Taufe des Mohren Ludwig Wilhelm Weiß

8. Januar 2021 | |

Mohr ist ein veralteter, präkolonialer Begriff für Menschen mit dunkler Hautfarbe, in erster Linie aus Afrika, der im Grunde, anders als spätere Termini nicht abwertend gemeint war, aber sicher mit Stereotypen assoziiert wird, wie etwa dem Firmensignet des Sarottimohren, also eines afrikanischen Jungen in orientalischer Kleidung, der als Diener eine Kaffeetasse serviert. Dass einer solchen Darstellung historische Vorbilder zugrunde lagen, beweisen auch Quellen des Landeskirchlichen Archivs.

Folgendes Zitat stammt aus einem Dekret zur Taufe eines “Mohren” aus dem Jahr 1713, welches sich unter den Akten der allgemeinen Akten des Evangelischen Konsistoriums findet.

„[…] denjenigen mohren, Welcher bißhero alß cammerjung dienste gethan, durch die heylige tauf dem christenthumb einverleibet und mit dem offentlichen gewöhnlichen taufs actu fürgegangen, auch ihme den namen Ludwig Wilhelm Weiß in gnaden beygelegt wissen wollen: Alß lassen allerhöchstermellt dieselbe solches dero consistorial directori und übrigen räthen zu ihrem verhallt und behörigen veranstalltung benachrichtlich in gnaden hiermit anfügen.“

Die “Kammer” meint hier unmittelbare Umgebung der Regentenfamilie am fürstlichen Hof in Ludwigsburg, beziehungsweise in Stuttgart. „Kleine Kammermohren“ wurden gegen Kostenerstattung in Familien der sonstigen Dienerschaft untergebracht. Ihnen wurde ein Unterricht gewährt und sie wurden getauft. Später erfolgte zumeist eine Ausbildung zum Pauker oder Trompeter. In fortgeschrittenem Alter oft wieder als „Kammermohr“ tätig. Sie gehörten aufgrund ihres in Württemberg ungewohnten Aussehens zu einer höfischen Inszenierung, offenbar genoss die höfische Welt ihre exotische Erscheinung. Ihre Anwesenheit erbrachte auch den scheinbaren Nachweis für eine Weltläufigkeit des jeweiligen Hofes.

Der hier beschriebene afrikanische Junge war zum Zeitpunkt seiner Taufe zwölf Jahre alt. Die Taufe erfolgte in der Stuttgarter Stiftskirche am 30. Juli 1713. Als Taufpaten stellten sich 33 Personen aus der allerbesten Hofgesellschaft zur Verfügung. Im Taufeintrag wird Näheres zu seiner geographischen und religiösen Herkunft deutlich gemacht: „ein Heydnischer Mohren=knab der Vermuthung nach Von 12 Jahren auß Madagascar“. Vermutlich war er ein „Geschenk“ Prinz Heinrich Friedrichs von Württemberg-Winnental, der damals in niederländischen Diensten stand und mit Herzog Eberhard Ludwig die Patenliste anführte. Er erhielt den Namen Ludwig Wilhelm Weiss. Die Vornamen waren damals typische Vornamen des württembergischen Adels. Der Name des damaligen Herzogs war Eberhard Ludwig, der seines Vorgängers war Wilhelm Ludwig. Der ihm zugedachte Nachname erscheint eigentümlich, fast wie zur heimlichen Verspottung seines Trägers einladend. Der Name „Weiss“ sollte aber die durch die Taufe gewonnene Reinheit symbolisieren. Der “Kammermohr” wurde beim Hilfspauker Jeremias Reisinger aufgezogen, dessen Beruf er später erlernte. 1724 heiratete er eine Seidenstickerin. Zwei Jahre später nahm er seinen Abschied vom Hof.

Neben Weiss gab es am Stuttgarter Hof noch weitere Schwarze. Zwischen 1650 und 1750 sogar mehrere gleichzeitig. Sie übernahmen gegenseitig Patenschaften für ihre Kinder.

Der pietistische Theologe Samuel Urlsperger hielt 1716 bei der Taufe eines anderen „Mohren“ aus Westafrika in der Stuttgarter Schlosskapelle eine Predigt, in der er den christlichen Verkündigungsauftrag an alle Völker hervorhob und „die beiden aus der Bibel bekannten afrikanischen Höflinge – den ‚Kämmerer‘ und Ebedmelech – der korrupten Hofgesellschaft als Vorbilder für Umkehr, Bekehrung und Einsatz für Wahrheit und Gerechtigkeit“ gegenüberstellte.

„Mohren“ waren in höherem Maße von der Gunst des regierenden Fürsten abhängig waren als andere Mitglieder der ständischen Gesellschaft, die meist über dichtere soziale Beziehungsnetze verfügten. Entgegen einer oberflächlichen Einschätzung waren solche “Kammermohren” keine Sklaven. Das Heilige Römischen Reich deutscher Nation kannte keine Sklaverei.

Bild: Landeskirchliches Archiv Stuttgart, A 26, Nr. 155, Qu. 101 (Dekret zur Taufe eines Kammermohren)

Literatur:

Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Hrsg.): Exotisch – höfisch – bürgerlich. Afrikaner in Württemberg vom 15. bis 19. Jahrhundert. Katalog zur Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart. Stuttgart 2001.
Firla, Monika / Forkl, Hermann: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof im 17. Jahrhundert. In: Tribus 44, 1995, S. 149-193.
Firla, Monika: Afrikanischer Pauker und Trompeter am württembergischen Herzogshof im 17. und 18. Jahrhundert. In: Musik in Baden-Württemberg 3, 1996, S. 11-41.
Firla, Monika: Samuel Urlsperger und zwei »Mohren« (Anonymus und Wilhelm Samson) am württembergischen Herzogshof. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 97, 1997, S. 83-97.
Firla, Monika: Quellen des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart zur Erforschung der Afrikanischen Diaspora des 18. Jahrhunderts in Württemberg. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 99, 1999, S. 90-112.

Nachkriegszeit Teil 15: Fremdenfeindlichkeit abbauen – Eine Ausstellung im Jahr 1948

21. Dezember 2020 | |

Als infolge des Zweiten Weltkriegs unzählige Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten nach Deutschland strömten, wurden sie von der Bevölkerung keineswegs mit offenen Armen empfangen. Sie wurden als „Rucksackdeutsche“ beschimpft und mit Argwohn betrachtet. Kleidung, Bräuche, Kochgewohnheiten, Dialekte, Konfessionen – alles erschien fremd.

Woher kamen die Menschen, die eine neue Heimat im zerstörten Deutschland suchten? Wie hatten sie gelebt, gearbeitet, gewohnt? In welchen Berufen waren sie ausgebildet worden, welches Handwerk hatten sie erlernt?

Um die einstigen Lebenswelten der Flüchtlinge näherzubringen und dabei Vorurteile abzubauen, finanzierte das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Württemberg 1948 eine Ausstellung mit dem Titel „Wer wir sind“. Die sogenannten Neubürger hatten die Möglichkeit, sich und ihre Heimat durch Schnitzereien, Fotos, Trachten und Handarbeiten darzustellen. „Wer diese Ausstellung gesehen hat, der musste ein anderes Bild von den Heimatvertriebenen bekommen“, resümierte der Monatsbrief des Hilfswerks nach Abschluss der Ausstellung. Ziel der Schau war die Einsicht, „dass diese Bauern und Handwerker für uns keine Fremdlinge sein können.“ Die in Hilfskomitees organisierten Donauschwaben, Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Bessarabier und Dobruschdadeutsche beteiligten sich an der Ausstellungskonzeption. In 18 württembergischen Städten wurde die Ausstellung gezeigt und in Feierstunden und Gottesdiensten eröffnet. Eine Brücke des gegenseitigen Verstehens und der christlichen Nächstenliebe sollte gebaut werden. Die Alteingesessenen konnten mit dem Besuch der Ausstellung deutlich machen, „daß man hierzulande nicht ohne Herz ist und immer mehr zu tun gewillt ist, das materielle und das seelische Leiden der Brüder und Schwestern zu lindern und ihnen eine wirkliche Heimat in unserem armen und gequälten Land zu bereiten.“

Der Verlust der Heimat und die Traumatisierung der rund 600 000 Vertriebenen (in Württemberg, bis 1948), vor allem aus Rumänien und Jugoslawien, erfuhren durch die Schau ein gewisses Maß an Anerkennung. Um Verständigung werbend, versäumte man im Bericht im Monatsbrief des Hilfswerks nicht, das Leid und die schwierigen Lebensumstände der Altbürger in die Waagschale zu werfen.

Die Ausstellung als Experiment für den kulturellen Austausch und als Brückenschlag zwischen Alt- und Neubürger*innen wurde mit rund 50 000 Besucher*innen als „gesegneter Erfolg“ verbucht.

 

Quellen:

Unser Monatsbrief. Hilfswerk der Evang. Landeskirche in Württemberg, 2. Jahrgang, November 1948.

L1, Nr. 3455 (U 954)

L1, Nr. 305

Matthias Beer, Die ‚Flüchtlingsforschung‘ zum deutschen Südwesten. Anmerkungen und Thesen, in: Rainer Bendel/Abraham Kustermann (HG.), Die kirchliche Integration der Vertriebenen im Südwesten nach 1945, Berlin 2010, S. 197-211.

Beitragsbild: Handarbeiten der Siebenbürger Sachsen aus Rumänien

Nachkriegszeit Teil 14: Lebensperspektiven für Kriegsversehrte in Isny und Oberstenfeld

15. Dezember 2020 | |

Eineinhalb Millionen kriegsversehrter Menschen lebten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Es waren zumeist Soldaten, die ohne Arme oder Beine aus dem Krieg zurückkamen, viele hatten durch Kriegseinwirkungen ihr Augenlicht oder ihr Hörvermögen verloren, hatten Gesichts- oder Hirnverletzungen. Aber auch eine große Anzahl von Zivilisten wurden bei den Bombardierungen der Städte an Leib und Seele versehrt. Für all diese Menschen stellte sich die Frage, wie ein Leben bewerkstelligt werden sollte, ohne sehen, laufen oder Dinge in die Hand nehmen zu können? Wie konnte Anschluss an das Berufsleben, an das Leben in Friedenszeiten überhaupt gefunden werden? Um diese vom Krieg gezeichneten Menschen aufzufangen und beruflich zu fördern, gründete das Evangelische Hilfswerk – die spätere Diakonie – 1945 ein Versehrtenheim in Oberstenfeld. Ein Jahr später wurde in Isny ein zweites Heim in Betrieb genommen. Hier bestand die Möglichkeit einer Berufsausbildung zum Maler, Schreiner, Schuh- oder Korbmacher. Tägliche Andachten und seelsorgerliche Angebote sowie Vorträge und Freizeiten sollten das psychische Wohlergehen der Heimbewohner unterstützen und ihnen helfen, wieder ins Leben zu finden. Durch die arbeitstherapeutischen Angebote und die Möglichkeit, eine Berufsausbildung zu machen, konnten viele Heimbewohner Selbstvertrauen gewinnen und nach mehreren Jahren Heimaufenthalt wieder ein selbständiges Leben führen. Speziell für traumatisierte Menschen war im Versehrtenheim Isny als beschäftigungs- und arbeitstherapeutische Maßnahme seit 1952 ein landwirtschaftlicher Betrieb angegliedert worden. Während das Versehrtenheim in Oberstenfeld 1950 aufgegeben wurde, erweiterte die Einrichtung in Isny ihre Werkstätten. Das Heim existiert bis heute als „Stephanuswerk“ für Menschen mit Unterstützungsbedarf.

Quellen:

L1 Nr. 296, 297, 379

A 126 Nr. 3150

Unser Monatsbrief, Hilfswerk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, November 1949

Herbert Keller (Hrsg.), 10 Jahre Hilfswerk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1955

125. Geburtstag Martin Haug (1895 – 1983)

14. Dezember 2020 | |

Gemälde aus dem Jahr 1963 des Künstlers Paul Kälberer (1896-1974), Glatt bei Sulz a. N., Größe: 107×87 cm. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Museale Sammlung.

Martin Haug war von 1948 bis 1962 Landesbischof der evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er wurde als Sohn eines Gymnasiallehrers in Calw geboren. Im ersten Weltkrieg meldete er sich wie viele andere als Freiwilliger und wurde in Frankreich schwer verwundet. Nach dem Theologiestudium in Tübingen, der 1920 erfolgten Ordination und verschiedenen Stellen als Religionslehrer und Pfarrverweser  wurde er zunächst Repetent am Tübinger Stift. 1925 promovierte er zum Doktor der Theologie. Seine erste Pfarrstelle trat er 1926 an der Eberhardskirche in Tübingen an. 1930 wurde er Studienrat am Evangelischen theologischen Seminar in Bad Urach und 1935 Direktor des Pfarrseminars in Stuttgart. In den Oberkirchenrat als Personalreferent wurde er 1943 berufen und 1946 zum Prälaten und Stellvertreter des Landesbischofs Wurm ernannt, zu dessen Nachfolger er 1948 wurde. Die Landeskirche hatte in dieser Zeit vielfältige Herausforderungen zu bewältigen, wie etwa die Unterstützung und Integration der Flüchtlinge und der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Kirchen.

Was die Überlieferung im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart zu seiner Person und zu seinem Wirken in der Landeskirche betrifft, so ist hier zunächst auf die Personalakte in Bestand A 227 hinzuweisen. Zudem verwahrt das Archiv als Bestand AH 4 die Handakten Haugs, welche unter anderem eine umfangreiche Korrespondenz enthalten. Fotos des früheren Bischofs finden sich in der Bildersammlung des Archivs.

Ein rascher Zugriff auf die Daten zu seinem Leben und zu seinem Wirken in der Landeskirche ist über die Personendatenbank in Württembergische Kirchengeschichte Online möglich.

Ausführlicher zu Martin Haug hier.

 

Serie Nachkriegszeit Teil 13: Kinderschicksale – Heimschule für Flüchtlingswaisen Kleinglattbach

8. Dezember 2020 | |

In der Nachkriegszeit mussten viele Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland als Halbwaisen aufwachsen, da die Väter als Wehrmachtssoldaten gefallen waren. Normalerweise haben dann die Mütter die Kinder allein betreut. Allerdings gab es auch Mütter, die dazu aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage waren, oder Kinder, die während der Kriegswirren am Ende des Krieges beide Eltern verloren hatten, also zu Vollwaisen wurden. Das evangelische Hilfswerk in Württemberg richtete für diese vom Schicksal schwer getroffenen und oft traumatisierten Kinder eine Knabenheimschule in Kleinglattbach bei Vaihingen an der Enz ein.
In der archivischen Überlieferung dieser Einrichtung finden sich etliche Beschreibungen dieser Schicksale, von denen wir drei herausgreifen:

1) T.K., ein 14-jähriger, 1933 in Ödenburg (Sopron) in Ungarn geborener Junge kam am 6. Juli 1946 in die Knabenheimschule. 1944 musste er beim Vormarsch der Russen seine Heimat verlassen und verbrachte die Zeit dazwischen in verschiedenen Lagern. Dreckig, zerlumpt und unterernährt kam er zusammen mit fünf anderen Jungen in Kleinglattbach an. Nach einer Dusche und mit neuen Kleidern kamen nette und saubere Jungen zum Vorschein. Er hat dann durch eine wundersame Fügung seine Eltern wiedergefunden. Nach drei Wochen wurde er aber wieder in die Knabenheimschule aufgenommen.
2) Vier Brüder aus Oberschlesien (Horst, geb. 1933, Heinz, geb. 1934, Egon, geb. 1935, Gottlieb, geb. 1937) kamen als Halbwaisen in die Heimschule. Der Vater war in einem KZ umgekommen. Die alleinerziehende Mutter, die noch einen kleinen Buben und zwei kleine Mädchen zu versorgen hatte, war mit der Betreuung ihrer Kinder überfordert. Die Jungen scheinen auch unterernährt angekommen zu sein.
3) E.T. war 1935 in Schönborn (heute Novo Selo), einem damals von Deutschen besiedelten Ort in Bosnien, geboren. Der Vater betrieb dort eine kleine Zuckerbäckerei. Die Erinnerung an den nächtlichen Überfall von Partisanen auf das Dorf und die damals erfolgte sofortige Vertreibung der Bewohner hat ihn traumatisiert. Seine Eltern waren nun ausgezehrt und krank und konnten sich nicht ausreichend um ihn kümmern. Der Vater lebte in einem Flüchtlingslager, die Mutter war auf unabsehbare Zeit zur Erholung verschickt.

In den Akten findet sich auch eine erstaunliche, fast filmreife Geschichte. An einem Sonntag im Sommer 1946 machte eine zwölfköpfige Gruppe der Heimschule eine Ausflugswanderung zum nahen Aussichtsturm Eselsburg. In die Balken des hölzernen Turms waren wie so üblich die verschiedensten Namen eingeritzt. Zu seiner großen Überraschung entdeckte ein Junge darunter auch den Namen seines Vaters. Dabei stand auch ein Ortsname. Zunächst war unklar, ob das nur eine zufällige Namensgleichheit war. Aber der Sache musste nachgegangen werden. Deshalb wurde der Junge zusammen mit zwei anderen Schülern als Begleiter in den genannten Ort geschickt, der sich in etwa einer Stunde Fußmarsch von Kleinglattbach entfernt befand. Sie sollten sich dort beim Pfarrer erkundigen, ob er die Person kenne und, wenn ja, um wen es sich handle. Wie sich mit Hilfe des Pfarrers herausstellte, war diese Person tatsächlich der Vater des Jungen. Es kam dann zu einer tränenreichen Begegnung im Pfarrhaus. Nach der Entlassung aus dreijähriger russischer Gefangenschaft war der Vater in diesem Dorf in Württemberg untergekommen. Der in Ungarn geborene Sohn, dessen Mutter inzwischen nicht mehr am Leben war, war 1946 als Waise in Kleinglattbach aufgenommen worden. Wie dem Bericht zu entnehmen ist, war die Freude in der Heimschule insgesamt sehr groß, als der Junge am Abend tatsächlich zusammen mit seinem Vater zurückkam.

Der Standort der Knabenheimschule waren während der ersten drei Jahre ihres Bestehens (1946-1948) angemietete Räume im Hofgut der Familie von Neurath in Kleinglattbach, die unmittelbar davor interimsweise vom Seminar Blaubeuren genutzt worden waren. Leiter der Schule war Dr. Willibald Heldt (1900-1968), ein baltendeutscher ehemaliger Schuldirektor aus Estland, dem nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft die Rückkehr in seine Heimat nicht mehr möglich war.
Bei Aufnahme der Arbeit im Februar 1946 konnten bereits 20 Jungen, die auf der Flucht ihre Eltern verloren hatten, aufgenommen werden. Die Schule bot Unterkunft für etwa 65 Schüler, die sich in ihrer Freizeit im Chor und Streichorchester einbringen oder sportlich betätigen konnten. Die Schüler legten im Garten Beete an. Die eigentliche Verpflegung wurde durch das Evangelische Hilfswerk bereitgestellt. Insgesamt 126 Schüler konnten bis 1948 in der Heimschule untergebracht werden. 1948 wurde der Schulbetrieb mit 60 Schülern in die Laufenmühle bei Welzheim verlegt. Aus finanziellen Gründen wurde die Arbeit 1949 eingestellt. Die Schüler wurden daraufhin an der Landeswaisenanstalt in Schwäbisch Gmünd und im Evangelischen Landeserziehungsheim Urspring untergebracht und konnten dort ihre Schulausbildung vollenden.

Quellen: LKAS, L 1, Nr. 2302-2304, 2307.

Serie Nachkriegszeit Teil 12: Siedlungswesen – Kirchliche Bauförderung

1. Dezember 2020 | |

Das Evangelische Hilfswerk war von Anfang an bestrebt, der großen Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg Abhilfe zu schaffen. Die Beschaffung von Baustoffen war zunächst fast unmöglich. Daher begann man 1945 mit dem Bau von Häusern in Lehmbauweise. Diese Bauart kannten viele Flüchtlinge z.B. aus ihrer südosteuropäischen Heimat, so dass sie ihre Erfahrung in das Bauverfahren einbringen konnten. In Kleinbottwar entstand unter Federführung des Hilfswerks eine der ersten Lehmbausiedlungen, und zugleich eine Ausbildungsstätte für diese traditionelle Bauweise. Handgeformte und luftgetrocknete Lehmziegel, die kaum Bindungsmörtel benötigen, dienten als Baumaterial. Nach der Währungsreform 1948 konnte der Wohnungsbau durch staatliche und kirchliche Förderung weiter vorangetrieben werden. Die Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft des Hilfswerks der EKD war beratend tätig und stellte Darlehen für Eigenheimbauer bereit. In Württemberg konnten mit Hilfe der Siedlungsgesellschaft bis 1955 etwa 2500 Wohnungen errichtet werden. Um schnell Wohnraum zu schaffen, gründete das Hilfswerk nach dem Krieg die Aktion „Ausbauwohnung“. Diese Wohnungen wurden in bestehenden meist kommunalen Häusern ausgebaut. In Württemberg konnten so 350 Wohnungen für etwa 1200 Flüchtlinge bereitgestellt werden. Landesbischof Martin Haug startete 1952 einen öffentlichen Aufruf: „Seitdem ich von der großen Not in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern gehört habe, kann ich des Nachts nicht mehr ruhig schlafen. Ich bitte dem Ruf des Hilfswerks zu folgen: Jede Gemeinde baut eine Ausbauwohnung für eine heimatvertriebene Familie.“

Quellen:

LKAS, Bildersammlung
OKR Altreg. Generalia 529 b
L 1 Nr. 333, 346, 349, 353

Beitragsbild: Spendenappell des Hilfswerks zur Förderung des Wohnungsbaus

 

Adventssterne – ein vergessener evangelischer Brauch

30. November 2020 | | ,

Solche Adventssterne schmückten früher in der Vorweihnachtszeit manch frommes Haus. Dieser ausgesprochen evangelische Brauch ist heute nahezu in Vergessenheit geraten. Dabei gehörte er in vielen diakonischen Anstalten seit Mitte des 19. Jahrhunderts fest zum vorweihnachtlichen Geschehen. Auch in frommen Privathaushalten war er noch bis in die 1950 er Jahre hinein zu finden. Jeden Tag wurde eine biblische Verheißung der Christgeburt vorgelesen und als Kärtchen an einen dafür aufgestellten Baum gehängt.
Die religionspädagogischen Möglichkeiten adventlicher Einstimmung für die Jugend hatte man in den Einrichtungen der Inneren Mission früh erkannt. Ausgangspunkt waren die täglichen Adventsandachten mit den Kindern und Jugendlichen im Rauhen Haus bei Hamburg, die Johann Hinrich Wichern, der Begründer der Inneren Mission, einführte. Daraus entwickelte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Adventsbräuchen. Vertraut sind uns der Adventskranz und der Adventskalender, daneben gab es auch Adventsuhren und Adventsbäume, die die Zeit des Wartens auf die Ankunft des Erlösers begleiteten.

Bild: Adventssterne, um 1920 (Museale Sammlung)

Serie Nachkriegszeit Teil 11: Neue Formen der Jugendsozialarbeit – die Aufbaugilden des Evangelischen Hilfswerks

24. November 2020 | | ,

Die Not nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war auch unter den Heranwachsenden und Jugendlichen besonders groß. Ohne jegliche Perspektiven drohten heimat- und elternlose Jugendliche, die in Bunkern und Luftschutzräumen der zerstörten Städte lebten oder ziellos über die Landstraßen zogen, in die Kriminalität abzurutschen. Um dies zu verhindern, engagierte sich das Evangelische Hilfswerk in der Jugendsozialarbeit mit dem Aufbau sogenannter „Gilden“. Dieser Name wurde in Anlehnung an die mittelalterlichen Genossenschaften ausgesucht, die religiöse oder berufliche Ziele verfolgten und sich dabei um das Wohl ihrer Mitglieder sorgten. Dies war auch bei den Aufbaugilden der Fall. Die jungen Menschen sollten in familienähnlichen Gemeinschaften zusammenleben und Halt im christlichen Glauben finden.

Die erste Aufbaugilde entstand im Februar 1948 auf Schloss Stettenfels bei Heilbronn, als ein Zeichen des Neuanfangs und gleichzeitig als Selbsthilfe zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Hier half die Gilde beim Ausbau eines Altersheims für Flüchtlinge. Die nach und nach entstehenden Gilden wurden zu gemeinnützigen Arbeiten eingesetzt, wie Trümmerbeseitigung, Forst- und Steinbrucharbeiten. In Calw-Stammheim wurde mit Hilfe von Spendengeldern aus der Schweiz eine Gilde aufgebaut, die das beschädigte Freibad wieder instand setzte.

1952 gab es in Württemberg bereits 12 Aufbaugilden. Mit der steigenden Zahl von „Ostflüchtlingen“ aus der DDR wurden nach württembergischem Vorbild auch in Hessen und Nordrhein-Westfalen mehr als 60 Gilden bis Ende 1953 gebaut. Im selben Jahr startete die Mädchengilde in Stuttgart. Zusätzlich entstanden Abiturienten- und Studentengilden, sowie Stadt- und Landgilden. Beim zehnjährigen Jubiläum 1958 wurde von 59 Gilden berichtet, in denen über 11 000 Jugendliche für mindestens ein halbes Jahr mit den westlichen Lebensverhältnissen vertraut gemacht wurden. 1958 existierten im gesamten Bundesgebiet über 120 Gilden. Mit dem Bau der Mauer im August 1961 stoppte der Flüchtlingsstrom aus der DDR. Die Gildenarbeit widmete sich nun spätausgesiedelten Jugendlichen, die mit ihren Eltern aus ehemaligen deutschen Ostgebieten kamen. Um ihnen die Integration in Westdeutschland zu erleichtern, wurden Förderschulen mit Sprachkursen eingerichtet. Die meisten Gilden in Württemberg stellten jedoch ihre Arbeit zu Beginn der 1970er Jahre ein. Lediglich die Heilbronner Aufbaugilde hat sich erhalten und arbeitet bis heute mit jungen Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen eine Betreuung brauchen.

Quellen:

LKAS, L 1, Nr. 93, Nr. 777, Nr. 887, Nr. 1384, Nr. 2300, Nr. 3447

Reinhold Schäffer, Die Gilde – Das Stammheimer Gildenhaus – eine fast vergessene diakonische Einrichtung 1949-1956.

Unser Monatsbrief. Hilfswerk der Evang. Landeskirche in Württemberg, 4. Jahrgang, Februar 1950, S. 2-11.

Monatsbrief. Der Arbeitsgemeinschaft der Diakonischen Werke in der Evang. Landeskirche in Württemberg, 13. Jahrgang, Nr. 2 Februar 1959, S. 2-3.

Gudrun Köpf, Von „Hühnerhofpädagogik“ und Gildenarbeit im Kalten Krieg. Hans Walter Mehlhorn erzählt, in: Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit (Hrsg.), Jugendsozialarbeit im Wandel der Zeit. Eine Bundesarbeitsgemeinschaft wird Fünfzig, Münster 1999, S. 89-92.

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Trauerlyrik in Deutsch, Latein und Hebräisch

21. November 2020 | | ,

 

Die Einträge in den Toten- bzw. Begräbnisregistern sind meist knapp gehalten. Sie enthalten den Namen der verstorbenen Person, bei Kindern den Namen ihres Vaters (und manchmal auch der Mutter), bei verheirateten Frauen den Namen des Ehemannes und das Datum und Ort der Beerdigung, später auch das Datum und Ort des Todes sowie ggf. Angaben zum Beruf und häufig auch zum Alter. Besondere Todesumstände, wie z.B. ein Unfall, werden meist ausführlicher beschrieben.

In einem Totenregister von Neuenstadt am Kocher findet man zwei eher ungewöhnliche Einträge, die neben den üblichen Angaben eine persönliche Trauerlyrik enthalten. Im ersten Fall musste der Neuenstädter Diakon Johann Ludwig Hochstetter seinen eigenen Sohn betrauern und zu Grabe tragen. Im zweiten Fall starb der Sohn des Special-Superintendenten (Dekan) von Neuenstadt Wilhelm Christoph Stein. In beiden Fällen hatte Hochstetter den Todeseintrag um eine Trauerlyrik in Deutsch und Latein ergänzt, im zweiten Fall hatte außerdem Stein ein Gedicht auf Hebräisch angefügt. Hochstetter scheint ein gebildeter und in der Dichtkunst bewanderter Mensch gewesen zu. Selbiges gilt auch für Stein, der auch das Hebräische gut beherrschte. Beide verfügten deshalb wohl über einen hohen Bildungsgrad.

Die hebräischen Zeilen sind in Reimen geschrieben und sind im Takt. Die Vokalisierung ist (außer in einem Fall) korrekt. Durch die Verwendung biblischer Vokabeln und Vokabeln aus der späteren talmudischen Zeit ist die Sprache relativ modern. Unser Kollege Dr. Jakob Eisler hat diese Zeilen übersetzt und eingesprochen, die entsprechende MP3-Datei (28 Sekunden) kann hier geöffnet bzw. heruntergeladen werden.

Aufgrund dieser doch emotionalen Einträge ist anzunehmen, dass zwischen den Familien Hochstetter und Stein eine engere Beziehung bestand.

Der Todeseintrag von Albrecht Martin Hochstetter (1684-1685)

Albrecht Martin wurde am 9. November 1684 in Neuenstadt am Kocher getauft. Die Eltern waren der Diakon Johann Ludwig Hochstetter und dessen Ehefrau Johanna Barbara Lusterer. Er verstarb bereits am 15. April 1685, sein Todeseintrag lautet wie folgt:

„Den 15. dises [= April 1685] stirbt mir, dem Diacono M[agister] Hochstetter eines gar schnellen und plötzlichen Todes, ein Söhnlein von 6 Monaten nahmens Albrecht Martin, und wurde den folgenden Tag in einer wortreichen Procession in den eußeren Kirchhoff, zum Helmbund [= Helmbundkirche], beisetzet und zur Ruhe gebracht.

So gesstu liebstes Kind die finstre Todesstraßen!

Und wilt uns Eltern hier in großem Leide laßen!

Die wir an deiner Gestalt und Rosen Lippen roth,

so offtmals uns ergözt; nun aber bisstu tod.

Doch lebt dein Seelelein in Gottes Vatter Händen,

da werden wir dereinst gewiß dich wider finden.

Ade du liebes Hertz, nun seliges Gotteskind,

wir denken jammers voll stehts an dein so schmerzlichs schnelles End.

 

Sic properas, Fili, pallentas ire sub umbras,

Cui quondam nobis gaudia mille dabas!

Gaudia quid dico, in luctum tam versa repente,

dum cadis ante diem, morte perempte fera.

Non tamen omne cadis, Pars nobilis incola facta

Iam Coeli, tristes suadet abesse voces.

Dextra Dei, nostros quae iam divulsit amores,

Haec olim celsa iunget in arce Poli.”

 

Übersetzung:

So gehst du, Sohn, eilends unter die bleichen Schattenbilder,

einstmals machtest du uns ungezählte Freude!

Was sage ich Freude? Mit einem Schlag ist die Freude in Trauer verwandelt,

indem du vor der Zeit ins Grab sinkst, durch einen grausamen Tod umgekommen.

Trotzdem sinkst du nicht ganz tot hin, dein edler Teil ist schon Bewohner des Himmels,

rät an, sich von betrübten Reden fernzuhalten.

Die rechte Hand Gottes, die unsere Liebe gewaltsam trennte,

wird sie dereinst in der stolzen Himmelsburg zusammenfügen.

 

 

Der Todeseintrag von Johann Martin Stein (1681-1687)

Johann Martin wurde am 21. September 1681 in Brettach (Langenbrettach) geboren und am 23.09.1681 in der dortigen Pfarrei getauft. Die Eltern waren Wilhelm Christoph Stein, damals Pfarrer in Brettach, und dessen Ehefrau Maria Catharina Friesenegger. Einer der Paten war Johann Ludwig Hochstetter, Diakon in Neuenstadt.

Johann Martin starb am 7. Mai 1687, sein umfangreicher Todeseintrag lautet:

„Den 7. dises Monats [Mai 1687], stirbt Herrn M[agister] Wilhelm Christophoro Steinen, Special Superintendenten und Stattpfarrer alhir, sein so jüngstes Söhnlein nahmens Hans Martin, seines Alters 5 Jahr und 6 Monat und wurde den 9. darauff christlich zur Erden bestattet, auch zu besten Angedenck ihme ein Sermon vor dem Altar gehalten.

 

Mensis erat Majus, quo Tellus flore superbit

Multiplici et Oculis gaudia mille parat.

Torva cum facie Mors invida viderat hortum,

Cum gaudio qualem hic nostra Juventus habet.“

 

Übersetzung:

Es war der Monat Mai, wenn die Landschaft voll von Blüten ist

und dies den Augen ungezählte Freude macht,

als der missgünstige Tod mit finsterem Antlitz den Garten sah,

den unsere Jugend hier mit Freude besitzt.

 

„Ilicet attingens falcem, prae millibus unus

Esto meus, dixit, cui Coler gratus erit;

Unde tuum petiit Patus, lethale venenum

Admiscens falci, te feriendo secat.

Te puto Martinum, quem Fonte lavare sacrato

Inq(ue) dei foedus ducere sors voluit.“

 

(Auf eine Übersetzung wurde an dieser Stelle wegen Unklarheiten bewusst verzichtet – Übersetzungsvorschläge sind willkommen.)

 

„Inde Tuam morte doleo sed gaudeo sortem

Coelicolam quando pensito iamq(ue) tuam;

Vivis enim superis admixtur, liber ab omni

Moestitia, et coeli gaudia mille capis.“

 

Übersetzung:

Daher bedauere ich deinen Tod, aber wenn ich es überdenke,

dann freue ich mich darüber, dass du im Himmel wohnst.

Denn du befindest dich bei Gott, frei von aller Traurigkeit,

und empfängst die unzähligen Freuden des Himmels.

 

„In dem der bunte Mai das Feld thut stattlich ziren,

Mit Blumen mancher Art, so wo wir nun hinführen

Die Augen alles lacht, tritt unversehens ein

Mit seiner Sensen scharff der blaße Schenken Bein;

Bald nam er sie zur Hand und thut damit abhauen

Aus unserm Garten hier ein schöne Blum zuschauen;

Dich mein‘ ich junger Stein du schöner Vasen roth,

Da du vorher gewest erblaßest du im Tod;

Nun soll dein schnelles End gantz billich mir Laid bringen,

Weil du von mir getaufft in guten Künsten Dingen

Schon gebest Hoffnung dar, allein weil Gottes hand

Dich zu sich abgeholt, ist glücklich jetzt dein Stand;

So leb nun wolvergnügt die liebe Seel im Himmel

Wir ächzen underdeß noch in dem Welt Getümmel,

des Herrn Tag wird uns zusamen bringen bald,

wann Himmel und die Erd in einen Hauffen falt.

memoria sua ponebat [= Aus seiner Erinnerung setzte dies mit hin]

  1. HL. H. Diac. [= Magister Hans Ludwig Hochstetter, Diakon]“

 

Übersetzung des Hebräischen:

Mein Sohn, Dein Todestag ist ein dunkler Tag

Du hast mir viel bedeutet.

Wir liebten dich wie die Anderen.

Meine Seele war mit Deiner verbunden.

Du bist ins Grab (Hölle) gekommen,

und ich und deine Mutter trauern,

wie auch deine Brüder und Schwestern.00

Dein Körper ist nicht mehr da.

Deine Knochen ruhen im ewigen Leben

bei Gott.

„solatii ergo Parens appon(ebat) [= Der Vater fügte dies als Trostspender hinzu]“

 

Vokalisierung der hebräischen Zeilen (bitte Anklicken):

 

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Quellen

KB Brettach, Mischbuch 1558-1686, Taufregister 1558-1686, ohne Seitenzählung (21.09.1681)

KB Neuenstadt am Kocher, Mischbuch 1680-1740, Taufregister 1680-1739, Bl. 24r (09.11.1684)

KB Neuenstadt am Kocher, Mischbuch 1680-1740, Totenregister 1680-1739, Bl. 279r – 279v (15.04.1685)

KB Neuenstadt am Kocher, Mischbuch 1680-1740, Totenregister 1680-1739, Bl. 285r – 286r (07.05.1687)

wikipedia, Helmbundkirche  

Nachkriegszeit Teil 10: „Verschickungskinder“ – im Erholungsheim Bergfreude in Scheidegg im Allgäu

17. November 2020 | |

Außenansicht Erholungsheim Bergfreude in Scheidegg. LKAS, Bildersammlung, P 8500

Schlafraum, LKAS, Bildersammlung, P 8517

Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte das Evangelische Hilfswerk in Württemberg (die spätere Diakonie) verschiedene Erholungsheime für Kinder, um geschwächten und von Krankheit bedrohten Kindern einen Erholungsaufenthalt zu ermöglichen. Kinder, die als Spätfolgen des Krieges beispielsweise unter nervösen Erschöpfungszuständen, Wachstumsstörungen, Appetitlosigkeit litten oder der Gefahr einer Tuberkuloseerkrankung ausgesetzt waren, wurden über Gesundheits- und Jugendämter in verschiedene Hilfswerk-Erholungsheime vermittelt. So auch nach Scheidegg, denn das Reizklima in den Allgäuer Bergen sollte für asthmatische und Bronchitis anfällige Kinder gesundheitsfördernd wirken. Im Frühjahr 1948 wurde das evangelische Kindererholungsheim „Bergfreude“ eröffnet und sollte den Kindern auch die christliche Botschaft nahebringen. Der Tagesablauf war strukturiert mit Morgenlied, Tischgebet und Abendsegen, sonntags nahmen die Kinder am Kindergottesdienst teil. In den vier- bis achtwöchigen Kuraufenthalten konnten in Scheidegg jeweils 35 Kinder aus meist benachteiligten Familien im Alter von 5-14 Jahren mit „ausgezeichnete[r] Kost, regelmäßige[r] Tageeinteilung, Liegekuren, Spaziergänge[n] in den angrenzenden Wäldern“ (Anm. 1) wieder zu Kräften kommen. Ob den Kindern dieses Programm gefallen hat, lässt sich aus den Akten nicht wirklich entnehmen. Zumindest die Mittagsruhe erfreute sich keiner großen Beliebtheit, wie im „Scheidegger Lied“ (siehe Anhang) zu lesen ist. Angenommen werden kann, dass die individuellen Bedürfnisse des Kindes vermutlich keine große Rolle gespielt haben. Offensichtlich haben sich die Verantwortlichen in der damaligen Zeit wenig Gedanken darüber gemacht, wie ein fünfjähriges Kind vier- bis acht Wochen ohne vertraute Bezugsperson in einer völlig fremden Umgebung zurechtkommen soll. Kinder mussten zu dieser Zeit einfach funktionieren, sich ein- und unterordnen. Trotzdem wurde nach Angaben im „Monatsbrief der Arbeitsgemeinschaft der diakonischen Werke“ darauf geachtet, „daß sich die Kinder während ihres Aufenthalts geborgen fühlen und die Nestwärme kennen lernen, die sie zu Hause oft vermissen.“ (Anm. 2) Sicherlich gab es Kinder, die sich in der Erholungskur wohlgefühlt und das pädagogische Personal als liebevoll erlebt haben. Es kann jedoch angenommen werden, dass manche Kinder vor allem die „gute Ordnung und feste Zucht“ wahrgenommen haben und unangemessen bestraft wurden, wenn sie eingenässt, nicht aufgegessen oder keine Mittagsruhe halten wollten. Für diese Kinder war ein Kuraufenthalt traumatisch und manche leiden noch heute darunter. Erst in den letzten zwei Jahren wurde das Schicksal der „Verschickungskinder“ in den Medien thematisiert. Daher erreichen auch unser Archiv Anfragen Betroffener zu ihrem Aufenthalt in Erholungsheimen. Leider sind nur wenige Sachakten von einigen Erholungsheimen vorhanden, zumeist ohne Namenslisten anhand derer sich rekonstruieren ließe, wer wann in welchem Erholungsheim untergebracht war.

Anm. 1: L 1 Nr. 689, Zeitungsartikel „Neues Kinderheim in Scheidegg“, ohne Datum. Weitere Informationen in Nr. 686, 690, 2575.
Anm. 2: Monatsbrief der Arbeitsgemeinschaft der diakonischen Werke der evangelischen Landeskirche in Württemberg Nr. 8, August 1959.
Anm. 3: Unser Monatsbrief. Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Württemberg, März 1950. Siehe auch „Unser Monatsbrief Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Württemberg“, August 1949.

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Volkstrauertag

15. November 2020 | |

Man läuft oft mehr oder weniger achtlos an solchen Gefallenendenkmälern mit den vielen Namen vorbei. Aber hinter jedem Namen verbirgt sich ein Leben, das durch den Krieg abgeschnitten wurde.

Zum heutigen Volkstrauertag zeigen wir zwei Gefallenengedenktafeln der Karlshöhe aus unserer Musealen Sammlung.

Der Volkstrauertag wurde 1919 vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge als Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs initiiert und wird seit 1925 begangen.

Gefallenengedenktafeln werden heute sehr zwiespältig betrachtet. Werden hier diejenigen gewürdigt, die für ihr Land starben, im Bewusstsein, ihre nationale Pflicht zu erfüllen? Oder werden hier Täter gefeiert, Kriege verherrlicht und ein falsches Heldentum gefördert? Wo wird um die Toten getrauert? Müsste nicht aller Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaften gedacht werden?

Überhaupt: ist das nicht alles viel zu lange her? Der richtige Umgang mit dieser Art von Erinnerung und Gedenken wird in der Öffentlichkeit jedenfalls heftig diskutiert.

Für die Diakonie Karlshöhe passten die Gefallenengedenktafeln schon lange nicht mehr in die Zeit. Jahrzehntelang lagerten sie in einem Abstellraum, bis sie in diesem Frühjahr ins Landeskirchliche Archiv gebracht wurden. Als historische Objekte sind sie dort am richtigen Platz. Mit den sorgfältig aufgemalten Namen und Daten der im ersten Weltkrieg „für das Vaterland“ gefallenen diakonischen Brüder und ehemaligen Zöglinge des Kinderheims in Ludwigsburg sind die Tafeln wichtige Zeugnisse für die Geschichte der Brüderanstalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf diese Weise können Kriegerdenkmäler und Gefallenengedenktafeln sinnvoll in ihrem historischen Kontext verortet werden.

Der Volkstrauertag wird heute als Gedenktag für alle von Krieg, Gewaltherrschaft und Terrorismus Betroffenen begangen. Bei der zentralen Feierstunde im Deutschen Bundestag spricht der Bundespräsident das traditionelle Totengedenken, das mit folgenden Worten beginnt: “Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.”

Namen und Lebensläufe – Spurensuche in den Karlshöher Brüderbüchern

Um den Namen der gefallenen Karlshöher Brüder weiter nachzugehen, eignen sich die regelmäßig herausgegebenen „Brüderbücher“ als interessante Quelle. Darin finden sich Kurzbiogramme der Diakone, die Einblick in ihre Lebensläufe und Arbeitsstationen geben.

Greifen wir zwei Namen auf der Gefallenengedenktafel heraus – Christoph Wohlgemuth und Jakob Waldenmayer.

Links auf der Tafel ist das Jahr des Eintritts in die Karlshöhe vermerkt, bei beiden 1904. Die Sterbedaten befinden sich rechts.
Aus dem Brüderbuch das Jahres 1912 erfahren wir Genaueres, nämlich, dass Christoph Wohlgemuth 1877 in Möttlingen bei Calw geboren wurde, dass er sich 1905 mit Friederike Hohenberger verheiratet hat und 1907 seine Tochter Maria zur Welt kam. Seine beruflichen Stationen erstrecken sich vom Stuttgarter Ludwigsspital, über das „Brenzhaus“, bis zum Gesellenheim „Hans Sachs“, wo er zuletzt als Hausvater wirkte und das alkoholfreie Vereinskaffeehaus betrieb.
Jakob Waldenmayer wurde 1881 in Zell, bei Kirchheim/Teck geboren. Bevor er die Karlshöher Ausbildung zum Krankenpfleger und Diakon begann, war er zwei Jahre beim Militär in Ulm. Seine beruflichen Stationen führten ihn nach Stuttgart in die „Herberge zur Heimat“ für wandernde Arbeitssuchende und in eine ähnliche Eirichtung in Straßburg. Er war tätig in der Chirurgischen Klinik in Tübingen, in der Arbeiterkolonie Erlach, als Diakon in Staigacker und schließlich wieder auf der Karlshöhe in Ludwigsburg.
Schauen wir im Brüderbuch von 1921, finden wir beide bei den Verstorbenen, unter der Rubrik „Entschlafene Brüder“.
Bei Christoph Wohlgemuth ist vermerkt, dass er am angegebenen Datum in einem Feldlazarett in Rostow seinen Kriegsverletzungen erlag. Darüber hinaus ist noch zu ersehen, dass vor dem Krieg, 1913, seine zweite Tochter, Elsa, geboren worden war.
Bei Jakob Waldenmayer erfahren wir, dass er bei Favreuil (Frankreich) gefallen ist.

Verweise:

LKAS Bestand Karlshöhe L1
LKZB Brüderbücher
wkgo Karlshöhe 

Serie Nachkriegszeit Teil 9: Notkirchen

10. November 2020 | | ,

Bei Kriegsende lagen zahlreiche Kirchen in Trümmern. Das betraf vor allem die größeren Städte. Allein in Stuttgart waren 28 Kirchen zerstört oder schwer beschädigt. Es war offensichtlich, dass hier ein Handlungsbedarf bestand. Die Gottesdienste in Privatwohnungen oder unter freiem Himmel stattfinden zu lassen, war mittelfristig keine Option. Es musste ein Wiederaufbau erfolgen, beziehungsweise gottesdienstliche Räume gebaut werden. Das sahen auch die Kirchen im Ausland so, die eine großzügige Unterstützungsbereitschaft signalisierten.

Anfang 1946 ging beim Ökumenischen Rat ein Angebot der Schweizerischen Militärverwaltung ein, insgesamt 35 Baracken zu verkaufen, die dann in Deutschland als Behelfskirchen genutzt werden sollten. Zum Beispiel an die Johannesgemeinde in Stuttgart wurde eine solche Baracke ausgeliefert, die mit 200 Sitzplätzen zwar nicht ausreichte, über die man aber trotzdem froh war.

Die Leitung des Evangelischen Hilfswerks war aber der Auffassung, dass nach einer anderen Lösung gesucht werden müsse. Unter anderem war der Fassungsraum dieser Baracken zu klein.

Dr. Eugen Gerstenmaier, der Leiter des Hilfswerks, trat deshalb an Prof. Otto Bartning mit der Bitte um einen Entwurf für Notkirchen heran. Der Entwurf lag 1946 vor. Bis 1949 wurden bereits 48 solcher Gebäude gespendet, 30 allein vom Lutherischen Weltbund.

Dachbinder, Pfetten, Dachtafeln, Empore, Gestühl, Fenster und Türen wurden in Serien hergestellt, angeliefert und in 1-2 Wochen aufgestellt. Das Mauerwerk, welches von der Gemeinde eingefügt wurde, konnte den reichlich vorhandenen Kriegstrümmern entnommen werden.

Die Ludwig-Hofacker-Kirchengemeinde in Stuttgart entschied sich für eine Kirche nach dem Entwurf Bartnings, genauer: für den Typ B mit angemauertem Chorraum. Der 1950 fertiggestellte Bau war nicht nur ein Provisorium. Er wird noch heute genutzt.

Aber auch andere Architekten entwarfen damals solche Notkirchen. So entschied sich die Stuttgarter Paulusgemeinde im Jahr 1947 für einen Entwurf von Prof. Rudolf Lempp. Diese Notkirche wurde unter Verwendung von Trümmern der alten Pauluskirche am Leipziger Platz gebaut und wird heute als Gotteshaus der griechisch-orthodoxen Gemeinde genutzt.

Quellen: LKAS, DA Stuttgart, Best.-Nr. 352.

Literatur: Otto Bartning, Die 48 Notkirchen in Deutschland, Heidelberg 1949.

Fotos: Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bildersammlung

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Serie zur Nachkriegszeit VIII: Abendmahl mit Bombenschrott. Vasa Sacra hergestellt im Kriegsgefangenenlager

3. November 2020 | | , ,

Feldgottesdienst im Kriegsgefangenenlager Böckingen. Kolorierte Federzeichnung von Hermann Fuhrmann, 1945 (Quelle: Stadtarchiv Heilbronn)

Ein Abendmahlskelch aus dem Schrott einer Granate? Eine Hostiendose aus dem Blech eines Ofenschirms? Einen Gottesdienst zu erleben und Abendmahl feiern zu können, bedeutete für Viele nach Ende des Krieges die Hoffnung auf Frieden und Neubeginn. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs war die Materialknappheit so groß, dass man zur Herstellung wichtiger, auch sakraler, Gebrauchsgegenstände nicht wählerisch sein durfte. Man verwendete alles, was aus den Trümmern geborgen werden konnte.
Der Kelch, die Kanne, die Patene und die Hostiendose wurden 1945 von deutschen Kriegsgefangenen im Lager Heilbronn-Böckingen für die Lagergottesdienste gefertigt.
In der Endphase des Zweiten Weltkriegs hatte die 7. US-Armee ab März 1945 große Teile Süddeutschlands erobert. Bei ihrem raschen Vorrücken fielen in kürzester Zeit Hunderttausende deutscher Kriegsgefangener in ihre Hände.
Auf freiem Feld, im Westen des heutigen Heilbronner Stadtteils Böckingen, errichtete die US Army ein anfangs sehr provisorisches Kriegsgefangenenlager. Für die rund 150.000 Gefangenen, die im Mai 1945 dort interniert waren, gab es keine Unterkünfte, zunächst nicht einmal Zelte, und kaum Essen und Wasser. Die offensichtlich problematischen Zustände führten zu spontanen Hilfsaktionen in der Bevölkerung. Der Böckinger evangelische Stadtpfarrer Theodor Zimmermann (1893-1974) nahm in diesen Wochen eine zentrale Rolle bei der Hilfe für die Gefangenen ein. Er sammelte Lebensmittel, Kleidung und Gebrauchsgegenstände. Da die Lager anfangs nicht betreten werden durften, wurden die Spenden, trotz Verbots, teils von amerikanischen Sanitätsoffizieren in das Lager gebracht, teils wurden sie über die Lagerzäune geworfen. Erst am 6. August 1945 genehmigte der amerikanische Chefarzt des Lagers offiziell den Transport von Hilfsgütern.
Sobald es möglich war, errang Pfarrer Theodor Zimmermann eine Sondergenehmigung zum Betreten das Lagers, so dass er dort regelmäßig Gottesdienste abhalten konnte. Die von Kriegsgefangenen gefertigten Vasa Sacra aus Bombenschrott bewahrte er noch lange nach dieser Zeit auf. Für ihn waren sie Zeugnisse für kirchliches Leben in Bedrängnis und Not. Aus seinem Nachlass kamen sie in die Museale Sammlung des Landeskirchlichen Archivs. Dort befinden sich noch weitere ähnliche Objekte von anderen Pfarrern aus Kriegsgefangenenlagern, etwa aus Livorno/Italien, Belgrad/Jugoslawien, Nancy/Frankreich und Mourmelon-Le-Petit/Frankreich.

Serie zur Nachkriegszeit VII: Die Evangelische Studentenhilfe im Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKiD)

27. Oktober 2020 | | ,

Die Not in der Nachkriegszeit war auch unter den Studierenden sehr groß. Viele von ihnen waren ausgebombt, hatten ihre Eltern im Krieg verloren und somit weder finanzielle noch emotionale Unterstützung für ihren akademischen Werdegang. Sie lebten in bitterere Armut ohne genügend Nahrungsmittel und Kohlen für den Ofen. Manch einer trug noch drei Jahre nach Kriegsende eine alte Uniform und durchgelaufene Schuhe. Diese Notstände konnten anhand verschiedener Maßnahmen der Evangelische Studentenhilfe ein wenig gelindert werden. Durch Spenden verschiedener amerikanischer Kirchen wurden im Herbst 1945 erstmals Lebensmittel und Bekleidung an notleidende Studierende der Universität Tübingen ausgegeben. Aber auch Lebensmittelsammlungen im ländlichen Raum waren ein wichtiger Beitrag, besonders für die seit 1946 angebotene Abendspeisung im Adolf-Schlatter-Haus. Für einen geringen Betrag – für besonders Bedürftige war die Abendspeisung kostenlos – half sie so manchem Studierenden ohne knurrenden Magen einschlafen zu müssen. Im Wintersemester 1950/51 wurden täglich 270 Karten für die Abendspeisung zu 0,40 DM verkauft, zusätzlich gab es 90 kostenlose Mahlzeiten
Tübinger Honoratioren und Selbständige aus Industrie, Handwerk und Landwirtschaft wurden um Unterstützung gebeten. Manche Tübinger Bürger*innen erklärten sich bereit, einmal in der Woche eineN StudierendeN zum Mittagessen einzuladen. Im Advent 1949 fand erstmals ein öffentlicher Weihnachtsbazar im Adolf-Schlatter-Haus statt, der von Tübinger Geschäften mit Lebensmittel und Gebrauchsgegenständen ausgestattet war. Mit dem Verkauf der Sachspenden in Form von Bleistiften, Kämmen, Likörgläschen, Seifen, Sonnenblumenöl, Bilderrahmen, Pfeifen, Kartoffelreiben und Gabeln konnte die Zahl der „Freitische“ bei der Abendspeisung erhöht werden.
Die Studentenhilfe setzte sich auch mit verschiedenen Gästehäusern und Erholungsheimen in Verbindung, um besonders Bedürftigen oder an Tuberkulose erkrankten Studierenden einen Erholungsurlaub zu ermöglichen. Anhand der finanziellen Unterstützung der deutschen Kirchen konnten umfangreiche Stipendien gewährt werden, zudem wurden Mittel für „Bekleidungsreparaturen“ zur Verfügung gestellt. Es existierte eigens für die Studenten eine Nähstube des Hilfswerks, in der freiwillige Helferinnen die schadhaften Kleidungsstücke von Studierenden ausbesserten, denn auch Kleidung war ein knappes Gut.

Quellen:
GS 7, Nr. 62-65
L 1, Nr. 1895

Pfarrer und die genealogische Forschung

23. Oktober 2020 | |

Bei der Ahnenforschung hat man mal mehr, mal weniger das Glück, auf Ahnen zu stoßen, die einer bestimmten „exklusiven“ Amts- bzw. Berufsgruppe angehörten. Dazu gehören Amtsträger, wie z.B. Klosterverwalter oder Amtspfleger, oder Pfarrer. Diese Gruppen haben gemein, dass zu ihnen bereits umfangreichere Forschungen durchgeführt und dementsprechende Sekundärliteratur und Verzeichnisse vorhanden sind, welche die Forschung erleichtern oder sogar die Recherche in den Kirchenbüchern häufig unnötig machen.

Für die württembergischen Amtsträger ist hier „Der Pfeilsticker“ zu nennen, also das Werk „Neues Württembergisches Dienerbuch“ von Walther Pfeilsticker aus den Jahren 1957 bis 1975.

Für die Pfarrer sind es die Pfarrerbücher, die bereits seit einigen Jahrzehnten von den verschiedenen Landeskirchen herausgegeben werden. Für das Herzogtum Württemberg ist „Der Sigel“, also das Werk „Das evangelische Württemberg. Ein Nachschlagewerk“ von Christian Sigel zu nennen. Auf Grundlage dieses Werks wurde das Pfarrerbuch Herzogtum Württemberg und schließlich auch das Pfarrerbuch Königreich Württemberg erstellt, in dem über https://www.wkgo.de/personen/personensuche nach Pfarrern recherchiert werden kann.

Das Pfarrerbuch enthält umfangreiche biografische Angaben zu den Pfarrern, ihrem Werdegang und ihren Familien. Schnell wird ersichtlich, dass die Pfarrer gerne unter ihresgleichen blieben, der Pfarrerssohn häufig selbst Pfarrer wurde und die Tochter eines anderen Pfarrers ehelichte (oder zumindest in höhere Kreise einheiratete) und manche Pfarrerfamilien geradezu „Pfarrerdynastien“ bildeten.

Als Beispiel für eine solche „Pfarrerdynastie“ ist die Familie Binder genannt, die ausgehend von einem katholischen Priester und ersten evangelischen Pfarrer von Grötzingen (Lkr. Esslingen) zwei evangelische Äbte, einen Special-Superintendenten und mehrere weitere Pfarrer hervorbrachten.

Der Hochzeitseintrag vom 24. November 1750 in Bietigheim ist ein Beispiel für die Eheschließung zwischen Angehörigen zweier Pfarrersfamilien, geheiratet haben:

„H[err] M[agister] Christoph Friedrich Breeg, Pfarrer zu Hausen, Brackenheimer Dioeces, H[errn] M[agister] Johann Christoph Breegen, hochfürstl[ich] württemberg[ischen] Raths, Praelaten zu Herrenalb, Special Superintendenten zu Calw, und einer löbl[ichen] Landschafft in Württemberg zum größern Außschuß Assessoris, ehl[icher] Sohn, und Jungfr[au] Elisabetha Agatha, Herrn M[agister] Christoph Peter Binder, Special-Superintendant und Stadtpfarrers allhir ehl[iche] Tochter.“

Selbstverständlich heiratete nicht jede Pfarrerstochter einen Pfarrerssohn und nicht jeder Pfarrerssohn wurde selbst Pfarrer, sondern übernahm ein anderes Amt bzw. ging einem anderen Beruf nach.
Durch einen Nachtrag in einem Taufregister von Peterzell bei Alpirsbach ist ein Fall belegt, in dem ein Pfarrerssohn sich komplett von der Familientradition löste. Im Taufeintrag von Ferdinand Heinricus, dem Sohn des dortigen Pfarrers Johannes Hähnlin, vom 12. Oktober 1673 hatte ein anderer Schreiber später die Worte „Apostata factus et venator in aula principis Hechingensis“ nachgetragen. Übersetzt bedeutet dies: „Er wurde Abtrünniger und Jäger am Hof des Fürsten von Hechingen.“ Ferdinand Heinricus Hähnlin trat also zum Katholizismus über und verdiente seinen Lebensunterhalt als Jäger am Hof des Fürsten von Hohenzollern-Hechingen.

Biografische Informationen
Binder, Christoph, 28.12.1519-30.10.1596
Binder, Christoph, 28.01.1553-17.12.1623
Binder, Christoph, 11.05.1575-11.05.1575
Binder, Christoph, 23.10.1576-23.03.1631
Binder, Christoph Peter, 24.04.1696-26.12.1766
Binder, Georg, vor 1477-1548
Binder, Georg, 03.08.1548-08.06.1620
Binder, Hans Georg, 03.06.1580-02.11.1634
Binder, Thomas, 24.03.1607-um 1650: vgl. Thomas, 1644-1693 und Christoph, 1576-1631
Binder, Thomas, 07.07.1644-03.05.1693
Breg, Christoph Friedrich, 15.05.1720-08.11.1758
Breg, Johann Christoph, 21.04.1682-06.11.1752
Hähnlin, Johannes, 11.10.1635-24.7.1682

Quellen
KB Bietigheim, Eheregister 1733-1773, ohne Seitenzählung
KB Peterzell, Mischbuch 1606-1732, Taufregister 1648-1694, S. 30 

Allgemeiner Literaturhinweis: Unsere Arbeitshilfe zur Forschung mit den württembergischen Kirchenbüchern kann zum Preis von 5,00 Euro bestellt werden.

Serie zur Nachkriegszeit VI: Das Kindererholungsheim Laufenmühle bei Welzheim

20. Oktober 2020 | |

Zu den vielfältigen Aktivitäten des Evangelischen Hilfswerks in Württemberg in der unmittelbaren Nachkriegszeit zählte die Ermöglichung von Erholungsaufenthalten für Kinder. Dies war umso notwendiger, als die Traumatisierung ein Massenphänomen der damaligen Jahre war. Sie hatten in engen Bunkern die Luftangriffe miterlebt. Die oft dramatischen Ereignisse auf der Flucht hatten zahlreiche betroffene Kinder, die nun in Württemberg eine neue Heimat finden mussten, erschüttert und verunsichert. Dazu kamen noch die andauernden tristen Lebensumstände in den zerbombten Städten, wo die Trümmer noch jahrelang sichtbar waren und an den vergangenen Krieg erinnerten. Ruinen gehörten zum Alltag und zur Lebenswelt der Kinder mancher größerer Städte. Eine dieser Erholungsstätten befand sich von 1946 bis 1948 in der Laufenmühle bei Welzheim im Schwäbischen Wald. Das erklärte Ziel des Hilfswerks war es, dort unterernährte und durch Bombennächte und Fluchterlebnisse traumatisierte Kindergruppen zur Erholung für einen jeweils mehrwöchigen, erholsamen und schönen Aufenthalt aufzunehmen. Eine ähnliche Einrichtung befand sich in Neufürstenhütte, ebenfalls im Schwäbisch-Fränkischen Wald.

Die Laufenmühle liegt idyllisch inmitten eines Waldgebietes im Tal der Wieslauf, die der Mühle auch ihren Namen gegeben hat. Der Fluss, wie auch der nördlich davon gelegene Ebnisee diente lange Zeit den Flößern, die auf diesem Weg Holz in Richtung Schorndorf transportierten. Erst um etwa 1900 entstand hier zunächst eine Mahlmühle, dann eine Sägemühle und schließlich ein Ausflugslokal- und Kurbetrieb. Die Wasserkraft wurde dann von der Firma G. Bauknecht genutzt, deren Zwangsarbeiter im zweiten Weltkrieg in den Gebäuden untergebracht waren. Unmittelbar nach dem Krieg diente die Mühle auch einer Flüchtlingsunterbringung.

Ab Juli 1946 wurde ein Teil der Räume des Hauptgebäudes als Kindererholungsheim durch das Evangelische Hilfswerk angemietet. Am 22.7.1946 kam der erste Bus mit 89 erholungsbedürftigen Mädchen an. Bis 13.12.1946 kamen fünf Kindertransporte mit insgesamt 353 Kindern an. Jedes Kind konnte sich 26 Tage im Heim erholen. Die Verpflegung kam vom Hilfswerk, beziehungsweise von den im Hintergrund aktiven Spendern aus Deutschland, den USA, Schweden und der Schweiz.

Im Jahr 1948 wurde das die Knabenheimschule Kleinglattbach, die ebenfalls vom Evangelischen Hilfswerk betrieben wurde, in die Laufenmühle verlegt. Wir werden in einem späteren Blogbeitrag dieser Serie auf diese Einrichtung näher eingehen.

Unser Archiv verwahrt die historische Überlieferung des Evangelischen Hilfswerks in Württemberg in Bestand L 1. Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Serie Nachkriegszeit Teil V: 75 Jahre Stuttgarter Schulderklärung

13. Oktober 2020 | | ,

Führende Vertreter der neu gebildeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gaben die Stuttgarter Erklärung bei einem Treffen mit Mitgliedern des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) am 18./19. Oktober 1945 in Stuttgart ab. Erstmals bekannte sich die evangelische Kirche Deutschlands darin zu einer Mitschuld am Krieg und an den nationalsozialistischen Verbrechen. Die u. a. vom württembergischen Landesbischof Theophil Wurm unterzeichnete kirchliche Erklärung bekennt: „durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“. Die Schulderklärung markiert den Neuanfang in den Beziehungen der deutschen evangelischen Kirche mit der ökumenischen Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Veröffentlicht wurde die Erklärung zuerst im Kieler Kurier. Im Württembergischen Gemeindeblatt berichtete man davon erst zögerlich zwei Wochen später. Alle Presseorgane unterstanden der Nachrichtenkontrolle der jeweiligen Militärregierung der Alliierten.

Michael Bing vom Landeskirchlichen Archiv stellt anhand von einigen Dokumenten in dem folgenden Clip die Stuttgarter Schulderklärung vor.

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Weitere Informationen

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Serie Nachkriegszeit Teil IV: Zeichnungen aus dem Kriegsgefangenenlager von Robert Eberwein

6. Oktober 2020 | | , , ,

Der Stuttgarter Künstler Robert Eberwein (1909-1972) hat während seiner Kriegsgefangenschaft etliche Zeichnungen vom Lageralltag geschaffen und viele seiner Mitgefangenen porträtiert.
Am 19. April 1945 kam Eberwein in das Durchgangslager Rheinberg, das erste von den Alliierten errichtete Rheinwiesenlager, das von April bis September 1945 bestand. Unter Heranziehung deutscher Kriegsgefangener wurde es von den Amerikanern auf einem westlich von Rheinberg gelegenen 350 ha großes Acker- und Wiesengelände aufgebaut. Umgeben von hohen Stacheldrahtzäunen befanden sich dort acht Einzelcamps ohne jegliche Behausung, sanitäre Anlagen oder Versorgungsstruktur für rund 130.000 Gefangene. Kälte, Hunger, mangelnde Hygiene und fehlende medizinische Versorgung, grassierende Krankheiten und Tod gehörten zum Alltag. Als Eberwein dort ankam, war ihm sofort klar, dass er dieser verzweifelten Lage etwas entgegensetzen musste: er zeichnete. Im Krieg hatte er bereits als Zeichner bei einer Heereseinheit gedient. Nun dokumentierte er die drangvollen Lebensumstände im Lager, das Kampieren unter freiem Himmel, das Anstehen um Essen. Er skizzierte zerfurchte Gesichter, Gefangene beim Wasser holen, beim Waschen oder Schachspielen. Für eine gute Zeichnung bekam er manchmal ein Stückchen Brot.
Vom Durchgangslager Rheinberg kam Eberwein im Juni 1945 in das Kriegsgefangenenlager Auvours bei Le Mans in Frankreich. Dort bekam er immerhin ein Dach über dem Kopf, schlief mit 35 Mann in einem Zelt. Im Lager Auvour machte er mit seinen Skizzen weiter. Da er sich der christlichen Lagergemeinschaft angeschlossen hatte und sein künstlerisches Talent nicht unbemerkt geblieben war, wurde er im Oktober beauftragt, für die Krankenbaracken des Lagers einen Raum als Kapelle auszugestalten. Ein Lichtblick! Er schmückte die Wände mit dem Vaterunser, dem Glaubensbekenntnis und biblischen Motiven. Bis Weihnachten war das Ganze fertig. Doch schon im Januar wurde er mit weiteren 1 000 Mann in ein anderes Lager verlegt. Dort half er noch beim Aufbau und der Einrichtung eines Kirchenzeltes, bis er schließlich im Mai 1946 nach Hause entlassen wurde.

Künstlerischer Werdegang

Eberwein hatte, als Sohn eines Handwerkers, zunächst eine Schreinerlehre absolviert. In den Jahren 1929 bis 1933 besuchte er Zeichenkurse an der Stuttgarter Volkshochschule. Seine Lehrer waren Max Ackermann und Albert Volk. In den 30er Jahren lernt der junge Robert Eberwein durch Max Ackermann das Werk Adolf Hölzels kennen, das ihn nachhaltig beeinflusste. Hölzel rang bereits seit 1906 mit Farbe und Form, um gegenstandslose, freie Kompositionen zu schaffen. Dieses Ringen um eine neue Sprache der Kunst durchzieht auch das Werk von Robert Eberwein.
Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1946 arbeitete er zwei Jahre als Zeichenlehrer in Korntal, bis er sich als Maler, Grafiker und Illustrator in Ditzingen niederließ.
In den 1950er und 60er Jahre prägte Eberwein zu einem wesentlichen Teil das Gesicht der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er war unter anderem Illustrator für den Quell Verlag und das Evangelische Gemeindeblatt, gestaltete Jahreslosungen und entwarf Bildteppiche für die Paramentenwerkstatt.
Die Kraft des Wortes war für das Schaffen Eberweins von wesentlicher Bedeutung. Grafisch gestaltete Bibelworte setzte er nicht nur für die Jahreslosungen um. Auch in seinem künstlerischen Werk wurden für ihn Bild, Schrift und Wort zunehmend zu einer Einheit. In Linolschnitten, Aquarellen, Bleistift-, Kohle- und Kreidezeichnungen setzte er sich – figürlich oder abstrakt – mit biblischen Inhalten und Symbolen auseinander.
Ein großer Teil seines künstlerischen Nachlasses, vor allem die Auftragsarbeiten mit religiösen Inhalten, befindet sich in der Musealen Sammlung im Landeskirchlichen Archiv. Dabei sind auch zwei Mappen mit den Zeichnungen aus der Kriegsgefangenschaft (Inv. Nrn. 93.1676 – 93.1920). Diesen liegt ein handschriftlicher Bericht Eberweins über die Zeit seiner Kriegsgefangenschaft bei (Inv. Nr. 93.1678; 01-02).
Weitere Werke aus dem Schaffen des freien Künstlers befinden sich im Museum der Stadt Ditzingen.

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Welt-Tierschutztag am 4. Oktober

4. Oktober 2020 | | , ,

„Undankbarer Pferdequäler!“ möchte der Tübinger Pfarrer Christian Adam Dann einem Reiter zurufen, der hemmungslos auf sein Pferd eindrischt. Bei einem Gang durch die Stadt und in die umliegenden Dörfer entdeckt er zahllose Grausamkeiten gegen Tiere: Gänse mit jämmerlich blutender Brust, denen bei lebendigem Leibe die Daunen ausgerupft wurden, eine Ziege, die barbarisch an den Ohren gezerrt zum Weitergehen bewogen werden soll, halb verdurstete Kälber, die mithilfe von Hunden in den Stall gehetzt werden….
Unwillkürlich kommen uns Bilder der jüngsten Skandale in deutschen Schlachtbetrieben in den Sinn. Doch die Beobachtungen von Christian Adam Dann (1758-1837) stammen aus dem Jahr 1822. Aufgezeichnet hat sie der Pfarrer in seiner Schrift „Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn die Menschen“. Auf der Kanzel wetterte Dann gegen die Tierquäler, die er als die „elendste Klasse der Menschheit“ bezeichnete. Seine Predigten und Schriften entfalteten unter den Zuhörern und Lesern eine starke Wirkung. Noch Albert Schweitzer ließ sich später von seinen Gedanken inspirieren.

Über die Lebensverhältnisse von Tieren hat man sich lange Zeit kaum Gedanken gemacht. Tiere wurden als seelenlos und deshalb leidensunfähig angesehen. Erst ein neues Empfinden für die Natur, wie es im 18. Jahrhundert durch Aufklärung und später durch die Romantik aufkam, veränderte den Blick auf die Tiere. In Deutschland waren es vor allem vom Pietismus geprägte Pfarrer, die bei der Frage nach dem rechten Umgang des Christen mit der Schöpfung nun auch das Verhältnis zu den Tieren ins Auge fassten. So auch Christian Adam Dann, der heute als einer der herausragenden Pioniere des Tierschutzes gilt.
Nur wenige Monate nach Danns Tod gründete sein Schüler und Freund, der Pfarrer und Liederdichter Albert Knapp (1798–1864), im Winter 1837 in Stuttgart den ersten Tierschutzverein Deutschlands. Gleichzeitig rief er zur Gründung weiterer örtlicher Tierschutzvereine auf, auch über die württembergischen Grenzen hinaus. Wichtigstes Anliegen der frühen Tierschützer war der respektvolle Umgang mit Nutztieren, besonders mit Droschkenpferden und Schlachtvieh. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, sollte in Schule und Kirche die Tierliebe durch regelmäßige „Belehrungen“ gefördert werden, vor allem aber wollte man erreichen, dass Tierquälerei als Delikt in das Strafgesetzbuch aufgenommen wird. In der Tat verabschiedete der Württembergische Landtag 1839 im Polizei-Strafgesetz einen Artikel, der die rohe Misshandlung von Tieren mit einer Geldbuße oder Arreststrafe belegte.

Nachdem die beiden Pfarrer Dann und Knapp die ersten Schritte für einen organisierten Tierschutz gegangen waren, setzten sich ihre Gedanken rasch in ganz Deutschland durch. Der von Knapp initiierte Verein hatte zwar nur kurze Zeit Bestand, doch am 17. Juni 1862 kam es endgültig zur Gründung des Württembergischen Tierschutz-Vereins. 1881 vereinigten sich die lokalen deutschen Tierschutzvereine zum Deutschen Tierschutzbund. Er umfasst heute mehr als 740 örtliche Vereine mit mehr als 800.000 Mitgliedern.

Der Briefwechsel zwischen Christian Adam Dann und Albert Knapp aus den Jahren 1829 – 1836
befindet sich im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart (Knapp-Archiv D 2).

Literaturhinweise (Landeskirchliche Zentralbibliothek = LKZB):
Christian Adam Dann, Albert Knapp: Wider die Tierquälerei: Frühe Aufrufe zum Tierschutz aus dem württembergischen Pietismus (=Kleine Texte des Pietismus. Bd. 7), hrsg. von Martin H. Jung, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2002.
Darin enthalten die anonym erschienene Schrift von Christian Adam Dann: Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn, die Menschen. Fues, Tübingen 1822.
LKZB A7/8626

Beitragsbild: Ein Mann peitscht sein erschöpft zusammengebrochenes Lasttier aus. Auf dem in frommen Kreisen bekannten Zwei-Wege-Bild, das die Stuttgarterin Charlotte Reihlen 1867 entworfen hat, wird die Tierquälerei als Sünde dargestellt, die auf dem breiten Weg zur Verdammnis führt. Zum Zwei-Wege-Bild hier.

AUCH INTERESSANT:
Adam Gottlieb Weigen: De Jure Hominis in Creaturas.
Oder Schrifftmässige Erörterung Deß Rechts des Menschen Uber die Creaturen / Nach allen dessen Ständen (…). Stuttgart 1711 (Reprint 2008)
LKZB A 17/10935
Das Buch des Leonberger Pfarrers Adam Gottlieb Weigen (1677-1727) ist eines der frühesten Beispiele für die Auseinandersetzung mit dem Tierschutzgedanken in Deutschland. Es fand aber wenig Beachtung und geriet rasch in Vergessenheit. Weigen, ein Vertreter des frühen Pietismus, betonte die Gottunmittelbarkeit auch der Tiere und meinte, dass im Endgericht Tierquäler ihren Opfern wieder begegnen würden.

Teil III der Serie zur Nachkriegszeit: Vermisst? Der Suchdienst nach dem Zweiten Weltkrieg

29. September 2020 | | , ,

Mütter verloren ihre Kinder, Kinder ihre Mütter, Geschwister, Tanten, Großeltern. Auf dem Treck nach Westen wurden viele Familien auseinandergerissen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren Millionen von Menschen in Deutschland zwangsweise auf den Landstraßen und in Städten unterwegs. Es waren vor allem Menschen aus ehemaligen deutschen Ostgebieten, die Haus und Hof verlassen hatten, um sich vor der herannahenden Roten Armee im Westen in Sicherheit zu bringen. Aber auch Soldaten, die sich nach der Kapitulation der Front auf dem Rückweg zu ihren Familien befanden und in den zerbombten Städten weder ihr Haus noch ihre Angehörigen wiederfanden. Sie alle wanderten auf der Suche nach ihren Angehörigen mehr oder weniger ziellos durch das zertrümmerte Deutschland.

Um in dieser verzweifelten Lage Hilfe zu leisten, wurde ein Suchdienst aufgebaut. Eine Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus dem Rotem Kreuz, dem Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Caritas, war bis Juni 1948 gemeinsam tätig, danach lag der Suchdienst ausschließlich in den Händen des Roten Kreuzes. Der Suchdienst hatte drei Schwerpunkte:

 

1) Die Suche nach Kriegsgefangenen, Wehrmachtsvermissten und Verschleppten

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, L1, Nr. 3627.

Heimkehrende aus der Kriegsgefangenschaft wurden nach Namen und Adressen ihrer Kameraden in den Gefangenenlagern befragt. Auf Karteikarten wurden dann Feldpostnummern sowie Nummern der Gefangenlager gesammelt, um Anhaltspunkte über den letzten Aufenthalt des Vermissten geben zu können. Mit der Einrichtung einer „Sammelstelle für Heimkehrer Nachrichten“ konnte eine Auswertung der erhaltenen Nachrichten erfolgen. Bei der Suche nach Kriegsgefangenen und Wehrmachtsvermissten spielten Pfarrämter eine große Rolle. Sie waren für die Einholung und Überbringung von Heimkehrer-Nachrichten von Bedeutung, da sie als Anlaufstelle für Suchanträge fungierten.

 

2) Flüchtlingssuchdienst

Dem Flüchtlingssuchdienst standen Adressen zur Verfügung, die bei der Erfassung der Neubürger durch die Flüchtlingskommissare aufgenommen wurden. In der englisch und amerikanisch besetzten Zone – Deutschland war von den Alliierten in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden, einer englischen, amerikanischen, französischen und sowjetischen Zone –  gab es eine Zonenzentrale, die mit dem Suchdienst zusammenarbeitete.

Die Hilfskomitees ehemaliger deutschen Volksgruppen in Nordost- und Südosteuropa, wie z.B. der Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, der Slowakeideutschen, der Bessarabiendeutschen, Dobruschdadeutschen, und Baltendeutschen erstellten jeweils eine eigene „Heimatkartei“, die sich für viele als hilfreich erweisen sollte.

 

3) Kindersuchdienst

In Württemberg-Baden umfasste die Kartei des Suchdienstes 2 400 Kinder, die von ihren Angehörigen gesucht wurden und elternlose Kinder, die ihre Familien suchten. Der Großteil der Kinder stammte aus Ost- und Westpreußen und Schlesien. Über Rundfunk, Suchzeitungen und Bildplakaten versuchte der Suchdienst die Kinder ihren Familien zu zuführen. In Württemberg konnten von Mai 1947 bis Februar 1948 jedoch nur 30 Kinder wieder mit ihren Angehörigen vereint werden.

In unserem Archiv befinden sich verschiedene Archivalien über den Suchdienst. Aus dem Bestand des Diakonischen Werks L 1, das seine Wurzel im Evangelischen Hilfswerk hat, stammen das Plakat „Nachrichten über Vermisste“ von 1948, der Fragebogen der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Kirche der Umsiedler und das Formular der Zonenzentrale München. Das ehemalige Internierten-Lagerpfarramt Ludwigsburg mit der Signatur GS 6, dessen Dokumente von 1945 bis 1949 in unserem Archiv verwahrt werden, enthält die abgebildeten Formulare des Roten Kreuzes.

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Die Akademie Bad Boll feiert ihr 75-jähriges Jubiläum

25. September 2020 | |

Die Evangelische Akademie Bad Boll ist die älteste und größte europäische Akademie in kirchlicher Trägerschaft. Hinter ihr liegt eine lebendige Geschichte: 1945 Gründung durch Pfarrer Eberhard Müller, intensive Förderung einer demokratischen Gesprächskultur, Behandlung unterschiedlichster Themen, Vorreiterrolle in vielen Bereichen bspw. Nachhaltigkeit, prominente Gäste wie Theodor Heuss, Rudi Dutschke, Richard von Weizsäcker, Erhard Eppler, Theo Zwanziger, Alice Schwarzer, Winfried Kretschmann, Harald Welzer, Dorothee Sölle, Host Eberhard Richter und viele mehr.

Am Sonntag, 27. September, ab 15.00 findet der Festakt statt, der über Livestream übertragen wird. Näheres über den Festakt erfahren Sie über die Homepage der Akademie.

Teil II der Serie zur Nachkriegszeit: CARE-Pakete gegen verzweifelte Not

22. September 2020 | |

Das „CARE-Paket“ ist zum Symbol geworden für die Hilfe, die den Deutschen nach 1945 aus dem Ausland zuteilwurde. CARE bedeutet „Cooperative for American Remittances to Europe“.

In den ersten Jahren nach dem Krieg war die Ernährungslage in Deutschland dramatisch. Hunger und Auszehrung grassierten überall. Als Strafmaßnahme war von den Alliierten das Verbot verhängt worden, Hilfslieferungen in das besetzte Deutschland zu senden. Doch schon bald betrachteten die Westmächte die leibliche Versorgung der Bevölkerung als Voraussetzung für einen geordneten demokratischen Neuanfang. Deshalb wurde das Verbot im Dezember 1945 aufgehoben.

Vor allem aus den USA kamen Pakete mit hochwertigen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Fett, Zucker, Mehl, Reis, Ei- und Milchpulver. Das Evangelische Hilfswerk übernahm in Deutschland die Vermittlung eines großen Teils der Hilfsgüter. Als kirchliche Einrichtung verfügte es über einen Vertrauensvorschuss bei den Besatzungsmächten und verstand es zudem, seine ökumenischen Verbindungen in aller Welt zu nutzen. In Württemberg konnte das Evangelische Hilfswerk über ihre Verteilerstellen bis 1955 rund 4,5 Tonnen Hilfsgüter plus nahezu 65.000 Spendenpakete aus dem Ausland verteilen.

CRALOG – Spenden der Partnerkirchen in Übersee

Ein erheblicher Teil der Spenden, die das Hilfswerk aus dem Ausland erhielt, war den amerikanischen Partnerkirchen und den Mutterkirchen der deutschen Freikirchen zu verdanken. Die beiden hier gezeigten Pakete stammen von der CRALOG, der Dachorganisation der Hilfswerke der amerikanischen Kirchen. CRALOG heißt „Council of Relief Agencies Licensed to Operate in Germany“ (Rat der zur Arbeit in Deutschland zugelassenen Hilfsorganisationen). Eines der Pakete war vom „Lutheran World Relief Inc.“ an das Evangelische Hilfswerk, das andere Paket vom „Catholic Relief Services N.C.W.C.“ an den Caritasverband per Schiff nach Bremen gesandt worden. Im Gegensatz zu CARE ließ CRALOG seine Hilfssendungen ausschließlich durch die deutschen Wohlfahrtsverbände verteilen. Aufgrund dieser nur indirekten Beziehung zur deutschen Bevölkerung erlangte CRALOG im Bewusstsein der Menschen nicht die symbolische Bedeutung wie die CARE-Pakete, obwohl über CRALOG deutlich mehr Hilfsgüter verteilt wurden als durch CARE.

Die beiden leeren Hilfsgüter-Kartons überdauerten in württembergischen Pfarrhäusern, die als Verteilungsstellen des Evangelischen Hilfswerks fungiert hatten. In den Jahren 1994 und 2000 kamen sie mit Aktenlieferungen in die Museale Sammlung des Landeskirchlichen Archivs.

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Ein „monströses“ Kind

17. September 2020 | | ,

Die Menschen der Frühen Neuzeit waren fasziniert vom Fremden und Unbekannten, weshalb vor allem an fürstlichen Höfen so genannte Kuriositätenkabinette entstanden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass der Pfarrer von Unterheinriet die Fehlbildungen des am 9. Mai 1753 geborenen und auch getauften und namenlos gebliebenen wohl weiblichen Kindes des Schneiders Johann Eberhard Binder und seiner Ehefrau Margaretha detailliert – und in teils derben Worten – beschrieben hatte:

„Dieses war ein monstreuses Kind, in dem Gesicht sahe es ganz geschuppt aus wie ein Spiegel-Karpff, die Augendeckel waren ganz feüerroth, hatte eine kleine eingebuckte Nase mit 2 großen Löchern, die Ohren waren ganz hinten angewachsen, und an dem übrigen Leib, Händen, Armen, Schenckel und Füßen hatte es von außen her die Gestallt wie eine fetter abgezogener Hammel mit weißen und rothen Strichen durchströmgig, wurt von mir dem Pfarrer in seiner großen Schwachheit zu Hauß getauft und starb, nach vorherig geschehener Berichtung an das Löbliche Oberamt anderen Tags.“

 

Anmerkung

Spiegel-Karpff = Spiegelkarpfen, Zuchtform des Karpfens

 

Quelle

KB Unterheinriet, Mischbuch 1736-1808, Taufregister 1741-1775, S. 53

Teil I der Serie zur Nachkriegszeit: Nachkriegsnot in Bildern – ein Plakat von 1948

15. September 2020 | | , , ,

Der Papierrestaurator Matthias Raum brachte uns vor Kurzem das handgemalte Plakat des württembergischen Evangelischen Hilfswerks aus dem Jahr 1948 restauriert zurück.
Jahrzehntelange Lagerung hatten dem Objekt zugesetzt. Geknickt, eingerissen und verschmutzt kam es ins Landeskirchliche Archiv Stuttgart zusammen mit den Aktenbeständen des Diakonischen Werks Württemberg. Jetzt wurden die Schäden behutsam repariert und das brüchige Papier entsäuert. Das 197×136 cm große Plakat wird nun unter den klimatisch erforderlichen Bedingungen in unserem Magazin sachgerecht in einem Planschrank aufbewahrt. Das Plakat und seine Darstellungen einzelner Hilfseinrichtungen werden uns bis zum Jahresende bei unserer Serie „Nachkriegszeit“ als roter Faden begleiten.

Das Evangelische Hilfswerk

Das Evangelische Hilfswerk wurde auf der Kirchenvertreterkonferenz in Treysa am 23.8.1945 gegründet, um in der unmittelbaren Nachkriegszeit akute Nothilfe zu leisten. Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 endete in Deutschland der Zweite Weltkrieg. Das Land, das zuvor Völkermord und Zerstörung über Europa gebracht hat, lag in Trümmern. Traumatisierte und versehrte Menschen, Kriegswaisen, Heimatlose, Geflüchtete und Vertriebene benötigten Lebensmittel und Kleidung sowie eine erste Unterkunft. Auf EKD-Ebene wurde Eugen Gerstenmaier (1906-1986) mit dem Aufbau des Werks betraut, das Zentralbüro lag in Stuttgart. Die einzelnen Landeskirchen richteten eigene Hauptbüros ein, um über die regionalen kirchlichen Strukturen effektiv Hilfe leisten zu können. So auch in Württemberg. Unter der Leitung von Wilhelm Pressel (1895-1986) wurden landesweit Bezirksverantwortliche berufen und Bezirksbüros aufgebaut. Überall entstanden örtliche Kleiderkammern, Suppenküchen, Lebensmittelausgaben und Beratungsstellen – die Vorläufer der heutigen Diakonischen Bezirksstellen. Daneben errichtete das Hilfswerk Notaufnahmelager für Flüchtlinge und gründete verschiedene Heimeinrichtungen und Aufbaugilden.

Das Evangelische Hilfswerk wirkt heute als Diakonisches Werk weiter.

 

Wer hat das Plakat gestaltet?

Das Plakat zeigt eine Landkarte von Württemberg, auf der anschaulich sämtliche Einrichtungen und Initiativen des Hilfswerks dargestellt sind, die seit 1945 aufgebaut wurden und am 1.7.1948 noch bestanden. Das mit Tusche gezeichnete und kolorierte Plakat ist signiert mit „Curt Zeh 1947“. Wer ist dieser Curt Zeh? In den Akten des Evangelischen Hilfswerks liegen leider keine eindeutigen Nachweise für den Auftrag an den Künstler vor. Recherchen im Internet führten zu dem Oldenburger Plakatmaler Curt Zeh (1919-2013). Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg stand in enger Verbindung mit der württembergischen Landeskirche, so dass es durchaus vorstellbar war, dass das Evangelische Hilfswerk Württemberg auf der Suche nach einem Gestalter seinerzeit Kontakt dorthin aufgenommen hat. Ein Blick in seine Biografie ließ diese Annahme weiter plausibel erscheinen:

Curt Zeh hatte den Krieg selbst hautnah miterlebt. Mehrfach wurde er schwer verletzt, bei seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft fand er sein elterliches Haus in Leipzig zerbombt vor. In Oldenburg konnte er sich einige Zeit als Schriftenmaler über Wasser halten, indem er in einem Hangar auf dem ehemaligen Fliegerhorst für das britische Militär Grabkreuze der gefallenen britischen Soldaten beschriftete. Ab 1948 arbeitete er schließlich als Werbegestalter und machte sich in den 1950er Jahren einen Namen durch das Malen von großformatigen Kino- und Reklametafeln.

Der Kontakt zur Familie dieses Oldenburger Curt Zeh ließ jedoch Zweifel aufkommen, ob er der Gestalter des Plakats sein kann. Die Signatur in Deutscher Schrift sei, laut seiner Tochter, sehr untypisch – er signierte stets mit „ZEH“ in lateinischen Großbuchstaben. Seine Ehefrau erinnerte sich auch nicht, dass er je davon gesprochen habe, in der Zeit vor ihrer Heirat (1955) einen Auftrag vom Evangelischen Hilfswerk ausgeführt zu haben. Außerdem sei sein Malstil vollkommen anders gewesen. Die Suche nach dem Gestalter war daher nicht abgeschlossen und wir fragten uns, gibt es einen weiteren Künstler mit dem Namen Curt Zeh? Womöglich in Württemberg? Auf dem Sammlermarkt tauchten unlängst zwei Aquarelle mit Darstellungen von Bietigheim und Bad Cannstatt auf, die den gleichen Namensschriftzug tragen, wie das Hilfswerkplakat. Spannend wurde es, als wir Hinweise fanden, dass ein Curt Zeh aus Stuttgart 1952 am Rathaus Münsingen die malerische Gestaltung der Sonnenuhr ausgeführt hatte.  Der Kontakt mit dem dortigen Stadtarchiv führte uns tatsächlich zu einem zweiten Curth Zeh: Neben den Aufträgen für die Stadt Münsingen werden in einer Quelle vom 8. 11. 1950 der Auftrag für eine Bildkarte für das Evangelische Hilfswerk erwähnt. Auch wenn immer noch kein eindeutiger Beweis vorliegt, kann diese Information als Indiz gewertet werden, dass der Stuttgarter Curt Zeh auch schon 1947 mit dem Evangelische Hilfswerk in Kontakt war und damals den Auftrag für das großformatige Plakat erhalten hat.

 

Die Motive auf dem Plakat
Die Illustrationen auf dem Plakat spiegeln die Nöte und Hilfsleistungen der ersten drei Nachkriegsjahre in Württemberg wider. Die Landkarte Württembergs wird rechts und links unten eingerahmt von zerstörten Städten. Ihre Wahrzeichen liegen in Trümmern. In ihren Ruinen sind sie sich merkwürdig ähnlich, so dass der Illustrator die Stadtwappen als erkennbare Insignien und Reste des einstigen Stolzes dazu gesellte: Heilbronn, Ulm, Freudenstadt, Reutlingen, Heimsheim, Friedrichshafen, Löwenstein, Weinsberg, Crailsheim…
Am oberen und unteren Bildrand sind lange Reihen von Hilfesuchenden dargestellt: Alte, Junge, Versehrte, Kranke, Erschöpfte. Die Menschen oben entsteigen Zugwaggons – offensichtlich auf der Flucht, bepackt mit Bündeln, Koffern und Kisten. Unten kommen sie zu Fuß, schleppen ihr Hab und Gut auf Handkarren oder auf von Ochsengespannen gezogenen Wägen. In diesen Szenen sind all diejenigen dargestellt, an die sich die Arbeit des Hilfswerks richtet. Dazu wird deutlich: Der Arbeitsschwerpunkt lag bei den Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, die sich nach der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 auf den Weg in den Westen gemacht hatten. Die Probleme der Versorgung und Unterbringung, der Betreuung und Eingliederung – die Leib- und Seelsorge, waren für das Evangelische Hilfswerk in Württemberg eine immense Herausforderung.

Das zentrale bildbestimmende Motiv des Plakats ist die Karte von Württemberg. Unter anderem werden regionale Besonderheiten hervorgehoben: Wald- Wiesen- Jagd- oder Weinbaugebiete. Die Hauptinformation gilt jedoch den Orten, die Sitz einer Hilfseinrichtung sind. Eine Legende am rechten oberen Bildrand klärt auf, wo es sich um eine „Bezirksstelle“, eine „Einrichtung“ oder eine „Betreuungsstelle“ handelt. Kinderspeisungen gab es an so vielen Orten, dass sich der Illustrator mit dem Piktogramm eines essenden Kindes begnügt, das sich entsprechend wiederholt. Anders, bei Versehrteneinrichtungen wie in Isny und Oberstenfeld, wo einbeinige ehemalige Soldaten etwas individueller auf Krücken abgebildet sind. Das Altersheim in Lorch wird anschaulich durch zwei alte, gebückte Menschen auf einem Bänkchen darstellt. Jugenderholungs- und Freizeiteinrichtungen zeigen fröhliche junge Menschen, lesend, singend, musizierend.
Die Motive des Plakats sind vielgestaltig. In seiner Gesamtkomposition will es nicht nur informieren, sondern auch aufrütteln, sensibel machen für Problemfelder, vor allem aber Hoffnung vermitteln, dass die geleistete und zu leistende Hilfe wiederaufzurichten vermag, was zerstört wurde.
Mit dem Plakat zielte das Evangelische Hilfswerk Württemberg darauf ab, seine Leistungen vorzustellen, um letztendlich Gelder zu akquirieren. In den ersten Jahren nach dem Krieg war der Bedarf an Mitteln für Notleidende enorm und die Werbung um Spenden machte einen Großteil der Arbeit des Hilfswerks aus.

Wer sich das Plakat und seine Motive genauer ansehen möchte, findet die ausführliche Darstellung auf wkgo.de.

Beitrag über das Hilfswerkplakat in Württembergische Kirchengeschichte Online
Beitrag über das Diakonische Werk Württemberg in Württembergische Kirchengeschichte Online
Bestände Diakonie im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart

Einzelne Bildbeispiele der Motive:

Spuren von Georg Wilhelm Hegel im Landeskirchlichen Archiv

25. August 2020 | | ,

Am 27. August 1770 und somit vor 250 Jahren wurde der Philosoph Georg Wilhelm Hegel (1770-1831) in Stuttgart im damaligen, heute noch vorhandenen Haus der Familie geboren. Er gilt als Hauptvertreter des sogenannten Deutschen Idealismus und sein Werk hatte eine erhebliche Wirkung auf andere Denker. Im Landeskirchlichen Archiv hat er einige Spuren hinterlassen. So wurde er etwa gleich einen Tag nach seiner Geburt in der Stiftskirche evangelisch getauft, was in einem Taufregister vermerkt wurde. Und er wurde an der Universität Tübingen zu einem württembergischen Pfarrer ausgebildet. Die philosophischen Studien waren eigentlich nur als Grundlagenteil seines Studiums gedacht, auch wenn sie für seinen besonderen Lebensweg zur Hauptsache wurden. Zum Abschluss seines Theologiestudiums hatte er jedenfalls eine Prüfung vor den Stuttgarter Konsistorialräten abzulegen. Auch der Bericht über dieses Examen ist noch vorhanden.

Der Eintrag für Hegels Taufe befindet sich im Taufregister der Stuttgarter Stiftskirche, das heute im Kirchenbucharchiv im Landeskirchlichen Archiv verwahrt wird. Die Taufe, die am 28. August stattfand, also einen Tag nach der Geburt, führte vermutlich der damalige Pfarrer Johann Christian Storr (1712-1773) durch. Von eindeutig späterer Hand wurde der Eintrag mit „der Philosoph!“ markiert. In der ersten Spalte sind die Namen des Täuflings, rechts daneben der Vater Georg Ludwig Hegel (1733-1799), Rent-Cammer-Secretarius, also Finanzbeamter, dann die Mutter Maria Magdalana Louise, geborene Fromm (1741-1783) genannt. Die Taufpaten waren: Magister Johann Friedrich Breyer (1738-1826), Professor der Philosophie in Erlangen, – ein Cousin des Vaters -, mit seiner Braut Johanna Wilhelmina Frost, der Tochter eines Regimentsrats, Ludwig Heinrich Riecke (1729-1787), erster Stadt- und Amtsphysicus, Johann Georg Enßlin (1703-1779), Kommerzienrat in Tübingen, – ein Großonkel -, Magister Christian Friedrich Göritz, Gymnasiallehrer, Justina Magdalena Glöckler, Witwe von Johann Christoph Glöckler, des gewesenen Prälaten von Anhausen, Eberhardina Friedrica Breyer, geborene Hegel, Rentkammer-Expeditionsratswitwe, eine Großtante Hegels und Mutter des erstgenannten Paten, Christina Katharina Günzler, Witwe des Oberamtmanns Amandus Günzler.
In welchem Verhältnis die einzelnen Paten zu den Eltern Hegels standen, wird teilweise durch die Familienverbindungen deutlich. Teilweise waren es vermutlich persönliche Freundschaften, die die Personen verbanden. Zwei der Paten hatten ein Theologiestudium in Tübingen durchlaufen, welches sie dann aber in andere Berufe führte. Dies leitet zum nächsten Fundstück über.

Ab 1788 studierte Hegel in Tübingen Theologie und erreichte 1790 zum Abschluss des Grundstudiums den akademischen Grad eines Magisters der Philosophie. Danach fing das eigentliche Theologiestudium an, wo Hegel vor allem die dogmatischen und exegetischen Vorlesungen von Gottlob Christian Storr (1746-1805) hörte, des Sohnes des Pfarrers, der ihn getauft hatte (siehe oben). Als herzoglicher Stipendiat lebte Hegel während seines Studiums im Evangelischen Stift. Zeitweise waren dort der spätere Dichter Hölderlin und der spätere Philosoph Schelling seine Stubengenossen. Schon vor seiner theologischen Abschlussprüfung, die am 20. September 1793 im Stuttgarter Konsistorium stattfand, war bereits klar, dass Hegel als “Hofmeister” nach Bern gehen, also als Hauslehrer die Kinder einer wohlhabenden Familie unterrichten würde. Das Predigtamt lag ihm nicht. Seinem Antrag, früher zum Examen zugelassen zu werden, wurde stattgegeben. Deshalb wurde er bereits im September geprüft, während der Prüfungstermin seines Jahrgangs ansonsten drei Monate später lag (vgl. Beitrag über Hölderlin).

In einem der Testimonienbücher, welche die Zeugnisse der Konsistorialexamen und der Promotionen enthalten, ist  Hegels Examen überliefert. Er gehörte zu den Besten seines Jahrgangs (“Classe I”) und schloss sein Studium insgesamt als Viertbester (“4.”) ab, was beides oben im Zeugnis vermerkt wurde. Die Prüfung im Konsistorium bestand in einer Predigt auf der Kanzel in der Stiftskirche, die ja auch seine Taufkirche gewesen war (siehe oben), von 15 Minuten, und in einer mündlichen Prüfung, die in lateinischer Sprache geführt wurde und die in den Räumen des Konsistoriums im Kanzleigebäude stattfand. Wie aus dem entsprechenden Bericht im Konsistorialprotokoll (LKAS, A 3, Nr. 62, 1793, S. 391)  hervorgeht, waren neben ihm noch fünf andere Kandidaten zu diesem Termin eingeladen, nämlich die Pfarrer Ludwig Friedrich Le Prêtre (1748-1813) und Johann Christian Hintrager (1751-1826) sowie die Stipendiaten Christoph Ludwig Dobelmann (1756-1820), Johann Friedrich Schmoller (1760-1811) und Johann Gottlieb Helfferich (1760-1820). Wie man leicht erkennt, war Hegel bei weitem der Jüngste dieser zu Prüfenden. Zwei waren bereits als Pfarrer tätig. Vielleicht wurden bei diesem besonderen Termin außer der zeitlich vorgezogenen Prüfung für Hegel ansonsten Wiederholungsprüfungen durchgeführt. Die Prüfung fand als erster Punkt des freitäglichen Sitzungstages des Konsistoriums gleich morgens ab acht Uhr vor Konsistorialdirektor Karl Adolf Maximilian Ruoff, der von 1767-1788 weltlicher Konsistorialrat gewesen und dann zum Direktor aufgestiegen war, und den Konsistorialräten Georg Friedrich Griesinger (1734-1828),  Ernst Urban Keller (1730-1812) und Johann Ernst Friedrich Bernhard (1722-1798) statt.  Die jeweiligen Kandidaten erhielten eine Textstelle, über die sie predigen sollten, und hatten einige Zeit, um sich vorzubereiten. Hegel hatte seine Probepredigt, mit der die Prüfer nur einigermaßen zufrieden waren, über 1. Korinther 2,14 zu halten: „Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, denn es muss geistlich beurteilt werden.“

Hegels Abschlusszeugnis des Tübinger Stifts wurde im Testimonienbuch festgehalten und lautet mit deutscher Übersetzung:

Valetudo non constans (unbeständige Gesundheit), statura media (mittelgroßer Wuchs), eloquium haud gratum (keine bemerkenswerten rhetorischen Fähigkeiten), gestus pauci (zurückhaltende Gestikulationen), ingenium bonum (hervorragende geistige Anlagen), judicium excultum (gesundes Urteil), memoria tenax (sicheres Gedächtnis), scriptio lectu non difficilis (gut lesbarer Stil), mores recti (korrektes Verhalten), industria nonnumquam interrupta (gelegentlich nachlassender Fleiß), opes sufficientes (ausreichende physische Anlagen).
Studia theologica non neglexit (Erfolge in Theologie), orationem sacram non sine studio elaboravit, in recitanda non magnus orator visus (nicht ohne Eifer seine Predigerversuche, allerdings ist er kein großer Redner), philologiae non ignarus (gute philologische Kenntnisse), philosophia nullam operam impendit (keine Bemühungen in Philosophie)[!]

Das seltsame „nullam“ war ein Versehen des Schreibers. Offenbar hatte er das Wort vom Tübinger Stiftszeugnis falsch abgelesen. Mit dem heutigen Wissen um die große Bedeutung des Philosophen erscheint dies als ein geradezu komischer Fehler. Am Rand des Zeugnisses wurde denn das „nullam“ von späterer Hand auch in „multam“ korrigiert, also festgestellt, er habe ganz im Gegenteil natürlich sogar viel Mühe auf die Philosophie verwandt.

Hegel, der laut Konsistorialprotokoll das Examen insgesamt “zur Zufriedenheit” bestanden hatte, wurde die Annahme seiner Hauslehrerstelle “unter der Bedingung gestattet, daß er sich fleißig im Predigen übe, woran es ihm noch sehr fehle, und jedem Ruf in sein Vaterland sofort Folge leiste”. Der begabte Absolvent hatte als Prediger nicht überzeugt, wie übrigens in seiner späteren Philosophenlaufbahn trotz seiner Berühmtheit auch nicht als Vortragender.

Quellen: 

LKAS, Kirchenbucharchiv, Taufregister der Stiftskirche Stuttgart, 1765-72, Eintrag 28. August 1770, S. 304.

LKAS, A 13, Nr. 1, S. 389.

LKAS, A 3, Nr. 62, 1793, S. 391 (Bericht über den Prüfungstag im Konsistorialprotokoll)

 

Literatur:

Briefe von und an Hegel, Band IV, Teil 1. Dokumente und Materialien zur Biographie, Hrsg. von Friedhelm Nicolin, Hamburg 1977.

Hermann Ehmer, Das württembergische Konsistorium 1780-1795, In: Michael Franz (Hrsg.) „…an der Galeere der Theologie“?. Hölderlins, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, Bd. 23/3) Tübingen 2007, S. 263-283

 

Teil VI der quellenkundlichen Serie über die Kirchenkonventsprotokolle: „Sodom und Gomorrah“ auf der Alb oder illegale Spielfreuden an den Weihnachtsfeiertagen

24. August 2020 | |

Am Morgen des 24. Dezember 1749 fand der Laichinger Pfarrer Matthias Friedrich Brecht einen anonymen Zettel an seine Tür geheftet. Der Inhalt des Zettels und das Vorgehen wurden peinlichst genau in den Kirchenkonventsprotokollen festgehalten.
“An den hochgehrtesten Herrn Pfarrer,
bitte Euch um Gottes Willen, Ihr wollt so gut sein, und dem gottlosen Sodom und Gomorrha abhelfen, dem schrecklichen, in des Jakob Röschen Haus; Es ist schrecklich gottlos: man spielt jede Nacht […] bis morgens! Gott erbarme sich. Ich habe selbst ein Kind dorthin gehen; ich bitte den hochgehrtesten Herrn Pfarrer, er wolle doch dem gottlosen Haus abhelfen, darf doch der ganze Ort um des Lasters Willen gestrafft werden. […]. Es gehen Buben dahin mit 14 Jahren, Schüler; auch Konfirmierte mit 15., 16. Jahren. In der heiligen Christnacht stehen sie auf um 12. Uhr. Sie spielen bis morgends, da man in die Kirche geht; das ist ja ein Greul vor Gott dem Allmächtigen.”
Mit diesem Zettel, so ist weiter vermerkt, begab sich Pfarrer Brecht umgehend zum Amtmann und hat dort Unterredung gepflegt wie die Sache anzugehen sei. Sie gingen am selben Abend noch zum Haus von Jakob Rösch – aber dort herrschte Ruhe in dieser Nacht.
Am nächsten Abend, dem 26.12., ging der Pfarrer mit seinem Sohn gegen 21 Uhr wieder dorthin. Der Pfarrer traf eine ganze Stube voll Männer und ledige Burschen an, die Kartenspiele lagen auf den Tischen. Wohl 30 Leute waren an drei Tischen versammelt.
So bald der Pfarrer sich zu erkennen gab, war alles auf, und wollte zur Tür hinaus – des Pfarrers Sohn aber stand dagegen und ließ keinen hinaus, darauf lief eine Gruppe der Kammer zu, und stieg zum Laden hinauf; da aber diese Sache zu langsam ging, brachen die Leute die Fenster samt den hölzernen Rahmen entzwei, und schlupften haufenweise zum zerbrochenen Fenster hinaus, bis auf einen, nämlich dem so genannten Haffner Stoffel.
Die beteiligten Personen wurden unterschiedlich abgestraft: je nachdem, ob sie Karten gespielt oder gewürfelt hatten, bzw. nur als Zuschauer anwesend gewesen waren. Der ganze Vorgang wurde nach der Predigt im Gottesdienst “publice” (öffentlich) gemacht. Jakob Rösch wurde mitgeteilt, dass der Bericht über ihn noch nicht an das gemeinschaftliche Oberamt geschickt wurde, weil man sehen wolle, ob er sich nicht bessern werde.
(Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 24. und 29.12.1749)
Jakob Rösch wurde wegen der Sache vor das Gremium zitiert. Weil er bisher in seinem Haus kein Glücksspiel und andere dergleichen ärgerliche Dinge zugelassen hatte, kam er nur ins Zuchthaus. „Gebessert“ hat er sich nicht, wie spätere Eintragungen zeigen – dabei war seine Frau Anna Katharina die Tochter des Heiligenpflegers.
(Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 27.2.1750)
Hier war so gut wie alles, was nicht erlaubt war, versammelt – eine illegale Spielhölle in einem Privathaus am 2. Weihnachtfeiertag. Und am Ende stolpern alle zum Fenster hinaus und dabei bricht auch noch das Fenster aus der Wand. Nur der Haffner Stoffel schafft es nicht nach draußen. Die Liste der Unfug-Treibenden war bei 30 Beteiligten entsprechend lang. Zu vermuten bleibt, dass auch der Spaß, den die Beteiligten hatten, entsprechend groß war. Sprich, dass die riskierte Strafe einschätzbar und vielleicht auch einkalkuliert war. Denn dass eine solche Spielhölle unbemerkt bleiben würde, war nicht zu erwarten. Aber weiter nach oben, also an das Oberamt, sollte die Sache auch nicht gehen. Man regelte die Dinge gerne unter sich im Dorf.
Ein Blick in die Protokolle alleine reicht für ein Bild nicht aus. Sie geben jedoch Einblicke in die Arbeit der Richter und die Lebenssituationen der Gemeindeglieder. Dabei entsteht durchaus kein Abbild des Alltags, aber die Protokolle ermöglichen Ansichten des Alltags auf dem Land im 18. Jahrhundert. Sie gewähren Einblick in zwischenmenschliche, familiäre und dörfliche Konflikte und den Umgang mit diesen. Nicht zuletzt hat jeder Kirchenkonvent seine ganz eigene Geschichte, seine ganz eigenen Umstände.

Beitragsbild: LKAS, PfA Laichingen, B 75 (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 27.2.1750)

Bitte beachten Sie auch hier die Einführung in die Serie, sowie den quellenkundlichen Beitrag zu den Kirchenkonventsprotokollen auf der Homepage des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart.

75 jähriges Jubiläum Evangelisches Hilfswerk Württemberg

23. August 2020 | |

Heute vor 75 Jahren wurde das Evangelische Hilfswerk gegründet. Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 endete in Deutschland der Zweite Weltkrieg. Das Land, das zuvor Völkermord und Zerstörung über Europa gebracht hat, lag in Trümmern. Traumatisierte und versehrte Menschen, Kriegswaisen, Heimatlose, Geflüchtete und Vertriebene benötigten Lebensmittel und Kleidung sowie eine erste Unterkunft.

Um akute Nothilfe zu leisten, gründete die Evangelische Kirche in Deutschland am 23. August 1945 auf ihrer Konferenz in Treysa das Evangelische Hilfswerk mit Hauptsitz in Stuttgart. Die einzelnen Landeskirchen richteten eigene Geschäftsstellen ein, um über die regionalen kirchlichen Strukturen effektiv Hilfe leisten zu können. Landesweit wurden Bezirksverantwortliche berufen und Bezirksbüros aufgebaut. Auch in Württemberg entstanden so örtliche Kleiderkammern, Suppenküchen, Lebensmittelausgaben und Beratungsstellen – die Vorläufer der heutigen Diakonischen Bezirksstellen. Daneben errichtete das Hilfswerk Notaufnahmelager für Flüchtlinge und gründete verschiedene Heimeinrichtungen und Aufbaugilden.
Das Evangelische Hilfswerk wirkt heute als Diakonisches Werk weiter.

Das Landeskirchliche Archiv wird sich ab 15. September bis zum Jahresende in einer Blog-Serie anhand von Quellen, Objekten, Fotos und Plakaten mit dem Thema Nachkriegszeit beschäftigen, vieles davon aus dem Bestand des Diakonischen Werks bzw. des Hilfswerks, das sich in unserem Archiv befindet.

 

Beitrag über das Diakonische Werk Württemberg auf Württembergische Kirchengeschichte Online.

Beitragsbild: Plakat, gezeichnet von Curt Zeh, 1948 (Ausschnitt)

Teil V der quellenkundlichen Serie über die Kirchenkonventsprotokolle: Häusliche Gewalt gegen Ehefrau, Kinder, Mägde

21. August 2020 | |

Weitaus mehr als nur die Anklage wegen Kindesmisshandlung steht hinter einem tragischen Fall von 1742. Johannes Schwenk klagte zusammen mit seiner Tochter Barbara gegen deren Ehemann, den Kaufmann Georg Friedrich Schnitzer. Der Angeklagte hatte dem gemeinsamen Kind, geboren am 18.10.1741, während es krank war, kalte Milch zu Trinken gegeben und seine Kleidung nass gemacht. Nachdem ihn seine Schwiegermutter dafür gescholten hatte, beleidigte er sie als eine “krumme Scheißmaul”, zog seinen Degen und wollte sie damit verletzen. (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 9.5.1742).
Der Kirchenkonvent befürchtete, dass Georg Friedrich Schnitzer seiner Frau und dem Kind etwas anhaben könnte. Da Lebensgefahr (“periculus in mora”) bestand, wurde ihrem Vater, dem Rößle-Wirt Johannes Schenk-Edel, erlaubt, sie und das Kind für acht Tage zu sich ins Haus zu nehmen. Barbara Schnitzer wurde befragt, wie ihr Sinn bei diesen und anderen unerträglichen viehischen Aufführungen ihres Mannes sei? Sie meinte dazu, dass sie an Leib und Seele zugrunde gehe. Sie halte ihren Mann für “incorigibel” (unverbesserlich) und wünsche die Scheidung. Georg Fridrich Schnitzer sagte aus, dass er alles nur als Spaß getan und es nicht böse gemeint habe. Er wolle sich bessern und freundlich mit seiner Ehefrau umgehen. Das Ehepaar wurde vom Kirchenkonvent zum Frieden ermahnt und ihnen Gottes Gnade und Segen mitgegeben. Sollte Georg Friedrich Schnitzer weiter auf seinem “Unsinn” beharren, drohte man ihm mit der Weiterleitung an höhere Stelle.
Als Marginale ist vermerkt, dass der Vater dem Kind Schnupftabak in die Nase gestopft und gedroht hatte, es in die Hüle (den Dorfteich) zu werfen oder in die kalte Kammer zu legen. Ebenfalls vermerkt ist dort, dass Amtmann und Pfarrer den Vater schon vor einem halben Jahr verwarnt hatten. Die gemeinsame Tochter Angelica verstarb im Haus der Großeltern am 11.5.1742 mit gerade acht Monaten.
Für den Kirchenkonvent schien damit der Fall zunächst erledigt gewesen zu sein. Er hatte seine Pflicht getan, indem er die Parteien zum Frieden ermahnt hatte. Genügend Gründe, um ein Scheidungsverfahren einzuleiten, lagen nicht vor. Sechs Jahre später, nachdem Georg Friedrich Schnitzer dann auch noch seine Magd geschwängert hatte (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 13.2.1742, 14.2.1748: Schwangerschaft der Magd Angelica Moll)  und eine versuchte Vergewaltigung vorlag (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 9.5.1742: Versuchte Vergewaltigung der Maria Bainer im Haus des Delinquenten), waren genügend Gründe gegeben und der Kirchenkonvent in Laichingen schaltete höhere Stellen ein. Das Ehegericht in Stuttgart beschäftigte sich dann mit dem Fall.
Die Scheidung muss Ende 1748 oder Anfang 1749 stattgefunden haben, da Anna Barbara Schwenk-Edel 1749 in zweiter Ehe den Metzger, Kaufmann und Krämer Leonard Hetzler heiratete. Aus dieser Ehe gingen sieben Töchter hervor, von denen aber nur zwei das erwachsene Alter erreichten und heiraten.
(Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Pfarrarchiv Laichingen, Nr. 185.)

Beitragsbild: Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 9.5.1742.

 

Diakonieplakate

19. August 2020 | | ,

In unserem Archiv werden nicht nur Akten, sondern auch Plakate aufbewahrt. Im umfangreichen Bestand des Diakonischen Werks Württemberg, das dieses Jahr sein 50-jähriges Jubiläum feiert, befinden sich 182 Plakate, deren Verzeichnung nun abgeschlossen ist. Die Plakate erzählen in bildhafter Gestaltung von den Arbeits- und Aufgabengebieten der Inneren Mission und des Evangelischen Hilfswerks, die sich 1970 zum Diakonischen Werk Württemberg zusammengeschlossen haben. Die frühesten Plakate der beiden Institutionen, die sich bei uns befinden, stammen von 1947, das neueste von 2013. Ein wahrer Bilderschatz, der gesellschaftliche Entwicklungen und Notstände deutlich macht.

Zur Vertiefung: Beitrag über das Diakonische Werk Württemberg auf Württembergische Kirchengeschichte Online.

Teil IV der quellenkundlichen Serie über die Kirchenkonventsprotokolle: Häusliche Gewalt in der Ehe

17. August 2020 | |

Kartenspiel, um 1920. Landeskirchliches Archiv, Museale Sammlung

Durch „schlechtes Hausen“ und „Uneinigkeit im Hauswesen“, das oft mit Verschwendung, Müßiggang und Alkoholismus verbunden war, sah sich die Obrigkeit aus wirtschaftlichen Gründen zum Einschreiten gezwungen. Nicht, dass die Trinkenden und Streitenden irgendwann nicht mehr genug arbeiten konnten und Geld aus der Gemeindekasse wollten. An dieser Schnittstelle verbanden sich obrigkeitliche Interessen und die Nöte der Ehepartner, besonders oft der Ehefrauen.

Ein Fall aus dem Kirchenkonventsprotokoll des Albdorfs Laichingen mag beispielhaft die Thematik illustrieren. Nicht durch die geschlagene Ehefrau, sondern den Pfarrer Friedrich Ernst I. Perrenon kam es 1783, noch am Tag des Vorfalls (einem Sonntag!), zur Anklage gegen Jakob Hirsch. Er hatte auf der Straße beim Pfarrhaus seine Ehefrau mit einem Stecken auf den Rücken, auf den Kopf und ins Gesicht geschlagen. Sie blutete an der Schläfe. Wenn nicht ein Mann ihn von weiteren Schlägen abgehalten hätte, hätte er seine Frau wohl zu Tode geschlagen. Er wurde zum Pfarrer gebracht, Zeugen und seine Ehefrau wurden verhört. Er gab an, dass er „sein Weib auf diesem Platz oder zu Haus todschlagen“ wolle. Für die Körperverletzung musste Jakob Hirsch drei Tage bei Wasser und Brot und einer warmen Mahlzeit am Tag in das Gefängnis. Gleich zu Anfang der Verhandlung wurde erwähnt, dass der Angeklagte vor einem Jahr wegen „spielens sauffens und gehabter Händel“ einen halben Tag in den Dorfarrest musste. Er hatte kein Geld gehabt, um die Strafe zu bezahlen.

Viele Fragen bleiben offen. Zum einen, ob es ohne die Anwesenheit des Pfarrers zu einer Anklage gekommen wäre, ob die Sache überhaupt den Kirchenkonvent erreicht hätte. Oder ob hier durch das Schlagen der Frau auf offener Straße eine Grenze überschritten worden war ? Zum andern tritt die Schutzlosigkeit der Ehefrau zu Tage sowie das Unvermögen – und vielleicht auch der Unwille – des Kirchenkonvents, ihr Schutz zu gewähren.

Quelle: Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1782-1792, 4.10.1783