiratet werden durfte, welche Zustimmungen nötig waren und welche Vermögensverhältnisse vorliegen mussten. Ehen sollten nach Ansicht der Gemeinden nur dann geschlossen werden, wenn die Begründung eines einigermaßen soliden Hausstandes gewährleistet schien, also die Eltern die zu erwartenden Kinder selbst versorgen konnten. Durch die Eheschließung und die Gründung eines eigenen Hausstandes (status oeconomicus) wurde der Mensch der Frühen Neuzeit erst zum vollen Mitglied der Gesellschaft. Knechte und Mägde waren außen vor.

Seit der Reformation wurde die Ehe in den protestantischen Gebieten eine weltliche Sache – mit kirchlichem Segen. Vor allem auf dem Land betrachtete die Bevölkerung im 17. und zum Teil noch im 18. Jahrhundert die Verlobung als konstituierendes Element für eine eheliche Hausgemeinschaft. Innerhalb bestimmter Verhaltensregeln erlaubten die Gemeinschaften den Beischlaf der Verlobten, was im Gegensatz zur obrigkeitlichen Auffassung stand. Eine Eheschließung war immer eine das gesamte Dorf betreffende Angelegenheit, da eine Verbindung sowohl ökonomisch als auch hinsichtlich des Standes „passen“ musste. Männer mussten mindestens 25 sein und insgesamt musste ein bestimmtes Vermögen vorliegen. Waren diese Voraussetzungen gegeben und fanden die Treffen der Versprochenen in der Öffentlichkeit statt, wie zum Beispiel in den sogenannten Lichtstuben (Treffen zum Handarbeiten im Winter in  einer beleuchteten Stube im Dorf), erlaubten die dörflichen Normen auch Sexualität, wie anhand des Albdorfs Laichingen festgestellt werden konnte. Wurden diese Regeln nicht eingehalten oder entzog sich im Fall der Schwangerschaft der Mann seinen Verpflichtungen, schritt das kirchliche Sittengericht ein. Aber man konnte manche Tatsachen auch für sich nutzen – eine nicht-eheliche Schwangerschaft schuf für einige Paare die Möglichkeit, ohne Vermögen eine Heiratserlaubnis zu erzwingen.

“Elisabeth, Melchior Riecken Filia at: 24: annorum bekennt, daß sie sich schwanger befinde seit 13 Wochen, und zwar von Jakob Uffrechten. […] at: 26 ann. Jakob Uffrecht gestand dies und gab weiter an, dass er ihr die Ehe versprochen habe und sie auch behalten wollte.”

Die Eltern der zum Zeitpunkt der Schwangerschaft 24-jährigen Elisabeth verfügten über keinerlei Vermögen. Hingegen waren die Vermögensverhältnisse der Eltern des werdenden Vaters günstiger, doch wollten diese vor ihrem Tod nichts davon abgeben. Das Paar heiratete am 7.8.1742 und bekam in den folgenden Jahren insgesamt zehn Kinder, von denen aber nur fünf die Kindheit überlebten. Vermutlich bedingt durch die ökonomischen Verhältnisse der Familie war die Eheschließung von dreien der Töchter ebenfalls erschwert, so dass sie ledig Mütter wurden. Ihre Kinder verstarben jedoch. (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 4.5.1742)

Die entsprechenden Fälle in den Protokollen des Laichinger Kirchenkonvents erwecken den Eindruck, dass uneheliche Schwangerschaften ohne großes Aufheben abgehandelt wurden. Auch auf Seiten der Richter war man sich darüber im Klaren, dass solche Schwangerschaften nicht zu unterbinden waren. Vor allem Frauen nutzten den Kirchenkonvent, um ihre Interessen zu wahren. Leider wurde dieser Spielraum ab dem Ende des 18. Jahrhunderts immer enger bzw. durch den Pietismus sehr moralisiert und entmenschlicht.

Siehe hier die Einführung in die Serie über die Kirchenkonventsprotokolle.

Beitragsbild: Spinnstube. Autor unbekannt – Otto von Reinsberg-Düringsfeld: Das festliche Jahr in Sitten, Gebräuchen und Festen der germanischen Völker. Mit gegen 130 in den Text gedruckten Illustrationen, vielen Tonbildern u. s. w. Spamer, Leipzig 1863. Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: Germ.g. 390 w

Teil II der quellenkundlichen Serie über die Kirchenkonventsprotokolle: Üble Nachrede und verdächtiger Umgang

10. August 2020 | |

Wenn die gesetzte Ordnung prinzipiell in Frage gestellt wurde bzw. das Thema der Ehre ins Spiel kam, war mit den Richtern nicht zu spaßen. Fluchen/Schwören waren damals Gottes- und Obrigkeitslästerung. Klagen wegen angeblicher Hexerei, Diebstahl, Schimpfwörtern und falschen Gerüchten betrafen die Ehre. Da wurde der Kirchenkonvent als Instanz zur Wiederherstellung der Ehre genutzt.
In der Frühen Neuzeit wurde die Ehre einer Person und seine Stellung innerhalb der Gesellschaft durch Herkunft, Vermögen und Leumund festgelegt. So entstand eine Form des sozialen Kapitals, das gerade für Frauen eine spezifische Bedeutung im Bereich der Sexualität bekam. Durch die familiäre Einbindung jeder Frau waren auch die übrigen Familienmitglieder, also auch die Ehemänner, betroffen. Wie aus der Sichtung der Protokolle erkennbar ist, kam es nicht selten vor, dass Frauen von Angehörigen ihres eigenen Geschlechts der Hexerei, des schlechten Umgangs, der Liederlichkeit bezichtigt und mit Schimpfwörtern wie Hure belegt. Dahinter steckte wohl oft Neid: ein Mechanismus, der bis in die Gegenwart anhält.
Die Kirchenkonvente gingen solchen Anschuldigungen nach und befragten Zeugen, um ein genaues Bild der jeweiligen Angelegenheit zu gewinnen. Sie versuchten vor allem im Fall des Vorwurfs der Hexerei, den Vorwurf zu entkräften und als böses Geschwätz zu enttarnen. Es ging darum, deutlich zu machen, dass es keine Hexerei gibt und damit auch keine Hexen. Ziel der Bestrafung war immer die Versöhnung der Parteien, um den Frieden wiederherzustellen. Bestraft wurde mit öffentlichen Widerrufen und Entschuldigungen, Geld- und Gefängnisstrafen und im Fall von übler Nachrede mit „auf das eigene Maul schlagen“.
Am 14. März 1731 wurde Anna Maria Hiller wegen der Untersuchung einer Verleumdungsangelegenheit vor den Konvent gerufen. Sie hatte angegeben, dass Appolonia Clauß überall behauptete, dass die Katze des Ehepaars Hiller ihnen von Laichingen bis über Ulm hinaus gefolgt sei. Daher wurde Anna Maria Hiller vor den Kirchenkonvent in Laichingen zitiert. Anna Maria Hillers Zeuge, Walter Franck, belastete jedoch Appolonia Clauß und ihre Schwester Margaretha Koch schwer. Am Ende gestand Margaretha Koch, die Geschichte erfunden zu haben. Margaretha Koch bekam folgende Strafe: sie soll 3-mal um den „Trill“ (Drehkreuz am Dorfeingang) geführt werden, eine viertel Stunde dabei stehen bleiben, und als dann bis auf den Abend in das Zuchthäußle (Dorfarrest) gelegt werden. Sie musste Anna Maria Hiller die Hand geben, sich selbst auf den Mund schlagen, und Anna Maria Hiller vor dem ganzen Kirchenkonvent für ehrlich bezeugen (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1726-1730, 14.3.1731).

Beitragsbild: Verhandlung über Anna Maria Hiller vor dem Kirchenkonvent in Laichingen am 14.3.1731.

Siehe hier die Einführung in die Serie über die Kirchenkonventsprotokolle.

Quick-Guide für den Notfall

6. August 2020 | |

Wenn es im Archiv gebrannt hat oder Wasser im Magazin steht, muss schnell gehandelt werden. Nachdem die Feuerwehr den Brand gelöscht oder das Wasser abgepumpt hat, müssen alle Materialien aus den betroffenen Magazinen geräumt werden. Zu den Sammlungen im landeskirchlichen Archiv und der Landeskirchlichen Zentralbibliothek gehören nicht nur Akten, Bücher, Fotos oder Filme, sondern auch Gemälde, Paramente oder liturgische Geräte. Das bedeutet: im Notfall müssen Objekte aus Papier, Pergament, Leder, Filmmaterial, Glas, Stoff und Metall materialgerecht verpackt, transportiert und ggf. getrocknet werden. Damit in der Aufregung alle Mitarbeiter wissen, wie mit den verschiedenen Objekten umgegangen werden muss, hat der Notfallverbund Stuttgart diesen Quickguide für die Hosentasche erstellt. Wir sind nun vorbereitet – hoffen aber, dass der Notfall nicht eintritt …

Was können uns Kirchenkonventsprotokolle aus dem Laichingen des 18. Jahrhunderts erzählen?

3. August 2020 | |

Eine Magd, die in der Kirche einer anderen Frau ins Gesicht schlägt. Ein Mann, der seine Frau auf offener Straße mit einem Stecken auf den Kopf prügelt. Und ein anderer, dessen Haus sich am zweiten Weihnachtsfeiertag in eine Spielhölle verwandelt. Sie alle mussten vor fast 400 Jahren vor den Richter treten. Ihre Geschichten finden sich in den Laichinger Kirchenkonventsprotokollen. Sie werfen Schlaglichter auf das Leben der Menschen Württembergs in der frühen Neuzeit – als ob wir alte Fotos in den Händen halten und versuchen, etwas aus den Aufnahmen herauszulesen.

Beim Lesen der alten historischen Quellen, ist es hilfreich, den Kontext zu kennen, der den Hintergrund für die Entstehung bildet. Den wichtigsten Rahmen für die Frühe Neuzeit bildet die Einheit von Kirche und Staat, von geistlichem und weltlichem Bereich. Ein Teil der „guten Policey“ waren die 1642 eingerichteten Kirchenkonvente. Sie sollten ein „gutes“ Zusammenleben aller „richten“. Es ging dabei um den „gemeinen Nutzen“ aller, denn nur durch diese gute Ordnung sind alle vor dem Zorn Gottes und seiner Strafe geschützt. Vergehen mussten angezeigt und vor aller Augen öffentlich abgebüßt werden.
Dass die Obrigkeit trotzdem die Realitäten wahrnahm und keineswegs davon ausging, dass sämtliche Verordnungen, Reskripte, Erlasse und Gesetze treu befolgt wurden, ist mittlerweile bekannt. Ebenso wenig ist Gesetzgebung ein Akt, der nur von oben nach unten vollzogen wird. Gesetze, Normen stoßen immer auf Resonanz und diese wird zurückgeworfen.
Doch nicht nur die Obrigkeit war an einer guten Ordnung interessiert. Prinzipiell war dem „gemeinen Mann“, dem Untertan, ebenfalls daran gelegen, dass Regeln eingehalten wurden. Das eigene Verhalten wurde durch die Furcht vor einer Bestrafung konditioniert. Nur über die genauen Inhalte des Verhaltenskataloges war man sich je nach Stand und individuellen Lebensumständen uneins.
Und wer hat nun wen gerichtet?
Der Vorsitzende des Kirchenkonvents war der jeweilige Pfarrer. Zudem waren der Amtmann (Schultheiß), der Heiligenpfleger (Kirchenpfleger) und mindestens zwei Ratsmitglieder feste Mitglieder dieses lokalen Gerichts. Bei der Strafbemessung sollten die jeweiligen Lebensumstände berücksichtigt werden.
Und über was wurde gerichtet beziehungsweise berichtet?
Schauen wir uns ein paar Seiten aus den Laichinger Protokollen des 18. Jahrhunderts an und machen uns selbst ein Bild: Laichingen war ein Marktflecken auf der mittleren Schwäbischen Alb. Das Vermögen der Pfarrei war erheblich – sie gehörte zu den reichsten im Herzogtum Württemberg. Bekannt war der Flecken für seine Leinenweberei.

Zunächst werfen wir den Blick auf sogenannten „Unfug“, der von Jugendlichen, meist jungen Männern, an Sonn- und Feiertagen begangen wurde.
Unfug gab und gibt es immer. Im 18. Jahrhundert zählten dazu Karten- und Würfelspiele, Alkoholkonsum, Kegeln, Lärmen, Schlittenfahren sowie die Nichtbeachtung der für die Gasthäuser festgelegten Sperrstunde. Zum Teil war der Unfug an Werktagen erlaubt, aber ausdrücklich nicht am Sonntag, insbesondere nicht während oder im Gottesdienst. So konnte eine lustige Schlittenfahrt mit Gejohle aus dem Nachbarort zurück nach Laichingen mit einer Geldstrafe sanktioniert werden. Zwei junge Burschen und ein junges Mädchen kostete dies im März 1757 jeweils 53 Kreuzer (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1754-1764, 3.3.1757).

Ebenfalls 1757 waren drei junge Burschen ohne Erlaubnis des Pfarrers am Sonntag nach Machtolsheim gegangen und verübten allda „mit trinken, jollen, händeln […] großen unfug“. Die Strafe folgte umgehend. Sie mussten jeweils eine Geldstrafe von einem halben Pfund Heller in die Gemeindekasse einzahlen. Der Strafe fiel hier höher als bei der Schlittenfahrt aus, – vermutlich da auch noch Alkohol und Streit eine Rolle spielten.
Völlig unpassend erschien die kleine Frauenschlägerei in der Kirchenbank der Laichinger Dorfkiche St. Alban zwischen den Gottesdienstbesucherinnen Barbara Koch und Appollonia Bohnacker. Barbara Koch klagte, ihre Kontrahentin habe sie im Sonntagsgottesdienst so ins Gesicht geschlagen, „daß sie aus dem Maul geblutet habe“. Appollonia Bohnacker wurde für dieses Vergehen mit zwei Tagen Zuchthaus (dörflicher Arrest) bestraft. Da sie eine arme Magd ohne jeglichen Besitz war, hatte sie nicht die Möglichkeit, stattdessen eine Geldstrafe zu entrichten. Leider geht aus dem Protokoll nicht hervor, aus welchem Grund sich die beiden Frauen gestritten hatten. Und: Wählte Appollonia, die „guten Wandels, aber arm“ war, die große Bühne der Kirche womöglich sogar bewusst? Was für eine Geschichte sich hinter dem kurzen Eintrag verbirgt – wir werden es nie erfahren (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1754-1764, 16.1.1757).

Weitere quellenkundliche Aspekte der Kirchenkonventsprotokolle folgen in den kommenden Wochen auf diesem Blog.

Hinweis auf die Quellenkunde auf der Homepage des Landeskirchlichen Archivs: Kirchenkonventsprotokolle von Bertram Fink.

Die Verfasserin hat als Abschlussarbeit ihres Geschichtsstudiums eine umfangreichere Arbeit zu dem Thema verfasst.

Das Klischee des groben Bauarbeiters

29. Juli 2020 | | ,

Woran denken Sie, wenn Sie das Wort Bauarbeiter hören? Möglicherweise denken Sie an die berühmte Fotographie „Mittagspause auf einem Wolkenkratzer“ aus dem Jahr 1932, die elf Männer zeigt, die auf einem Stahlträger sitzend, ihre Mittagspause abhalten, unter ihnen die Straßen von New York. Vielleicht kommen Ihnen aber auch Bilder von einerseits muskulösen, oberkörperfreien jungen Männern in den Kopf, die in der Sonne ihre Muskeln spielen lassen – oder im Gegenteil beleibte ältere Herren, die nichts anderes tun, als Kaffeepause zu machen, Frauen hinterher zu pfeifen und hin und wieder ihr „Bauarbeiter-Dekolleté“ sehen zu lassen. Dies alles sind Bilder, die uns unsere kulturelle Erziehung mitgegeben hat – und die nichts weiter sind als bloße Klischees unserer Gesellschaft. Wer beispielsweise als SteinmetzIn an der Restaurierung und Erhaltung eines Bauwerks wie des Ulmer Münsters beteiligt ist, braucht viel mehr als bloße Muskelkraft – er/sie braucht Fingerspitzengefühl, ein gutes Auge für Details und künstlerische Begabung. Dass nicht nur der/die BaumeisterIn, sondern auch sein/e/ihr/e WerkmeisterIn, sein/e/ihr/e VorarbeiterInnen und PolierInnen und damit alle Mitglieder einer Bauhütte, die durch diese Berufsgruppen repräsentiert werden, diese Eigenschaften besitzen, zeigen die vielen überlieferten Bautagebücher, Notizhefte und Skizzenbücher aus dem 19. und 20. Jahrhundert des Archivbestands der Ulmer Münsterbauhütte. Detaillierte Skizzen und Zeichnungen von Fialen, Spitzbögen und anderer architektonischer Objekte zeugen von Werktreue, Leidenschaft und hohem künstlerischen Anspruch. Diese Bücher vermitteln uns einen Eindruck von den Menschen, die ihr berufliches Leben der Erhaltung des Ulmer Münsters gewidmet haben und vermitteln ein ganz anderes Bild, als es die gängigen Klischees über im Bauwesen beschäftigte Arbeitnehmer heute tun.

Die kriegsbedingte Biografie des Schulmeisters Hans Meckh

27. Juli 2020 | | ,

In einem Totenregister von Willmandingen (Sonnenbühl, Lkr. Reutlingen) ist unter dem 10. Dezember 1670 der Begräbniseintrag des Schulmeisters Hans Meckh (Meekh, Möck, Mäck) zu finden. Neben den üblichen Angaben sind außerdem biografische Informationen vermerkt. Aus diesem geht hervor, dass der Schulmeister wegen Krieg und Hunger seinen Heimatort verlassen und sich über zehn Jahre an anderen Orten verdingen musste:

„Den 10. 10bris ist ehrlich mit dem Gesang der Schuler zur Erden bestattet worden unser alter Schulmeister Hans Meekh, welcher 75 Jahr alt worden, vor der Nördlinger Schlacht 14 Jahr Schulmeister gewesen der Krieg und Hunger hat ihn auch hinweg gebracht, da er sich dann zu Lindau am Bodensee als ein Quardirknecht 5 Jahr brauchen laßen, und umb Memingen in der Statt und in Dörfern bey 5 Jahr gewesen. Nach dem Friedenschluß anno 1648 ist er wider gekommen und abermal 18 Jahr Schulmeister mit Lob gewesen, 5 Jahr lang wegen Alters den Dienst nit versehen können, vom Heiligen [= Kirchenvermögen] hat man ihme von den letsten Wochen im Monat Octobri 1669 an, wochentlich 6 Kreuzer auf Vogt und Specials Bewilligung durch mich, Ambtmann und Gericht gemacht und geraicht worden.“

Die Nördlinger Schlacht war eine entscheidende Schlacht während des Dreißigjährigen Krieges am 5. und 6. September 1634 bei Nördlingen im heutigen Bayern, die von protestantischer Seite, Schweden und Verbündete, verloren wurde und die weitreichende Folgen hatte. Der württembergische Herzog Eberhard III. floh nach Straßburg. Große Teile des Herzogtums wurden von katholisch-kaiserlichen Truppen besetzt, ganze Landstriche geplündert und verwüstet. Kaiser Ferdinand II. verschenkte große Gebiete Württembergs an Verwandte und Verbündete. Erst durch den Westfälischen Frieden 1648 erhielt der Herzog das Herzogtum zurück.

Als Schulmeister wurde Meckh bei den alljährigen Visitationen neben dem Pfarrer ebenfalls geprüft, so dass weitere Informationen zu ihm in den für das 17. Jahrhundert nur lückenhaft überlieferten Visitationsprotokollen zu finden sind. Im Protokoll für den 9. Mai 1654 wird über ihn und seinen Schuldienst berichtet:

„Vor dißem [Schuldienst] diese Schul versehen 14 Jahr lang, und an jetzt nachdem Willmandingen wider auß oesterreichischer Hand liberirt worden in die 7 Jahr. Ist bey fürstlicher Cantzley examinirt und confirmirt worden. Vergangenen Winter Schul gehalten, Knaben gehabt 21, Mägdtlin 6. Versihet neben der Schul auch die Mesnerey.

Testimonium Ludimoderatoris: Hat ein gut Lob seines Verhaltens halber. Sey vleissig mit den Schulkinder, lehr sie wol, wie er dan Kinder solle haben, die in die 20 und 30 Psalmen außwendig sollen können her sagen. So warte er auch vleissig der Mesnerey ab, also das niemandt uberal an ihme habe etwas zu klagen.“

Die Visitationsprotokolle für 1656 und 1658 bis 1661 äußern sich ähnlich positiv. Auch seine kriegsbedingte Abwesenheit wird mehrfach erwähnt. Aus den Protokollen geht außerdem hervor, dass er keine eigenen Kinder hatte. Das Protokoll für 1667 ist das letzte, in dem Meckh erwähnt wird. Dort heißt es:

„Hatt seinen Officio nach Vermögen abgestattet, ist hierüber erkranckhet, und würdt wegen hohen Alters die Schul nicht mehr versehen kenden.“

Hans Meckh war also von 1620 bis 1634 und von 1648 bis 1667 Schulmeister in Willmandingen. In den 14 Jahre dazwischen war er kriegsbedingt nicht in Willmandingen. In seinem Begräbniseintrag findet man Informationen darüber, wo er sich ca. zehn Jahre aufhielt, für die restliche Zeit liegen keine Informationen vor. Er wird vermutlich, wie andere durch den Krieg Vertriebene, auf der Suche nach Arbeit, Nahrung und Obdach durchs Land gezogen sein, immer auf der Hut vor marodierenden Söldner.

Aufgrund der Altersangaben in seinem Begräbniseintrag und in den Visitationsprotokollen kann seine Geburt auf das Jahr 1595 eingegrenzt werden. Da die Kirchenbücher von Willmandingen jedoch erst ab 1641 überliefert sind, kann sein genaues Geburts- oder zumindest das Taufdatum leider nicht festgestellt werden.

 

Quellen

KB Willmandingen, Mischbuch 1641-1807, Totenregister 1647-1728, ohne Seitenzählung

Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 281, Bü. 1026, II, Bl. 13v (Visitationsprotokoll 1654)

Landeskirchliches Archiv Stuttgart (LKAS), A 1, Nr. 20, Bl. 284r (VP 1656)

LKAS, A 1, Nr. 22, Bl. 339v (VP 1658)

LKAS, A 1, Nr. 23, Bl. 349v (VP 1659)

LKAS, A 1, Nr. 24, Bl. 349v (VP 1660)

LKAS, A 1, Nr. 25, Bl. 363v (VP 1661)

LKAS, A 1, Nr. 27, Bl. 367r (VP 1667)

Neu in den Kleinen Schriften des Vereins für Württembergische Kirchengeschichte erschienen: Die Stadtkirche St. Georg in Weikersheim

23. Juli 2020 | | ,

Der kleine überarbeitete Kirchenführer durch die Stadtkirche St. Georg zu Weikersheim liefert neue Erkenntnisse sowohl zu ihrer Vorgängerkirche und Baugeschichte als auch ihren Ausstattungsstücken. Im ersten Teil werden die Quellen, die für die Entscheidungen über einen Neubau relevant sind, ausgewertet und in die heutige Sprache umgesetzt. Im zweiten Teil wird die vielschichtige Entwicklung von der einst einfachen romanischen Kirche bis zur heutigen Stadtkirche mit ihrem wohl gelungenen Stilpluralismus dargestellt und kann lebendig nachvollzogen werden. Innenraum und Außenbau des Kirchengebäudes erschließen sich durch präzise Beschreibungen und anhand ausgewählter Betrachtungen, die alle historisch, kunsthistorisch oder kulturhistorisch interessierten Besucherinnen und Besucher in die jeweilige Stilepoche der jeweiligen Kunstobjekte eintauchen lassen. Zahlreiches Anschauungsmaterial dient als lebendige Begleitung des Fließtextes, der nicht zuletzt von der geistlichen Botschaft des Sakralgebäudes im christlichen Abendland zeugt.

Die Autoren sind Dr. Anette Pelizaeus M.A., Kunsthistorikerin und Inventarisatorin im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart und Günter Breitenbacher, Studiendirektor A.D. am Gymnasium Weikersheim.

Der Band kann zu einem Preis von 4,00 Euro über unser Sekretariat (Margarete.Gruenwald@elk-wue.de) oder über das Dekanat Weikersheim bezogen werden.

 

Eine gut gezeichnete Illustration eines traurigen Anlasses

20. Juli 2020 | | ,

Die Einträge ungewöhnlicher Todesfälle in Totenregistern zeichnen sich meist durch umfangreicheren Text aus. In einem Totenregistern von Neuenstadt am Kocher sticht einer dieser Einträge aber in erster Linie durch die gut gezeichnete Illustration am Rand des Eintrages hervor, die das für den Tod ursächliche Unglück unmissverständlich darstellt, ohne dass der Betrachter noch den Text lesen muss. Dieser lautet wie folgt:

 

  1. Oktober 1605: „Peter Pfläderer, der alt, über die 70 Jahr, ist draußen auff der Fuhrstrasse, als er mit Saltzscheiben widerumb heimgefahren, über den Wagengaul abgefallen, das vorder Radt ist ihme über ein Fuß, das hinder über den Leib gangen, das er in 2 Stunden hernachen, zu Stopffloch, einem bapistischen Flecken, dem Khummeter von Ellingen zugehörig, ein halb Meil wegs von Weißenburg am Sandt, gestorben, undt folgends daselbst begraben. Ist allhier seiner Meldung gethan worden, den 8. Tag Novembris, am gmeinen Gebettstag.“

 

Das Fuhrwerk des Peter Pfläderer hatte, wie auch in der Illustration dargestellt, keinen Kutschbock. Die dargestellte Kutsche wurde von drei hintereinander angespannten Pferden gezogen (Pfläderers Kutsche hatte vermutlich sechs paarweise hintereinander angespannten Pferde, die aber auf der Zeichnung nicht dargestellt werden konnten). Es saß deshalb wahrscheinlich selbst auf einem der Pferde, von dem er heruntergefallen und unter die Räder geraten war. Aus dem Todeseintrag geht nicht hervor, ob ihn jemand gefunden und nach Stopffloch, dem wohl nächstgelegenen Ort, gebracht hatte oder ob er selbst noch dorthin gefahren war.

Einen Ort „Stopffloch“ gibt es nicht. Im bayerischen Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen gibt es jedoch den Ort Stopfenheim, heute Ortsteil von Ellingen in Mittelfranken. Dieser kleine katholische Ort gehörte einst zur Landkommende Ellingen des Deutschen Ordens, unterstand also dem dortigen Komtur. Es ist anzunehmen, dass dieser Ort gemeint ist, auch wenn die Entfernungsangabe von einer halben Meile (1 Meile = ca. 7,5 km) bis Weißenburg in Bayern nicht passt, da die tatsächliche Wegstrecke ca. 10 km beträgt. Klarheit könnte hier das entsprechende Totenregister von Stopfenheim bringen, jedoch sind die dortigen Kirchenbücher erst ab 1635 überliefert.

Peter Pfläderer hatte, wie im Kirchenbucheintrag beschrieben, und auf der Darstellung auch gut erkennbar, sogenannte Salzscheiben geladen, von denen jede anderthalb Zentner gewogen haben dürfte. Ein Loch in den Scheiben ermöglichte, diese beim lokalen Salzhändler aufzuhängen und wohl auch, sie für den Transport aneinanderzuzurren. Das Wasser der Solequellen wurde damals in riesigen Pfannen gesotten. Daraus erklärt sich die für heutiges Verständnis seltsame Form der Salzportionen. Woher das hier dargestellte Salz stammte, wird nicht klar. Aber der Fuhrmann befand sich auf dem Heimweg, so dass Schwäbisch Hall wohl nicht in Frage kommt. Zeitgenössische Abbildungen von solchen Salzfuhrwerken dürften jedenfalls sehr selten sein.

Der Zeichner der Illustration war wahrscheinlich der registerführende Pfarrer Christoph Kautz (1561-1607).

 

Quellen

KB Neuenstadt am Kocher, Mischbuch 1555-1636, Totenregister 1558-1636, Bl. 168r

wikipedia, Meile

wikipedia, Stopfenheim

wikipedia, Liste der Kommenden des Deutschen Ordens

Diözesanarchiv Eichstätt, Kirchenbücher

Biografische Informationen zu Christoph Kautz

Demografische Entwicklung eines Ortes im 17. Jahrhundert anhand der Synodusprotokolle

15. Juli 2020 | | ,

Lienzingen ist ein württembergischer Ort im Enzkreis und ist heute ein Teilort von Mühlacker. Eine gewisse überregionale Bekanntheit hat die dortige Liebfrauenkirche, eine spätmittelalterliche Friedhofskapelle. Das Dorf gehörte früher verwaltungstechnisch zum Klosteramt Maulbronn. Die nachfolgend genannten demografischen Zahlen ergeben ein Bild, das auch typisch für die anderen Orte dieses ehemaligen Bezirks sind, was den Dreißigjährigen Krieg betrifft, zu einem gewissen Grad sogar für sehr viele Dörfer des damaligen Herzogtums Württemberg.

Im Landeskirchlichen Archiv bilden die Synodusprotokolle den Bestand A 1, der aus 161 dickleibigen, schweren, in geprägtes Leder gebundenen Folianten besteht. Die Laufzeit dieser Bände beginnt 1581. Es gibt einige Lücken, aber im Wesentlichen wurden diese Bände jährlich angelegt, so dass es sich um eine sogenannte serielle Quelle handelt, der also nicht nur punktuell Informationen entnommen werden können, sondern anhand derer auch Entwicklungen abgelesen werden können. Diese Protokollbände enthalten Auszüge aus den Kirchenvisitationsberichten. Alljährlich wurden alle Pfarrorte Württembergs von sogenannten Generalsuperintendenten besucht, die nach einem gleichförmigen Schema kürzere Berichte verfassten und auch die Anzahl der Gemeindeglieder festhielten. Das heißt, dass mittels dieser Daten die Bevölkerungszahlen jedes württembergischen Dorfes ab 1581 ablesbar sind.

Die Zahlen für Lienzingen im Band von 1621 nennen 490 Kommunikanten und 340 Katecheten. Insgesamt handelt es sich um 830 Personen. Kommunikanten sind Abendmahlsteilnehmer, also Personen, die konfirmiert sind, grob gesagt die Erwachsenen. Katecheten sind Kinder, die bereits den Katechismus lernen, also die Schulkinder. Das heißt, dass die Kleinkinder bei diesen Zahlen fehlen. Man müsste sie soweit möglich schätzen und zu der Zahl hinzufügen. Es versteht sich, dass der Ort inklusive kleineren Kindern über 900 Einwohner hatte. Das Zahlenverhältnis zwischen Schulkindern und Erwachsenen zeigt auch, dass das Dorf damals am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges eine stark positive Bevölkerungsentwicklung hatte, also dass die einzelnen Familien normalerweise viele Kinder hatten.

Der Band von 1653 nennt 108 Erwachsene, 63 Schulkinder und 38 kleinere Kinder (Infantes), die inzwischen auch ausgewiesen werden, alles in allem 209 Personen. Wie man unschwer erkennen kann, hat der Ort während des Dreißigjährigen Krieges mehr als drei Viertel seiner Einwohnerzahl eingebüßt. Dabei war der Krieg 1653 sogar schon seit fünf Jahren vorüber. Erschreckenderweise ist das keine lokale Besonderheit, sondern entspricht in ungefähr dem demografischen Einbruch Württembergs insgesamt. Verantwortlich dafür waren nur zum kleineren Teil die direkten Kriegsfolgen. Die Schwächung der Bevölkerung durch Mangelernährung, das Herumstreifen von Soldaten und Flüchtenden boten ideale Ausbreitungsvoraussetzung für die Pest, die um 1635 viele Menschen hinwegraffte.  Innerhalb weniger Monate verloren die Dörfer einen Großteil ihrer Bewohner. In den Sterberegistern der einzelnen Orte kann dies abgelesen werden.

Der Protokollband von 1680 nennt 219 Erwachsene, 80 Schulkinder, 113 kleinere Kinder für Lienzingen, insgesamt 412 Personen (die im Protokoll genannten Daten des Filialorts Schmie muss man bei der Gesamtzahl herausrechnen). Innerhalb von nur drei Jahrzehnten hat sich die Einwohnerzahl wieder verdoppelt, was ein erstaunlicher Befund ist. Die genannten Kinderzahlen geben den Hinweis, wie dies möglich war.

Der letzte Scan zeigt die Zahlen von 1695. Damals wohnten im Ort 131 Erwachsene, 56 Schulkinder und 20 kleinere Kinder, insgesamt 207 Personen. Wir sehen, dass die Bevölkerungszahl des Ortes wieder auf den niedrigen Stand von 1653 herabgesunken war, sich also innerhalb weniger Jahre halbiert hat. Die Erklärung liegt im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688-1697). Das Klosteramt Maulbronn war Durchzugsgebiet französischer Armeen und musste außerdem die dort zum Schutz abgeordneten Reichstruppen ernähren. Diese Abgaben und erheblichen Erschwernisse bei der Feldbestellung führte wieder zu Nahrungsmittelengpässen und überdurchschnittlichen Sterberaten. Ein Teil der Einwohner der Dörfer flüchtete sich in diesen Jahren auch in sicherere Gegenden. Das 18. Jahrhundert war weniger von Kriegen gekennzeichnet und führte dementsprechend wieder zu einem Bevölkerungsanstieg.

Wie man sieht, lassen sich die Folgen von historischen Ereignissen anhand von seriellen Quellen auf lokaler Ebene konkret ablesen. Wir planen, den Bestand A1, wie ähnliche andere Bestände in Zukunft digital zu präsentieren.

Illustrierte Todeseinträge von hingerichteten Personen

13. Juli 2020 | | ,

In Neuenstadt am Kocher findet man in zwei Totenregistern mehrere Einträge, die durch Skizzen von Schwert und Rad, eines Schwerts oder eines Scheiterhaufens markiert sind. Diese Einträge sind solche von hingerichteten Personen. Zwar kann angenommen werden, dass es auch in Totenregistern anderer Pfarreien entsprechend markierte Einträge gibt, jedoch ist eine solche Häufigkeit eher selten. Ob in Neuenstadt mehr Hinrichtungen stattfanden, als in anderen Gerichtsorten, wird eher nicht angenommen.

In den Todeseinträgen sind die Verurteilten, ihre Vergehen und die Hinrichtungsart sowie teils ihr Alter genannt. Auf den ein oder anderen Leser mögen diese Einträge verstörend wirken, speziell auch dass die Todesstrafe auch bei Jugendlichen angewandt wurde. Es muss jedoch bedacht werden, dass im 17. Jahrhundert völlig andere Moralvorstellungen herrschten, als heute. Daraus resultierten auch die harten Strafen für (vermeintliche) Straftaten.

22.10.1602: „Ist Bartlin Wirth von Steinkirch[en] auß der Grafschafft Hohenloch von wegen nachfolgenden bösen Stückhen, als das er ein Ursach war das sein aigen Kind in der […] ertrunckhen, die weil er seinem Eheweib offtermals nach dem Leben gestelt, dißgleichen auch mit Diebstall und Ehebruch sich vergriffen, nach ergangenem Urteil mit dem Schwert vom Leben zum Todt gericht, hernach auf das Rad gelegt, christlich und mit vorhergangener hertzlicher Bekantnus und Reu über seine Sünd verschieden, war ein junger Mann auf etlich und 20 Jar alt, welches […] hatte auch in seiner Gefänckhnus communiciert.“

Das ein bereits Hingerichteter durch auf das Rad legen noch weiter bestraft wird, erscheint aus heutiger Sicht unnütz. Zur damaligen war man aber der Ansicht, dass die jeweilige Person auch über den Tod hinaus bestraft werden konnte. Außerdem diente der Leichnam als Abschreckung für andere.

 

07.12.1603: „Stoffel Götz von Ruocksen [= Ruchsen] (Mentzischen Gebietts in die Cent Meeckmüll [= Möckmühl] gehörig) ein Wildtprettschütz, ist wegen seines meinaidt[igem] Uhngehorsams und muttwillens, weil ehr zum vierten Mahl wid[er] kommen, mit dem Schwerdt alhir gerichtet worden.“

Dieser Eintrag ist schwer zu lesen, weshalb auch nicht richtig klar wird, welches schwere Vergehen Stoffel Götz verbrochen hatte.

 

22.07.1639: „Georgius Jomann, ein verruffer Landtdieb, Burger zuo Eberstall, Krautheimer Ampts, sonsten von Biringen gebürtig, Religionis pontificiae, darauff er auch gestorben, wesswegen ihm man das Schwerth laßen gedeyen, durch Fürbitt der Cappuciner bey H[errn] Graven von Trautmansdorff Oberamptmann, da er sonsten mit dem Strang hatt sollen gerichtet werden, hatt solches Urtheil außgestanden den 22. Julii“.

Georgius Jomann hatte das „Glück“, mit dem Schwert geköpft und nicht am Strang erhängt zu werden, da letzteres unter Umständen einen langsamen und qualvollen Tod bedeutet hätte. Außerdem wurde das Erhängen – diese Unterscheidung ist aus heutiger Sicht unverständlich – von der damaligen Gesellschaft als eine unehrenhafte Strafe, das Enthaupten mit dem Schwert als ehrenvolle Bestrafung angesehen. Die psychische Belastung dürfte jedoch dieselbe gewesen sein.

 

27.11.1656: „Den 27. Novembr[is] ist Barbara, Jerg Mörten s[elig] Wittib, welche wegen lang verübter Hexerei zue Cl[ever]sultzbach, in Gleichem Anna, Balthas Laysen Wittib von Michelbach, und Anna, Hanß Nollen Wittib, von Bretach, alß auch uberzeügte Hexen alhir decolliert [= enthauptet], nachgehendts zue Aschen verbrannt worden.“

Dem hier genannten „Verbrechen“ fielen im 16. bis 18. Jahrhundert leider sehr viele und definitiv unschuldige Menschen – zumindest was den Vorwurf der Hexerei betrifft – zum Opfer. Auffällig in diesem Eintrag ist, dass alle drei Frauen Witwen und somit ohne Schutz oder Unterstützung durch den Ehemann waren. Auch hier wurde eine Bestrafung nach dem Tod angewandt. Die Leichen der enthaupteten wurden verbrannt, so dass die Leichname nicht beerdigt werden konnten und die Seelen keine Ruhe fanden.

 

11.09.1666: „Den 11. 7bris ist Fridrich Kugler, 15. Annorum [= Lebensjahr], Andreas Kuglers geweßener Sattelknecht Sohn, welcher sodomiticam abominationem cum vitulo tertia vice agirt [= welcher die Sodomie mit einem Kalb zum dritten Mal begangen hatte], decollirt, und zur Aschen verbrannt worden.“

Dass ausdrücklich erwähnt wird, dass Fridrich Kugler die Tat zum dritten Mal begangen hatte, könnte ein Hinweis darauf sein, dass man bei diesem Jugendlichen die Strafe nicht gleich beim ersten Mal anwenden wollte. „Doppelstrafe“ wie beim vorherigen Eintrag.

 

30.10.1666: „Den 30. 8bris ist Stoffel Hilckers, Endris Hilckers Bueb von Lampoltzhausen decollirt und p[er]plex[us] [= verworrener] Sodomiam verbrannt worden.“

Ob es sich in diesem Fall um einen ähnlichen wie den vorhergehenden gehandelt hat, bleibt offen. Unter Sodomie verstand man damals, vor allem aus kirchlicher Sicht, jedes Sexualverhalten, das nicht der Fortpflanzung dient, also etwa der Geschlechtsverkehr zwischen zwei Männern oder auch nur Masturbation. Das Alter des Stoffel Hilckers ist nicht angegeben, jedoch deutet die Bezeichnung „Bueb“ darauf hin, dass er noch ein Jugendlicher war.

 

15.07.1673: „Den 15. Julii ist Maria, Veit Webers sel[ig] Wittib mit ihrer Tochter Anna Maria Hambergerin wegen begangenem Kindsmords tecollirt und auff dem eüßern Kürchhof begraben worden.“

Welches Motiv die beiden Frauen für ihre Tag hatten, wird in dem Todeseintrag nicht erwähnt. Eine Recherche in der im Hauptstaatarchiv Stuttgart überlieferten Akte könnte diese Frage beantworten.

Quellen

KB Neuenstadt am Kocher, Mischbuch 1555-1636, Totenregister 1558-1636, Bl. 166r (22.10.1602)

KB Neuenstadt am Kocher, MB 1555-1636, To 1558-1636, Bl. 166v (07.12.1603)

KB Neuenstadt am Kocher, MB 1637-1679, To 1637-1679, Bl. 141r (22.07.1639)

KB Neuenstadt am Kocher, MB 1637-1679, To 1637-1679, Bl. 170r (27.11.1656)

KB Neuenstadt am Kocher, MB 1637-1679, To 1637-1679, Bl. 178v (11.09.1666, 30.10.1666)

KB Neuenstadt am Kocher, MB 1637-1679, To 1637-1679, Bl. 185v (15.07.1673)  

Allgemeiner Literaturhinweis: Unsere Arbeitshilfe zur Forschung mit den württembergischen Kirchenbüchern kann zum Preis von 5,00 Euro bestellt werden.

Zwangstaufe eines türkischen Kindes in Mühlhausen an der Enz im Jahr 1689

6. Juli 2020 | | , ,

Bei den militärischen Aktionen der Reichstruppen auf dem Balkan, die sich nach der misslungenen osmanischen Belagerung Wiens (1683) entfalteten, wurden auch Menschen verschleppt, die zumindest teilweise nach Württemberg gelangten, vor allem nach der Eroberung von Belgrad im Jahr 1688. Unser Blogbeitrag vom 28. Mai 2020 macht auf einen solchen Fall aufmerksam. Der Blog von Leo-BW hat kurz nach dieser Veröffentlichung diese Verschleppungen in den historischen Kontext eingeordnet. Wir kennen aus unseren Kirchenbüchern, die vermutlich noch viele solche Taufen enthalten auch einen anderen, aber anders gelagerten Fall. Es gab offenbar auch vereinzelt Türken, die sich im Verlauf dieser militärischen Ereignisse von den Reichstruppen anwerben ließen. Hier haben wir den Fall eines türkischen Dragoners, seiner ebenfalls türkischen Frau, und seines neu geborenen Sohnes. Während die muslimische Religionszugehörigkeit des Reiters offenbar kein Hinderungsgrund für die Anwerbung war, verfuhr man bezüglich seines Kindes auf eine drastische Weise.

Dem Eintrag von Pfarrer Johann Reichard Lang im Taufregister ist zu entnehmen, dass er am 31. Oktober 1689 in der Albanikirche in Mühlhausen an der Enz Zwillinge taufte. Ihm wurde durch Offiziere des kurbayerischen Dragoner-Regiments, das damals für einige Tage in dem damals reichsritterschaftlichen Dorf Mühlhausen im Quartier lag, überraschend noch ein weiteres Kind gebracht, das er taufen sollte. Die Eltern dieses Kindes waren Türken. Der Vater diente im kurbayerischen (Arcos`schen) Dragonerregiment, das im Jahr davor gegen die osmanischen Truppen gekämpft hatte und bei der erfolgreichen Einnahme Belgrads beteiligt gewesen war. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation stand damals in einer Art Zweifrontenkrieg gegen Frankreich im Westen und das Osmanische Reich im Südosten, so dass Truppen teilweise zwischen diesen Kriegsschauplätzen hin- und herwechselten. Das kurbayerische Regiment befand sich vom 29. Oktober bis 2. November in Mühlhausen an der Enz, wo auch der genannte türkische Dragoner und seine ebenfalls türkische Frau, und das gemeinsame Kind untergebracht waren. Die Gelegenheit, dass er an diesem Tag mit einem Trupp in Nachbardörfern, beziehungsweise in der Umgebung unterwegs war, um zu Fouragieren, also um Lebensmittel oder Pferdefutter zu besorgen, nutzten seine Vorgesetzten jedoch dazu, seinen Sohn zum Christen zu machen. Die anwesende Mutter wehrte sich „heftig“ gegen dieses Ansinnen. Mit Hilfe einer anderen Soldatenfrau konnte das Kind „mit Gewalt“ aus dem Quartier des türkischen Ehepaars geholt und in die Kirche vor den Taufstein gebracht werden, wo der Pfarrer angewiesen wurde, es auf den Namen Hans Adam Mühlhäuser zu taufen. Der Name der Eltern blieb dem Pfarrer unbekannt. Der Nachname wurde nach dem hiesigen Ort gewählt, die Vornamen offenbar nach dem erst einige Wochen zuvor verstorbenen Ortsherren Hans Adam von Hohenfeld (1652-1689). Die Paten waren die kurbayerischen Offiziere Hauptmann de Mardin, Hauptmann Heim, Hauptmann Baron Rohrbach, Hauptmann Trollinger, Hauptmann Leva, Leutnant Hopffner, Fähnrich (“Fendtrich”) Harm. Das weitere Schicksal des zwangsgetauften Knaben ist unbekannt.

Text des Eintrags:

“Es hat sich aber zugetragen, d[aß] zwar mir Pfarrern vor dem Taufstein unbewußt war ein türkisches Kind, solle mit obgesetzten zweyen Zwillingen mitgetauft und zu einem Christen gemacht werden, dessen Eltern, Vater und Mutter, geborene Türken waren, die türkische Mutter sich aber deswegen heftig gewägert (gewehrt) und sich durchaus dazu nicht verstehen wollen, daß ihr Kind sollte getauft werden. Bis die Herren Officiere in Abwesenheit ihres Manns, der ohne des Fourage geritten, solches durch eine Soldatenfrau mit Gewalt aus ihrem Quartier nehmen lassen, die es dann in die Kirche vor den Taufstein gebracht und mit obermeldten Zwillingen getauft und den christlichen Namen aus Befehl der Herren Officierers Hans Adam Mühlhausser gegeben worden. Eltern: Waren geborene türkische Eltern, deren Namen mir unbekannt. Waren unter dem Churbayerischen Arzischen Regiment Dragonersleuth.”

Link zur Originalquelle auf Archion:

Taufeintrag im Mischbuch von Mühlhausen an der Enz vom 31.10.1689

 

Politik geht vom Volk aus

2. Juli 2020 | |

Politik geht vom Volk aus und sein Instrument sind Wahlen. Gerade heute wird dieses Instrument immer wichtiger, wer nicht wählen geht, wählt populistisch. Auch damals war man sich der Bedeutung und der Macht der Wahlen bewusst. Mit Kreuzen und Strichen versehene Stimmzettel der Gemeinderatswahlen in der Stadt Ulm am 11. Mai 1919 aus dem Archiv der Ulmer Münsterbauhütte lassen erahnen, dass Politik im Alltag der Bürger eine Rolle spielte und angekommen war. Ob die Notizen vom Münsterbaumeister oder einer seiner Mitarbeiter stammen, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Fest steht aber, das man sich Gedanken gemacht hat und offensichtlich ein breites politisches Spektrum als wählbar ansah. Den erhaltenen Notizen zufolge lag die Deutsche Demokratische Partei Ulms bei den Mitarbeitern der Münsterbauhütte hoch im Kurs, gleich 19 Kandidaten sollten drei bis sechs Stimmen bekommen, gefolgt von der Sozialdemokratischen Partei mit zehn Kandidaten und der Zentrumspartei mit neun Kandidaten. Schlusslicht bildeten hier die Württembergische Bürgerpartei mit vier Kandidaten und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Ulm-Söflingen mit nur einem Kandidaten, der drei Stimmen erhalten sollte. Ob tatsächlich so aus der Münsterbauhütte heraus gewählt wurde, bleibt Spekulation.

Quelle: Ulm, Münsterbauhütte, 538

Hochschwanger von Peterzell bei Alpirsbach nach Sulz am Neckar

29. Juni 2020 | | ,

Normalerweise ist der Taufeintrag eines ehelich geborenen Kindes recht übersichtlich. Er enthält das Datum der Taufe, später auch das Datum der Geburt, den Ort der Geburt bzw. den Wohnort der Eltern sowie die Namen des Kindes (oder der Kinder bei Mehrlingen), der Eltern, der beiden Paten und der Patin. Bei den Paten finden sich oft auch Angaben zum Beruf, in einigen Pfarreien auch beim Vater. Der Taufeintrag eines unehelichen Kindes enthält meistens noch Angaben zum Vater der Mutter sowie zum Vater des Vaters – sofern dieser bekannt war – und Angaben, ob er sich zu Vaterschaft bekannt hat.

Nun gibt es aber auch Taufeinträge, die um einen umfangreichen Fließtext ergänzt wurden. Dies deutet auf besondere Umstände der Geburt oder der Taufe hin. Diese Umstände geben dem ansonsten eher kargen Informationsgerüst etwas Leben und gewähren einen kleinen Einblick in das damalige Leben.

Im Taufregister der Pfarrei Peterzell bei Alpirsbach im Schwarzwald, die auch für den Nachbarort Römlinsdorf zuständig war (und auch heute noch ist), findet man unter dem Eintrag vom 6. Februar 1706, dem Taufeintrag für Johann Jacob, Sohn des Andreas Wörner, Tagelöhner in Römlinsdorf, und dessen Ehefrau Christina, eine solche umfangreichen Ergänzung:

„NB. [= notabene:] Obgedachtem Andreas Wörners Haußfrau hatt den 6ten Februar wollen auff Sultz gehen, daselbsten Saltz zu kauffen; als sie nun in dem Heimgehen begriffen war, wurde sie in dem Sultzer Wald von den Kindswehen überfallen und gebahr auff denen Weydener Äckhern disen ihren jung Sohn; worzu ein Burger von Röthenberg kommen, der solch Kind von ihr abgelößet, in sein wullen Hembd gewickhelt, auch die Kindbetterin mit sich nachen Marschelckhen Zimmern geführet hatt, allwo sie erst die Secundinam [= Nachgeburt] abgeleget und weil weegen großer Kälte das Kind sehr schwach, es allda durch den Herrn Vicarium M[agister] Heidecker in des allten Schulmeisters Hauß, noie [= nomine = namens] Egmann, gähtauffen lassen; weil nun die Kindbetterin erst folgenden 7. Februar sich uff einem Pferdt nach Rimmlinsdorff führen lassen, als ist das Kind den 8ten Februar darauff hier der Ordnung gemäß in der christlichen Kirche von obgenanndten Gevatterleüth vorgetragen worden.“

Es dürfte allgemein bekannt sein, dass es im 18. Jahrhundert so etwas wie Mutterschutz nicht gab und die Frauen bis kurz vor der Geburt arbeiteten bzw. arbeiten mussten. Dennoch ist es erstaunlich, dass Andreas Wörners Ehefrau Christina den ungefähr 14 km langen Fußmarsch nach Sulz am Neckar, für den sie schätzungsweise zweieinhalb bis drei Stunden unterwegs war, trotz winterlicher Temperaturen und hochschwanger auf sich genommen hatte, um Salz zu kaufen. Wie viel sie gekauft hatte, ist nicht erwähnt, jedoch kann man davon ausgehen, dass sie sich nicht nur wegen ein paar Gramm auf den Weg gemacht und deshalb auf dem Rückweg eine größere Last zu tragen hatte.

Als sie ihren Sohn Johann Jacob außerhalb des Waldes auf den zum Ort Weiden gehörenden Äckern zur Welt brachte, hatte sie ungefähr die Hälfte des Rückweges bereits hinter sich. Glücklicherweise war auch ein Bürger von Rötenberg auf der Strecke, der sie dann nach Marschalkenzimmern, der nächstgelegenen Siedlung, die außerdem wohl auf seinem Weg lag, brachte, wo sie über Nacht blieb. Im dortigen Taufbuch ist als Geburtsort der Sulzer Wald unweit des Dorfes angegeben. Ob ihr Ehemann benachrichtigt wurde oder ob er sorgenvoll bis zum nächsten Tag ausharren musste, bleibt ungeklärt. Festgehalten hat der Peterzeller Pfarrer, dass das Kind ordnungsgemäß und wie es damals üblich von den Paten, Jacob Wößner, genannt „Burgöscher“, Bauer in Römlinsdorf, Johann Jacob Wößner, Junggeselle in Hönweiler, und Christina, Ehefrau von Andreas Beesch, Bauer in Römlinsdorf, zwei Tage nach seiner Geburt in der Kirche vorgetragen, die Geburt und Taufe also der Gemeinde bekannt gegeben wurden.

Eine Taufe in Peterzell fand nicht statt, da Johann Jacob wegen kältebedingter Schwachheit bereits in Marschalkenzimmern notgetauft („Gähtaufe“) worden war. Den nachträglich eingetragenen Angaben im Taufeintrag ist aber zu entnehmen ist, dass er das Erwachsenenalter erreichte, als Erwachsener in Römlinsdorf wohnte, am 30.09.1738 heiratete und schließlich 1754 gestorben war.

 

 

Anmerkung

Burgöscher = Hinweis auf seinen Wohnort oder Hof innerhalb des Ortes, ein heutiger Straßenname in Römlinsdorf lautet „Burgesch“

Hönweiler = Ortsteil von Peterzell

 

Karte mit den im Taufeintrag erwähnten Orte

https://de.batchgeo.com/map/f9ffe86d165ed7dc11fc3bb98bbf7a9f

 

Quellen

KB Peterzell, Mischbuch 1606-1732, Taufregister 1694-1732, S. 86

KB Marschalkenzimmern, Mischbuch 1637-1793, Taufregister 1637-1793, Bl. 18v 

Kindergartenidyllen mitten im Krieg

25. Juni 2020 | |

Die Illustratorin Elisabeth Dinkelacker hat im Jahr 1942 im Auftrag des evangelischen Vereins für Kleinkinderpflegen ein sehr hübsches Buch gestaltet, in dem alle 24 Stuttgarter evangelischen Kindergärten in Text und Bild vorgestellt werden:  „Das Buch erzählet vom Verein: …wie Kinder fromm und fröhlich sein.”

So gerne man darin blättert und den Kinderwelten in den Stuttgarter Stadtteilen nachstöbert, irritiert doch die Tatsache, dass Elisabeth Dinkelacker diese Kindergartenidyllen mitten im Krieg gezeichnet hat. Auf Stuttgart waren bereits mehrere Luftangriffe nieder gegangen, viele Väter fehlten, weil sie an der Front kämpften oder gefallen waren. Auch, dass die evangelischen Kindergärten seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten Repressalien ausgesetzt waren und sich gegen die Übernahme durch die NS-Volkswohlfahrt wehren mussten, bleibt auf den ersten Blick außen vor. Das Buch zeigt vordergründig eine Welt, wie sie für Kinder sein sollte: Behütet und friedlich, die Tage gefüllt mit Spiel und Gesang.

Schaut man genauer hin, erkennt man jedoch, dass einige Kindergärten gezwungen waren, sich neue Räume zu suchen, da ihnen gekündigt worden war. Und bei der Beschreibung des Weismann-Kindergartens wird ein Junge namens Peter beschrieben, der traurig ist und weint, da ihn seine Eltern aus dem evangelischen Kindergarten genommen haben, um ihn beim Kindergarten der NS-Volkswohlfahrt anzumelden. Das war mutig von Elisabeth Dinkelacker.

Der 1839 gegründete Verein ehrte mit dieser „Chronik“ seinen Vorsitzenden, Kirchenrat Hans Theodor Dölker (1882- 1953), der am 11.9.1942 seinen 60. Geburtstag feierte. Von heute aus gesehen ist das ihm gewidmete Werk ein Schatz:

Im Zweiten Weltkrieg wurde in Stuttgart insgesamt mehr als die Hälfte der Bausubstanz zerstört oder beschädigt. Auch Kirchen und Kindergärten waren betroffen. Das illustrierte Buch ist daher auch ein Dokument für die Zeit vor diesen Zerstörungen.

In alphabetischer Reihenfolge sind folgende Kindergärten dargestellt: “Augusten”, “Birkenwald”, “Burg”, “Charlotten”, “Dobel”, “Friedens”, “Gänsheide”, “Hospital”, “Johannes”, “Klingenbach”, “Kathrinen/Leonhards”, “Lerchenrain”, “Lutherhaus”, “Markus”, “Martins”, “Paul-Gerhardt”, “Paulus”, “Rosenberg”, “Stöckach”, “Wald”, “Wartberg”, “Weismann”, “Weißenhof”, “Wilhelms”.

Über den Evangelischen Landesverband Tageseinrichtungen für Kinder in Württemberg e.V. kam das Buch in die Museale Sammlung des Landeskirchlichen Archivs.

Zur Illustratorin Elisabeth Dinkelacker:

Die Illustratorin Elisabeth Dinkelacker (1913-2001) hatte eine Ausbildung zur Kindergärtnerin absolviert, bevor sie an der Stuttgarter Kunstakademie Grafik studierte. Sie gestaltete und zeichnete Karten, Kalender, Losungen, Fleißbildchen, illustrierte Bücher. Vieles ist im Verlag Junge Gemeinde, Stuttgart oder im Verlag Ernst Kaufmann, Lahr erschienen.

 

 

Krieg, Verlust, Tod

22. Juni 2020 | | ,

Einschränkungen, Entbehrungen, Angst – Was die eine Generation in der Corona-Krise erst lernen muss, ist einer kriegsgezeichneten Generation nicht neu. Die Verluste, die diese Generation hinnehmen musste, sind schwer in Worte zu fassen. So traf es im zweiten Weltkrieg auch die Münsterbauhütte: Das Gebäude an sich völlig zerstört, das Münster selbst von Bomben beschädigt. Und der Münsterbaumeister? Münsterbaumeister Karl Friederich verlor am 17.09.1944 bei einem Tieffliegerangriff in einem Zug bei Offenburg, in dem er sich befand, das Leben. Während eines Münsterumgangs und einer anschließenden Münsterbaukomiteesitzung am 12. September 1951 wurde ein Gedenkstein im Übergang von der südlichen Seitenschiffvorhalle zur Hauptportalvorhalle zu seinen Ehren enthüllt. Seine Mitarbeiter wie auch sein Nachfolger hatten teilweise schwer an den Nachwirkungen des Krieges zu tragen. Steinhauer Schöck beispielsweise beantragte Ende der 40er Jahre Arbeitsschuhe, da er selbst über kein festes Schuhwerk mehr verfügte. Laut eines Schreibens des Münsterbauamts an das städtische Wirtschaftsamt vom 07. Mai 1948 kam Steinhauer Schöck erst mit schlechtem Schuhwerk, dann mit seinen leichten Sonntagsschuhen zur Arbeit, da ihm die vom Amt gestellten Holzschuhe nach einer Kriegsverletzung (Spitzfuß) Beschwerden verursachten. Daher bemühte sich das Münsterbauamt bei der zuständigen Stelle für den betroffenen Steinhauer um neues Schuhwerk.

LKA, Ulm, Münsterbauhütte, 315

LKA, Ulm, Münsterbauhütte, 493

LKA, A 129, 1213

Historischer Beleg für einen Fall von Intersexualität

18. Juni 2020 | | ,

Im Taufregister von Peterzell bei Alpirsbach ist für den Palmsonntag 1653, den 3. April, folgender Eintrag zu finden:

„Am H[eiligen] Palmtag ist getauft worden,

Hans (Anna) Jacob

Michel Epptings unnd Margretha ux[or] ehliches Kind,

Comp[atres:] Hanß Dietsch unnd Hanß Wanger

Commat[er:] Maria, Matheiß Bischoffen Haußfrau

NB [= nota bene:] Hierbey ist zu mercken, daß nach deme obgeschribenes Michel Epptings Kind ettlich Tag nach empfangener Tauf mehr männliches alß weibliches Geschlechts gefunden worden, alß ist der Nahm Anna abgethan unnd an statt selbigen daß Kind Hans Jacob genennet unnd publice proclammiert worden.“

 

Dieser Eintrag ist ein seltener historischer Beleg für einen Fall von Intersexualität aus dem 17. Jahrhundert. In der damaligen Zeit war es üblich, neugeborene und getaufte Kinder – auch Kinder, die zuhause notgetauft wurden – in der Kirche vorzutragen, also der Gemeinde bekannt zu geben. Folglich wurde auch die Namensänderung des neuen Gemeindemitgliedes bekannt gegeben. Am Rand des Taufeintrages wurde nachträglich vermerkt, dass Hans Jacob später Heiligenpfleger in Peterzell war und am 26. Februar 1724 starb. Sein Todeseintrag lautet:

„Den 26. Februarii ist durch einen seeligen Todt aus dem Land der Lebendigen hinnweg genommen worden Hannß Jacob Epting, 28 jähriger Heiligen-Pfleger allhier, noch ledigen Stands, seines Alters 71 Jahr weniger 5 Wochen und wurde sein Leichnamb den 29. eius beerdigt.“

Mit dem Amt des Heiligenpflegers, also dem Verwalter des Kirchenvermögens, hatte Hans Jacob Epting ein verantwortungsvolles und angesehenes Amt inne. Aus seiner Zeit als Heiligenpfleger ist die Heiligenrechnung 1710/11 überliefert. Der Heiligenpfleger war meist auch Mitglied des Kirchenkonvents. Im Peterzeller Kirchenkonventsprotokollband 1703-1712, dem ältesten überlieferten Band, ist Epting auf den ersten Seiten unter den „Kirchen-Censur-Assessores“ aufgeführt. Es ist aber anzunehmen, dass er auch schon zuvor einer der Kirchenkonventsrichter war. In diesem und dem nächsten überlieferten Protokollband 1719-1733 ist Epting 17 Mal namentlich genannt, meist als jemand, der etwas vor den Kirchenkonvent vorbrachte. Anfeindungen gegen ihn sind den Protokollen nicht zu entnehmen. Den Taufregistern von Peterzell ist zu entnehmen, dass Epting zwischen 1692 und 1722 bei fünf Familien insgesamt 18 Mal Pate war.

Aufgrund der Quellenlage kann angenommen werden, dass Hans Jacob Epting ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft war. Seine Ehelosigkeit ist nicht zwangsläufig auf seine Intersexualität zurückzuführen.

Quellen

KB Peterzell, Mischbuch 1606-1732, Taufregister 1648-1694, S. 6

KB Peterzell, Mischbuch 1606-1732, Totenregister 1649-1732, S. 76

KB Peterzell, Mischbuch 1606-1732, Taufregister 1648-1694, S. 33, 45, 48, 50 und 58

KB Peterzell, Mischbuch 1606-1732, Taufregister 1694-1732, S. 84, 91, 95, 98, 104, 106, 108, 110, 111, 112, 119, 124 und 128

LKAS, G 561 (Evangelisches Pfarramt Peterzell), Heiligenrechnung 1710/11

LKAS, G 561, Kirchenkonventsprotokolle 1703-1712, ohne Seitenzählung (5. Seite, 23.09.1703, 18.11.1703, 02.03.1704, 06.04.1704, 13.12.1705, 17.01.1706, 06.06.1706, 28.10.1707, 08.07.1708, 29.09.1709, 23.02.1710)

LKAS, G 561, Kirchenkonventsprotokolle 1719-1733, ohne S. (30.06.1720, 22.12.1720, 25.01.1722, 05.07.1722, 27.09.1722, 05.03.1724)

Die Inventarisierung der Kirchen der Württembergischen Landeskirche

15. Juni 2020 | | , ,

Das Landeskirchliche Archiv Stuttgart ist neben der Sammlung, Erhaltung, Verwahrung, Erschließung und Bereitstellung von Archivalien sowie den vielfältigen Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit auch für die Inventarisierung der einzelnen Kirchen der evangelischen Landeskirche in Württemberg zuständig.

Die Inventarisation der Kirchen in den Dekanaten der evangelischen Landeskirche in Württemberg beinhaltet die Dokumentation der einzelnen Bauwerke einschließlich der wissenschaftlichen Erfassung ihrer Baugeschichte, der Beschreibung des Innenraums und des Außenbaus, der einzelnen unbeweglichen und beweglichen Kunstgegenstände, der Vasa Sacra und schließlich der historischen Paramente. Zunächst werden die Kirchenbauten und die dazugehörigen Kunstobjekte vor Ort von allen Seiten fotografiert. Ebenfalls vor Ort wird für jedes einzelne Objekt eines Kirchenbaus mit der Hand ein Formblatt mit Titel, grober Beschreibung und Maßangaben erstellt. Anschließend wird im Landeskirchlichen Archiv in einer elektronischen Datenbank jede inventarisierte Kirche mit ihren einzelnen Kunstobjekten erfasst. In dieser Datenbank, in der jedes Objekt eine eigene Inventarnummer erhält, werden die Angaben zu Datierung, Baugeschichte, Material und Technik ergänzt, bei vorhandenen Inschriften die Transkriptionen erstellt, eine ausführliche Beschreibung des Objektes vorgenommen, Literaturnachweise hinzugefügt und die entsprechenden Fotos eingefügt.
Ziel der Inventarisation ist erstens die Kontrolle über Verluste und Neuzugänge von kirchlichen Kunstschätzen in den einzelnen Kirchen. Verlorenes Kunstgut kann dabei vielfach durch den Rückgriff auf die detaillierte Dokumentation identifiziert und auf diese Weise bisweilen auch wiedergefunden werden.
Zweitens, und das ist der weitaus wichtigere Part, versteht sich die Inventarisation als Dienstleistung für die einzelnen Kirchengemeinden und Dekanate der evangelischen Landeskirche in Württemberg. Die wissenschaftliche Dokumentation der einzelnen Kirchen bietet die Möglichkeit der wissenschaftlichen Recherche für geplante Publikationen oder Ausstellungen, die dann auch vom Landeskirchlichen Archiv wissenschaftlich mitbetreut, gegebenenfalls auch mitorganisiert oder gar durchgeführt werden können. Auch Kirchenführungen durch die Inventarisatoren einzelner Kirchen sind immer wieder möglich und wurden, ebenso wie individuelle Ausstellungen, vielfach nachgefragt.
Die Ausstellung zur Dreihundertjahrfeier im Dekanat Besigheim oder der nun bald erscheinende Kirchenführer zur Stadtkirche St. Georg in Weikersheim sind herausragende Beispiele des offenen Dialogs zwischen Dekanaten, Kirchengemeinden und der Abteilung Inventarisation des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart.

Die Ansprechpartner für die Inventarisation sind Frau Dr. Anette Pelizaeus und Herr Claus Huber .

Beitragsbild: Unsere Inventarisatorin erklärt die Vasa Sacra der Herrenberger Stiftskirche. Foto: Landeskirchliches Archiv

Die Inventarisation auf der Homepage des Landeskirchlichen Archivs.

„Religiöse Schwärmereien“ in Vöhringen

10. Juni 2020 | |

In einem Schreiben vom 17. November 1778 teilten die herzoglichen Regierungsräte im Namen des württembergischen Herzogs dem Oberamt Rosenfeld und dem Dekanat Balingen folgendes mit:

„Uns ist aus einem […] wegen eines zu Vöhringen befindlichen bürgerlichen Innwohners und Bauren nahmens Ludwig Gührings, welcher nicht nur vor seine Person in Glaubens-Sachen irrige und fanatische Principia hege, sondern auch solche mündlich und schrifftlich auszubreiten suche, erstatteten unterthänigsten Bericht des mehreren […] referirt worden. Wann wir nun hirauf gnädigst verordnet haben wollen, daß ihr der Specialis nebst dem Pfarrer zu Vöhringen ohne jemals zu ermüden alles nur immer mögliche überhaupt gewißenhafft anwenden sollet, um den Gühring mit der nöthigen Klugkeit, Sanftmuth und Gedult dereinstens wieder zu recht zu bringen, in solcher Absicht aber besonders ihr der Specialis ihn je und je vor euch zu bescheiden und ihn den Ungrund seiner Meynungen […] vermittelst außerlesener und deutlicher Stellen der heiligen Schrift […] mit Sanfftmuth und Gedult wie bißhero also auch noch fernerhin zu erkennen zu geben […], überdiß aber der Pfarrer zu Vöhringen diesen irrenden Mann wohl zu beobachten, ihne ins besondere in seinem Unterricht zu nehmen, nach seiner Faßlichkeit und Temperament sich sanfftmüthig und einfältig mit ihne zu besprechen und überhaupt niemahlen zu ermüden habe und verdrüßlich werden solle, einen solchen auf Abwege gerathenen Mann auf die richtige Bahn der heilsamen Wahrheit einzuleiten. Alß habt ihr übrigens denselben auf das ernstlichste zu verwarnen, sich ja wohl vorzusehen, daß er niemahlen jemanden einiges Aergenüß gebe, vornehmlich aber von nun an unterlaße, seine besondere Meynungen weitershin weder schrifftlich noch mündlich außzustreuen […]“

Was hatte Ludwig Gühring angestellt, dass er sich den Unmut des Herzogs auf sich zog? Näheres geht aus einem Protokoll des Pfarrers zu Vöhringen vom 25. Juli 1778 hervor:

„Ludwig Gühring, Bürger und Bauer von hier, aetat. [= seines Alters] 60 Jahr […], äußert seit einiger Zeit ins Publicum, in und außerhalb Orts, durch mundlichen Vortrag und Schriften, die er lesen und abschreiben läßt und die er zum Theil auch weiter gern abdrucken ließe, ähnliche Principia mit den Irrlehren der alten Noëtianer […] und mit den Photinus, Macedonius und Priscillianus […], hauptsächlich agnoscirt [= anerkennt] er nicht die Personalitaet des Vatter und des Heiligen Geistes und statuirt: 1) Nur der Sohn seye eigentlich eine einzige Person in der Gottheit, weil dieser gebohrn seye und in ihm die ganze Fülle der Gotthet leibhafftig wohne – Gott seye ja nur ein Geist und habe sich nie in persöhnlicher Gestalt geoffenbart […].“

Gühring war also jemand, der die bestehende Glaubenslehre in Frage stellte und seine eigene theologische Meinung nicht nur vertrat, sondern diese auch unters Volk bringen wollte. Seine Ansichten ähnelten – zumindest nach Ansicht des Vöhringer Pfarrer – denen von Noët von Smyrna (wirkte um 180), Photinus von Sirmium (+ 376), Macedonius von Konstantinopel (+ nach 360) und Priscillian (+ 385), deren Lehren alle der offiziellen kirchliche Lehre widersprachen. Der Pfarrer von Vöhringen hatte über Gühring in den Jahren 1778 bis 1780 eigens eine Akte mit dem bezeichnenden Titel „Die religiösen Schwärmereien Ludwig Gührings, Bauers, betreffend“ angelegt. Diese umfasst 52 Seiten und enthält neben Berichten des Pfarrers und des Specials auch verschiedene Schreiben Gührings, auch an den Herzog und nach dem 17. November 1778!

Im Protokoll des Vöhringer Pfarrers ist Gührings Alter mit 60 Jahren angegeben. Dadurch konnte sein Taufeintrag im Vöhringer Taufbuch am 16. März 1718 zugeordnet werden. Im Taufeintrag wurde nachträglich eingetragen, dass er am 18. November 1783 im Lazarett in Stuttgart verstorben war, was auch durch den entsprechenden Eintrag im Stuttgarter Totenregister bestätigt wird. Interessanterweise ist Gühring dort als „Feuersprizenmacher“ bezeichnet.

Im Hauptstaatsarchiv Stuttgart sind unter den Signaturen A 25 Bü. 212 eine Akte mit dem Titel „Die von Ludwig Gihring in Vöhringen, Amt Rosenfeld, erfundene Wasserpumpmaschine“ aus dem Jahr 1770 und A 239 Bü. 15 eine mit dem Titel „Gesuch des Ludwig Gühring von Vöhringen, Rosenfelder Amts, zurzeit in Stuttgart, um eine Belohnung und ein Privileg für seine neu erfundene Feuerspritze“ aus den Jahren 1781-1783 archiviert. Die eben genannten Fakten und die Tatsache, dass es in Vöhringen im betroffenen Zeitraum laut Vöhringer Seelenregister 1768-1808 kein anderer in Frage kommender Ludwig Gühring gab, sprechen dafür, dass diese beiden Akten ebenfalls den hier behandelten Ludwig Gühring betreffen.

War Gühring also nicht nur ein „Andersdenkender“, sondern auch ein genialer Tüftler? Eine Forschung zu Ludwig Gühring, auch als ein Teil einer größer angelegten Untersuchung zu Dissidenten und/oder Tüftlern in der damaligen Zeit, könnte interessante Einblicke liefern.

Quellen
Landeskirchlichen Archiv Stuttgart, G 563 (Evangelisches Pfarramt Vöhringen, unverzeichnet), Schatulle „Verschiedenes 2“, Mappe „Die religiösen Schwärmereien Ludwig Gührings, Bauers, betreffend“
KB Vöhringen, Mischbuch 1689-1786, Taufregister 1689-1765, ohne Seitenzählung (16.03.1718)
KB Stuttgart Stiftskirche, Totenregister 1767-1784, Bl. 247v (18.11.1783)
KB Vöhringen, Seelenregister 1768-1808, Doppelseite G-H
Wikipedia: Noet
Wikipedia: Photinus von Sirmium
Wikipedia: Macedonius I of Constantinople
Wikipedia: Priscillian