3. November 2020 | Andrea Kittel | Nachkriegszeit, Serie Nachkriegszeit, Zeitgeschichte

Feldgottesdienst im Kriegsgefangenenlager Böckingen. Kolorierte Federzeichnung von Hermann Fuhrmann, 1945 (Quelle: Stadtarchiv Heilbronn)
Ein Abendmahlskelch aus dem Schrott einer Granate? Eine Hostiendose aus dem Blech eines Ofenschirms? Einen Gottesdienst zu erleben und Abendmahl feiern zu können, bedeutete für Viele nach Ende des Krieges die Hoffnung auf Frieden und Neubeginn. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs war die Materialknappheit so groß, dass man zur Herstellung wichtiger, auch sakraler, Gebrauchsgegenstände nicht wählerisch sein durfte. Man verwendete alles, was aus den Trümmern geborgen werden konnte.
Der Kelch, die Kanne, die Patene und die Hostiendose wurden 1945 von deutschen Kriegsgefangenen im Lager Heilbronn-Böckingen für die Lagergottesdienste gefertigt.
In der Endphase des Zweiten Weltkriegs hatte die 7. US-Armee ab März 1945 große Teile Süddeutschlands erobert. Bei ihrem raschen Vorrücken fielen in kürzester Zeit Hunderttausende deutscher Kriegsgefangener in ihre Hände.
Auf freiem Feld, im Westen des heutigen Heilbronner Stadtteils Böckingen, errichtete die US Army ein anfangs sehr provisorisches Kriegsgefangenenlager. Für die rund 150.000 Gefangenen, die im Mai 1945 dort interniert waren, gab es keine Unterkünfte, zunächst nicht einmal Zelte, und kaum Essen und Wasser. Die offensichtlich problematischen Zustände führten zu spontanen Hilfsaktionen in der Bevölkerung. Der Böckinger evangelische Stadtpfarrer Theodor Zimmermann (1893-1974) nahm in diesen Wochen eine zentrale Rolle bei der Hilfe für die Gefangenen ein. Er sammelte Lebensmittel, Kleidung und Gebrauchsgegenstände. Da die Lager anfangs nicht betreten werden durften, wurden die Spenden, trotz Verbots, teils von amerikanischen Sanitätsoffizieren in das Lager gebracht, teils wurden sie über die Lagerzäune geworfen. Erst am 6. August 1945 genehmigte der amerikanische Chefarzt des Lagers offiziell den Transport von Hilfsgütern.
Sobald es möglich war, errang Pfarrer Theodor Zimmermann eine Sondergenehmigung zum Betreten das Lagers, so dass er dort regelmäßig Gottesdienste abhalten konnte. Die von Kriegsgefangenen gefertigten Vasa Sacra aus Bombenschrott bewahrte er noch lange nach dieser Zeit auf. Für ihn waren sie Zeugnisse für kirchliches Leben in Bedrängnis und Not. Aus seinem Nachlass kamen sie in die Museale Sammlung des Landeskirchlichen Archivs. Dort befinden sich noch weitere ähnliche Objekte von anderen Pfarrern aus Kriegsgefangenenlagern, etwa aus Livorno/Italien, Belgrad/Jugoslawien, Nancy/Frankreich und Mourmelon-Le-Petit/Frankreich.
27. Oktober 2020 | Dorothea Besch | Serie Nachkriegszeit
Die Not in der Nachkriegszeit war auch unter den Studierenden sehr groß. Viele von ihnen waren ausgebombt, hatten ihre Eltern im Krieg verloren und somit weder finanzielle noch emotionale Unterstützung für ihren akademischen Werdegang. Sie lebten in bitterere Armut ohne genügend Nahrungsmittel und Kohlen für den Ofen. Manch einer trug noch drei Jahre nach Kriegsende eine alte Uniform und durchgelaufene Schuhe. Diese Notstände konnten anhand verschiedener Maßnahmen der Evangelische Studentenhilfe ein wenig gelindert werden. Durch Spenden verschiedener amerikanischer Kirchen wurden im Herbst 1945 erstmals Lebensmittel und Bekleidung an notleidende Studierende der Universität Tübingen ausgegeben. Aber auch Lebensmittelsammlungen im ländlichen Raum waren ein wichtiger Beitrag, besonders für die seit 1946 angebotene Abendspeisung im Adolf-Schlatter-Haus. Für einen geringen Betrag – für besonders Bedürftige war die Abendspeisung kostenlos – half sie so manchem Studierenden ohne knurrenden Magen einschlafen zu müssen. Im Wintersemester 1950/51 wurden täglich 270 Karten für die Abendspeisung zu 0,40 DM verkauft, zusätzlich gab es 90 kostenlose Mahlzeiten
Tübinger Honoratioren und Selbständige aus Industrie, Handwerk und Landwirtschaft wurden um Unterstützung gebeten. Manche Tübinger Bürger*innen erklärten sich bereit, einmal in der Woche eineN StudierendeN zum Mittagessen einzuladen. Im Advent 1949 fand erstmals ein öffentlicher Weihnachtsbazar im Adolf-Schlatter-Haus statt, der von Tübinger Geschäften mit Lebensmittel und Gebrauchsgegenständen ausgestattet war. Mit dem Verkauf der Sachspenden in Form von Bleistiften, Kämmen, Likörgläschen, Seifen, Sonnenblumenöl, Bilderrahmen, Pfeifen, Kartoffelreiben und Gabeln konnte die Zahl der „Freitische“ bei der Abendspeisung erhöht werden.
Die Studentenhilfe setzte sich auch mit verschiedenen Gästehäusern und Erholungsheimen in Verbindung, um besonders Bedürftigen oder an Tuberkulose erkrankten Studierenden einen Erholungsurlaub zu ermöglichen. Anhand der finanziellen Unterstützung der deutschen Kirchen konnten umfangreiche Stipendien gewährt werden, zudem wurden Mittel für „Bekleidungsreparaturen“ zur Verfügung gestellt. Es existierte eigens für die Studenten eine Nähstube des Hilfswerks, in der freiwillige Helferinnen die schadhaften Kleidungsstücke von Studierenden ausbesserten, denn auch Kleidung war ein knappes Gut.
Quellen:
GS 7, Nr. 62-65
L 1, Nr. 1895
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Informationsblatt Erholungsheim „Olgahöhle“. LKAS, GS 7, Nr. 63
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Speiseplan Adolf-Schlatter-Haus 1952. LKAS, GS 7, Nr. 64
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Die Nähstube des Hilfswerks. LKAS, L1, Nr. 1895.
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Aufruf zum Bazar der Evangelischen Studentenhilfe in Tübingen. LKAS, GS 7, Nr. 63
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Lieferschein über verschiedene Nahrungsmittel des Evangelischen Hilfswerks an die Zweigstelle der Studentenhilfe in Tübingen. LKAS, GS 7, Nr. 63.
23. Oktober 2020 | Uwe Heizmann | Genealogie
Bei der Ahnenforschung hat man mal mehr, mal weniger das Glück, auf Ahnen zu stoßen, die einer bestimmten „exklusiven“ Amts- bzw. Berufsgruppe angehörten. Dazu gehören Amtsträger, wie z.B. Klosterverwalter oder Amtspfleger, oder Pfarrer. Diese Gruppen haben gemein, dass zu ihnen bereits umfangreichere Forschungen durchgeführt und dementsprechende Sekundärliteratur und Verzeichnisse vorhanden sind, welche die Forschung erleichtern oder sogar die Recherche in den Kirchenbüchern häufig unnötig machen.
Für die württembergischen Amtsträger ist hier „Der Pfeilsticker“ zu nennen, also das Werk „Neues Württembergisches Dienerbuch“ von Walther Pfeilsticker aus den Jahren 1957 bis 1975.
Für die Pfarrer sind es die Pfarrerbücher, die bereits seit einigen Jahrzehnten von den verschiedenen Landeskirchen herausgegeben werden. Für das Herzogtum Württemberg ist „Der Sigel“, also das Werk „Das evangelische Württemberg. Ein Nachschlagewerk“ von Christian Sigel zu nennen. Auf Grundlage dieses Werks wurde das Pfarrerbuch Herzogtum Württemberg und schließlich auch das Pfarrerbuch Königreich Württemberg erstellt, in dem über https://www.wkgo.de/personen/personensuche nach Pfarrern recherchiert werden kann.
Das Pfarrerbuch enthält umfangreiche biografische Angaben zu den Pfarrern, ihrem Werdegang und ihren Familien. Schnell wird ersichtlich, dass die Pfarrer gerne unter ihresgleichen blieben, der Pfarrerssohn häufig selbst Pfarrer wurde und die Tochter eines anderen Pfarrers ehelichte (oder zumindest in höhere Kreise einheiratete) und manche Pfarrerfamilien geradezu „Pfarrerdynastien“ bildeten.
Als Beispiel für eine solche „Pfarrerdynastie“ ist die Familie Binder genannt, die ausgehend von einem katholischen Priester und ersten evangelischen Pfarrer von Grötzingen (Lkr. Esslingen) zwei evangelische Äbte, einen Special-Superintendenten und mehrere weitere Pfarrer hervorbrachten.
Der Hochzeitseintrag vom 24. November 1750 in Bietigheim ist ein Beispiel für die Eheschließung zwischen Angehörigen zweier Pfarrersfamilien, geheiratet haben:
„H[err] M[agister] Christoph Friedrich Breeg, Pfarrer zu Hausen, Brackenheimer Dioeces, H[errn] M[agister] Johann Christoph Breegen, hochfürstl[ich] württemberg[ischen] Raths, Praelaten zu Herrenalb, Special Superintendenten zu Calw, und einer löbl[ichen] Landschafft in Württemberg zum größern Außschuß Assessoris, ehl[icher] Sohn, und Jungfr[au] Elisabetha Agatha, Herrn M[agister] Christoph Peter Binder, Special-Superintendant und Stadtpfarrers allhir ehl[iche] Tochter.“
Selbstverständlich heiratete nicht jede Pfarrerstochter einen Pfarrerssohn und nicht jeder Pfarrerssohn wurde selbst Pfarrer, sondern übernahm ein anderes Amt bzw. ging einem anderen Beruf nach.
Durch einen Nachtrag in einem Taufregister von Peterzell bei Alpirsbach ist ein Fall belegt, in dem ein Pfarrerssohn sich komplett von der Familientradition löste. Im Taufeintrag von Ferdinand Heinricus, dem Sohn des dortigen Pfarrers Johannes Hähnlin, vom 12. Oktober 1673 hatte ein anderer Schreiber später die Worte „Apostata factus et venator in aula principis Hechingensis“ nachgetragen. Übersetzt bedeutet dies: „Er wurde Abtrünniger und Jäger am Hof des Fürsten von Hechingen.“ Ferdinand Heinricus Hähnlin trat also zum Katholizismus über und verdiente seinen Lebensunterhalt als Jäger am Hof des Fürsten von Hohenzollern-Hechingen.
Biografische Informationen
Binder, Christoph, 28.12.1519-30.10.1596
Binder, Christoph, 28.01.1553-17.12.1623
Binder, Christoph, 11.05.1575-11.05.1575
Binder, Christoph, 23.10.1576-23.03.1631
Binder, Christoph Peter, 24.04.1696-26.12.1766
Binder, Georg, vor 1477-1548
Binder, Georg, 03.08.1548-08.06.1620
Binder, Hans Georg, 03.06.1580-02.11.1634
Binder, Thomas, 24.03.1607-um 1650: vgl. Thomas, 1644-1693 und Christoph, 1576-1631
Binder, Thomas, 07.07.1644-03.05.1693
Breg, Christoph Friedrich, 15.05.1720-08.11.1758
Breg, Johann Christoph, 21.04.1682-06.11.1752
Hähnlin, Johannes, 11.10.1635-24.7.1682
Quellen
KB Bietigheim, Eheregister 1733-1773, ohne Seitenzählung
KB Peterzell, Mischbuch 1606-1732, Taufregister 1648-1694, S. 30
Allgemeiner Literaturhinweis: Unsere Arbeitshilfe zur Forschung mit den württembergischen Kirchenbüchern kann zum Preis von 5,00 Euro bestellt werden.
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Pfarrerdynastie Binder
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Taufe 12.10.1673 in Peterzell
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Eheschließung am 24.11.1750 in Bietigheim
20. Oktober 2020 | Andreas Butz | Serie Nachkriegszeit
Zu den vielfältigen Aktivitäten des Evangelischen Hilfswerks in Württemberg in der unmittelbaren Nachkriegszeit zählte die Ermöglichung von Erholungsaufenthalten für Kinder. Dies war umso notwendiger, als die Traumatisierung ein Massenphänomen der damaligen Jahre war. Sie hatten in engen Bunkern die Luftangriffe miterlebt. Die oft dramatischen Ereignisse auf der Flucht hatten zahlreiche betroffene Kinder, die nun in Württemberg eine neue Heimat finden mussten, erschüttert und verunsichert. Dazu kamen noch die andauernden tristen Lebensumstände in den zerbombten Städten, wo die Trümmer noch jahrelang sichtbar waren und an den vergangenen Krieg erinnerten. Ruinen gehörten zum Alltag und zur Lebenswelt der Kinder mancher größerer Städte. Eine dieser Erholungsstätten befand sich von 1946 bis 1948 in der Laufenmühle bei Welzheim im Schwäbischen Wald. Das erklärte Ziel des Hilfswerks war es, dort unterernährte und durch Bombennächte und Fluchterlebnisse traumatisierte Kindergruppen zur Erholung für einen jeweils mehrwöchigen, erholsamen und schönen Aufenthalt aufzunehmen. Eine ähnliche Einrichtung befand sich in Neufürstenhütte, ebenfalls im Schwäbisch-Fränkischen Wald.
Die Laufenmühle liegt idyllisch inmitten eines Waldgebietes im Tal der Wieslauf, die der Mühle auch ihren Namen gegeben hat. Der Fluss, wie auch der nördlich davon gelegene Ebnisee diente lange Zeit den Flößern, die auf diesem Weg Holz in Richtung Schorndorf transportierten. Erst um etwa 1900 entstand hier zunächst eine Mahlmühle, dann eine Sägemühle und schließlich ein Ausflugslokal- und Kurbetrieb. Die Wasserkraft wurde dann von der Firma G. Bauknecht genutzt, deren Zwangsarbeiter im zweiten Weltkrieg in den Gebäuden untergebracht waren. Unmittelbar nach dem Krieg diente die Mühle auch einer Flüchtlingsunterbringung.
Ab Juli 1946 wurde ein Teil der Räume des Hauptgebäudes als Kindererholungsheim durch das Evangelische Hilfswerk angemietet. Am 22.7.1946 kam der erste Bus mit 89 erholungsbedürftigen Mädchen an. Bis 13.12.1946 kamen fünf Kindertransporte mit insgesamt 353 Kindern an. Jedes Kind konnte sich 26 Tage im Heim erholen. Die Verpflegung kam vom Hilfswerk, beziehungsweise von den im Hintergrund aktiven Spendern aus Deutschland, den USA, Schweden und der Schweiz.
Im Jahr 1948 wurde das die Knabenheimschule Kleinglattbach, die ebenfalls vom Evangelischen Hilfswerk betrieben wurde, in die Laufenmühle verlegt. Wir werden in einem späteren Blogbeitrag dieser Serie auf diese Einrichtung näher eingehen.
Unser Archiv verwahrt die historische Überlieferung des Evangelischen Hilfswerks in Württemberg in Bestand L 1. Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.
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Hauptgebäude Laufenmühle im Schwäbischen Wald
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Unterbringungsraum (Mittagsruhe)
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Kindergruppe auf der Wiese bei der Laufenmühle
13. Oktober 2020 | Andreas Butz | Jubiläum, Serie Nachkriegszeit
Führende Vertreter der neu gebildeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gaben die Stuttgarter Erklärung bei einem Treffen mit Mitgliedern des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) am 18./19. Oktober 1945 in Stuttgart ab. Erstmals bekannte sich die evangelische Kirche Deutschlands darin zu einer Mitschuld am Krieg und an den nationalsozialistischen Verbrechen. Die u. a. vom württembergischen Landesbischof Theophil Wurm unterzeichnete kirchliche Erklärung bekennt: „durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“. Die Schulderklärung markiert den Neuanfang in den Beziehungen der deutschen evangelischen Kirche mit der ökumenischen Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Veröffentlicht wurde die Erklärung zuerst im Kieler Kurier. Im Württembergischen Gemeindeblatt berichtete man davon erst zögerlich zwei Wochen später. Alle Presseorgane unterstanden der Nachrichtenkontrolle der jeweiligen Militärregierung der Alliierten.
Michael Bing vom Landeskirchlichen Archiv stellt anhand von einigen Dokumenten in dem folgenden Clip die Stuttgarter Schulderklärung vor.
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Weitere Informationen
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Unterschriebene Fassung im Nachlass von Bischof Bell in der Lambeth Palace Library in London (Bell Papers: German Church 9, f. 435).
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Kieler Kurier, 27. Oktober 1945
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Verordnungs- und Nachrichten Blatt der EKD, Nr. 1, Januar 1946
Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.
6. Oktober 2020 | Andrea Kittel | Kunstgeschichte, Museale Sammlung, Nachkriegszeit, Serie Nachkriegszeit, Zeitgeschichte
Der Stuttgarter Künstler Robert Eberwein (1909-1972) hat während seiner Kriegsgefangenschaft etliche Zeichnungen vom Lageralltag geschaffen und viele seiner Mitgefangenen porträtiert.
Am 19. April 1945 kam Eberwein in das Durchgangslager Rheinberg, das erste von den Alliierten errichtete Rheinwiesenlager, das von April bis September 1945 bestand. Unter Heranziehung deutscher Kriegsgefangener wurde es von den Amerikanern auf einem westlich von Rheinberg gelegenen 350 ha großes Acker- und Wiesengelände aufgebaut. Umgeben von hohen Stacheldrahtzäunen befanden sich dort acht Einzelcamps ohne jegliche Behausung, sanitäre Anlagen oder Versorgungsstruktur für rund 130.000 Gefangene. Kälte, Hunger, mangelnde Hygiene und fehlende medizinische Versorgung, grassierende Krankheiten und Tod gehörten zum Alltag. Als Eberwein dort ankam, war ihm sofort klar, dass er dieser verzweifelten Lage etwas entgegensetzen musste: er zeichnete. Im Krieg hatte er bereits als Zeichner bei einer Heereseinheit gedient. Nun dokumentierte er die drangvollen Lebensumstände im Lager, das Kampieren unter freiem Himmel, das Anstehen um Essen. Er skizzierte zerfurchte Gesichter, Gefangene beim Wasser holen, beim Waschen oder Schachspielen. Für eine gute Zeichnung bekam er manchmal ein Stückchen Brot.
Vom Durchgangslager Rheinberg kam Eberwein im Juni 1945 in das Kriegsgefangenenlager Auvours bei Le Mans in Frankreich. Dort bekam er immerhin ein Dach über dem Kopf, schlief mit 35 Mann in einem Zelt. Im Lager Auvour machte er mit seinen Skizzen weiter. Da er sich der christlichen Lagergemeinschaft angeschlossen hatte und sein künstlerisches Talent nicht unbemerkt geblieben war, wurde er im Oktober beauftragt, für die Krankenbaracken des Lagers einen Raum als Kapelle auszugestalten. Ein Lichtblick! Er schmückte die Wände mit dem Vaterunser, dem Glaubensbekenntnis und biblischen Motiven. Bis Weihnachten war das Ganze fertig. Doch schon im Januar wurde er mit weiteren 1 000 Mann in ein anderes Lager verlegt. Dort half er noch beim Aufbau und der Einrichtung eines Kirchenzeltes, bis er schließlich im Mai 1946 nach Hause entlassen wurde.
Künstlerischer Werdegang
Eberwein hatte, als Sohn eines Handwerkers, zunächst eine Schreinerlehre absolviert. In den Jahren 1929 bis 1933 besuchte er Zeichenkurse an der Stuttgarter Volkshochschule. Seine Lehrer waren Max Ackermann und Albert Volk. In den 30er Jahren lernt der junge Robert Eberwein durch Max Ackermann das Werk Adolf Hölzels kennen, das ihn nachhaltig beeinflusste. Hölzel rang bereits seit 1906 mit Farbe und Form, um gegenstandslose, freie Kompositionen zu schaffen. Dieses Ringen um eine neue Sprache der Kunst durchzieht auch das Werk von Robert Eberwein.
Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1946 arbeitete er zwei Jahre als Zeichenlehrer in Korntal, bis er sich als Maler, Grafiker und Illustrator in Ditzingen niederließ.
In den 1950er und 60er Jahre prägte Eberwein zu einem wesentlichen Teil das Gesicht der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er war unter anderem Illustrator für den Quell Verlag und das Evangelische Gemeindeblatt, gestaltete Jahreslosungen und entwarf Bildteppiche für die Paramentenwerkstatt.
Die Kraft des Wortes war für das Schaffen Eberweins von wesentlicher Bedeutung. Grafisch gestaltete Bibelworte setzte er nicht nur für die Jahreslosungen um. Auch in seinem künstlerischen Werk wurden für ihn Bild, Schrift und Wort zunehmend zu einer Einheit. In Linolschnitten, Aquarellen, Bleistift-, Kohle- und Kreidezeichnungen setzte er sich – figürlich oder abstrakt – mit biblischen Inhalten und Symbolen auseinander.
Ein großer Teil seines künstlerischen Nachlasses, vor allem die Auftragsarbeiten mit religiösen Inhalten, befindet sich in der Musealen Sammlung im Landeskirchlichen Archiv. Dabei sind auch zwei Mappen mit den Zeichnungen aus der Kriegsgefangenschaft (Inv. Nrn. 93.1676 – 93.1920). Diesen liegt ein handschriftlicher Bericht Eberweins über die Zeit seiner Kriegsgefangenschaft bei (Inv. Nr. 93.1678; 01-02).
Weitere Werke aus dem Schaffen des freien Künstlers befinden sich im Museum der Stadt Ditzingen.
Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.
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Selbstgebastelte Zeichenmappe mit schriftlichen Aufzeichnungen
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Deckblatt Zeichnungen
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Porträt eines Gefangenen
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„Der Strom“
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Zeltinnenraum Frankreich
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Lageralltag in Rheinberg mit schachspielenden Gefangenen. Im Hintergrund ein Wachtturm.
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Gefangene hinter Stacheldraht
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Lagergottesdienst
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Schachspielende Gefangene in Rheinberg
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„Halt den Dieb!“
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Gefangene mit Aufsichtspersonal
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Weihnachten 1945 im Gefangenenlager
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Baracke im Lager in Frankreich
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Entwurf für einen Andachtsraum
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Psalm 126
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Entwurf Auferstandener Christus
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Eidechs. Mitbewohnerin im Lager
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Mäusestudien. Mittbewohner im Lager
4. Oktober 2020 | Andrea Kittel | Jubiläum, Museale Sammlung, Nachlass
„Undankbarer Pferdequäler!“ möchte der Tübinger Pfarrer Christian Adam Dann einem Reiter zurufen, der hemmungslos auf sein Pferd eindrischt. Bei einem Gang durch die Stadt und in die umliegenden Dörfer entdeckt er zahllose Grausamkeiten gegen Tiere: Gänse mit jämmerlich blutender Brust, denen bei lebendigem Leibe die Daunen ausgerupft wurden, eine Ziege, die barbarisch an den Ohren gezerrt zum Weitergehen bewogen werden soll, halb verdurstete Kälber, die mithilfe von Hunden in den Stall gehetzt werden….
Unwillkürlich kommen uns Bilder der jüngsten Skandale in deutschen Schlachtbetrieben in den Sinn. Doch die Beobachtungen von Christian Adam Dann (1758-1837) stammen aus dem Jahr 1822. Aufgezeichnet hat sie der Pfarrer in seiner Schrift „Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn die Menschen“. Auf der Kanzel wetterte Dann gegen die Tierquäler, die er als die „elendste Klasse der Menschheit“ bezeichnete. Seine Predigten und Schriften entfalteten unter den Zuhörern und Lesern eine starke Wirkung. Noch Albert Schweitzer ließ sich später von seinen Gedanken inspirieren.
Über die Lebensverhältnisse von Tieren hat man sich lange Zeit kaum Gedanken gemacht. Tiere wurden als seelenlos und deshalb leidensunfähig angesehen.
Erst ein neues Empfinden für die Natur, wie es im 18. Jahrhundert durch Aufklärung und später durch die Romantik aufkam, veränderte den Blick auf die Tiere. In Deutschland waren es vor allem vom Pietismus geprägte Pfarrer, die bei der Frage nach dem rechten Umgang des Christen mit der Schöpfung nun auch das Verhältnis zu den Tieren ins Auge fassten. So auch Christian Adam Dann, der heute als einer der herausragenden Pioniere des Tierschutzes gilt.
Nur wenige Monate nach Danns Tod gründete sein Schüler und Freund, der Pfarrer und Liederdichter Albert Knapp (1798–1864), im Winter 1837 in Stuttgart den ersten Tierschutzverein Deutschlands. Gleichzeitig rief er zur Gründung weiterer örtlicher Tierschutzvereine auf, auch über die württembergischen Grenzen hinaus. Wichtigstes Anliegen der frühen Tierschützer war der respektvolle Umgang mit Nutztieren, besonders mit Droschkenpferden und Schlachtvieh. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, sollte in Schule und Kirche die Tierliebe durch regelmäßige „Belehrungen“ gefördert werden, vor allem aber wollte man erreichen, dass Tierquälerei als Delikt in das Strafgesetzbuch aufgenommen wird. In der Tat verabschiedete der Württembergische Landtag 1839 im Polizei-Strafgesetz einen Artikel, der die rohe Misshandlung von Tieren mit einer Geldbuße oder Arreststrafe belegte.
Nachdem die beiden Pfarrer Dann und Knapp die ersten Schritte für einen organisierten Tierschutz gegangen waren, setzten sich ihre Gedanken rasch in ganz Deutschland durch. Der von Knapp initiierte Verein hatte zwar nur kurze Zeit Bestand, doch am 17. Juni 1862 kam es endgültig zur Gründung des Württembergischen Tierschutz-Vereins. 1881 vereinigten sich die lokalen deutschen Tierschutzvereine zum Deutschen Tierschutzbund. Er umfasst heute mehr als 740 örtliche Vereine mit mehr als 800.000 Mitgliedern.
Der Briefwechsel zwischen Christian Adam Dann und Albert Knapp aus den Jahren 1829 – 1836
befindet sich im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart (Knapp-Archiv D 2).
Literaturhinweise (Landeskirchliche Zentralbibliothek = LKZB):
Christian Adam Dann, Albert Knapp: Wider die Tierquälerei: Frühe Aufrufe zum Tierschutz aus dem württembergischen Pietismus (=Kleine Texte des Pietismus. Bd. 7), hrsg. von Martin H. Jung, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2002.
Darin enthalten die anonym erschienene Schrift von Christian Adam Dann: Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn, die Menschen. Fues, Tübingen 1822.
LKZB A7/8626
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Quelle (LKAS, Knapp-Archiv D2,50): Die fernere Bildung von Vereinen zur Verhütung der Thierquälerei betreffend. Stuttgart 1837. Albert Knapp hatte diesen Aufruf zunächst als Beilage zum „Schwäbischen Merkur“ veröffentlicht. Später wurde er auch als einzelne Flugschrift verbreitet.
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Beitragsbild: Ein Mann peitscht sein erschöpft zusammengebrochenes Lasttier aus. Auf dem in frommen Kreisen bekannten Zwei-Wege-Bild, das die Stuttgarterin Charlotte Reihlen 1867 entworfen hat, wird die Tierquälerei als Sünde dargestellt, die auf dem breiten Weg zur Verdammnis führt. Zum Zwei-Wege-Bild hier.
AUCH INTERESSANT:
Adam Gottlieb Weigen: De Jure Hominis in Creaturas.
Oder Schrifftmässige Erörterung Deß Rechts des Menschen Uber die Creaturen / Nach allen dessen Ständen (…). Stuttgart 1711 (Reprint 2008)
LKZB A 17/10935
Das Buch des Leonberger Pfarrers Adam Gottlieb Weigen (1677-1727) ist eines der frühesten Beispiele für die Auseinandersetzung mit dem Tierschutzgedanken in Deutschland. Es fand aber wenig Beachtung und geriet rasch in Vergessenheit. Weigen, ein Vertreter des frühen Pietismus, betonte die Gottunmittelbarkeit auch der Tiere und meinte, dass im Endgericht Tierquäler ihren Opfern wieder begegnen würden.
29. September 2020 | Dorothea Besch | Bestand, Serie Nachkriegszeit, Zeitgeschichte
Mütter verloren ihre Kinder, Kinder ihre Mütter, Geschwister, Tanten, Großeltern. Auf dem Treck nach Westen wurden viele Familien auseinandergerissen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren Millionen von Menschen in Deutschland zwangsweise auf den Landstraßen und in Städten unterwegs. Es waren vor allem Menschen aus ehemaligen deutschen Ostgebieten, die Haus und Hof verlassen hatten, um sich vor der herannahenden Roten Armee im Westen in Sicherheit zu bringen. Aber auch Soldaten, die sich nach der Kapitulation der Front auf dem Rückweg zu ihren Familien befanden und in den zerbombten Städten weder ihr Haus noch ihre Angehörigen wiederfanden. Sie alle wanderten auf der Suche nach ihren Angehörigen mehr oder weniger ziellos durch das zertrümmerte Deutschland.
Um in dieser verzweifelten Lage Hilfe zu leisten, wurde ein Suchdienst aufgebaut. Eine Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus dem Rotem Kreuz, dem Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Caritas, war bis Juni 1948 gemeinsam tätig, danach lag der Suchdienst ausschließlich in den Händen des Roten Kreuzes. Der Suchdienst hatte drei Schwerpunkte:
1) Die Suche nach Kriegsgefangenen, Wehrmachtsvermissten und Verschleppten

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, L1, Nr. 3627.
Heimkehrende aus der Kriegsgefangenschaft wurden nach Namen und Adressen ihrer Kameraden in den Gefangenenlagern befragt. Auf Karteikarten wurden dann Feldpostnummern sowie Nummern der Gefangenlager gesammelt, um Anhaltspunkte über den letzten Aufenthalt des Vermissten geben zu können. Mit der Einrichtung einer „Sammelstelle für Heimkehrer Nachrichten“ konnte eine Auswertung der erhaltenen Nachrichten erfolgen. Bei der Suche nach Kriegsgefangenen und Wehrmachtsvermissten spielten Pfarrämter eine große Rolle. Sie waren für die Einholung und Überbringung von Heimkehrer-Nachrichten von Bedeutung, da sie als Anlaufstelle für Suchanträge fungierten.
2) Flüchtlingssuchdienst
Dem Flüchtlingssuchdienst standen Adressen zur Verfügung, die bei der Erfassung der Neubürger durch die Flüchtlingskommissare aufgenommen wurden. In der englisch und amerikanisch besetzten Zone – Deutschland war von den Alliierten in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden, einer englischen, amerikanischen, französischen und sowjetischen Zone – gab es eine Zonenzentrale, die mit dem Suchdienst zusammenarbeitete.
Die Hilfskomitees ehemaliger deutschen Volksgruppen in Nordost- und Südosteuropa, wie z.B. der Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, der Slowakeideutschen, der Bessarabiendeutschen, Dobruschdadeutschen, und Baltendeutschen erstellten jeweils eine eigene „Heimatkartei“, die sich für viele als hilfreich erweisen sollte.
3) Kindersuchdienst
In Württemberg-Baden umfasste die Kartei des Suchdienstes 2 400 Kinder, die von ihren Angehörigen gesucht wurden und elternlose Kinder, die ihre Familien suchten. Der Großteil der Kinder stammte aus Ost- und Westpreußen und Schlesien. Über Rundfunk, Suchzeitungen und Bildplakaten versuchte der Suchdienst die Kinder ihren Familien zu zuführen. In Württemberg konnten von Mai 1947 bis Februar 1948 jedoch nur 30 Kinder wieder mit ihren Angehörigen vereint werden.
In unserem Archiv befinden sich verschiedene Archivalien über den Suchdienst. Aus dem Bestand des Diakonischen Werks L 1, das seine Wurzel im Evangelischen Hilfswerk hat, stammen das Plakat „Nachrichten über Vermisste“ von 1948, der Fragebogen der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Kirche der Umsiedler und das Formular der Zonenzentrale München. Das ehemalige Internierten-Lagerpfarramt Ludwigsburg mit der Signatur GS 6, dessen Dokumente von 1945 bis 1949 in unserem Archiv verwahrt werden, enthält die abgebildeten Formulare des Roten Kreuzes.
Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.
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LKAS, GS 6, Nr. 29
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LKAS, L1, Nr. 330
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LKAS, GS 6, Nr. 29
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LKAS, GS 6, Nr. 29
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LKAS, L1, Nr. 330
25. September 2020 | Andreas Butz | Allgemein
Die Evangelische Akademie Bad Boll ist die älteste und größte europäische Akademie in kirchlicher Trägerschaft. Hinter ihr liegt eine lebendige Geschichte: 1945 Gründung durch Pfarrer Eberhard Müller, intensive Förderung einer demokratischen Gesprächskultur, Behandlung unterschiedlichster Themen, Vorreiterrolle in vielen Bereichen bspw. Nachhaltigkeit, prominente Gäste wie Theodor Heuss, Rudi Dutschke, Richard von Weizsäcker, Erhard Eppler, Theo Zwanziger, Alice Schwarzer, Winfried Kretschmann, Harald Welzer, Dorothee Sölle, Host Eberhard Richter und viele mehr.
Am Sonntag, 27. September, ab 15.00 findet der Festakt statt, der über Livestream übertragen wird. Näheres über den Festakt erfahren Sie über die Homepage der Akademie.
22. September 2020 | Andrea Kittel | Serie Nachkriegszeit

Das „CARE-Paket“ ist zum Symbol geworden für die Hilfe, die den Deutschen nach 1945 aus dem Ausland zuteilwurde. CARE bedeutet „Cooperative for American Remittances to Europe“.
In den ersten Jahren nach dem Krieg war die Ernährungslage in Deutschland dramatisch. Hunger und Auszehrung grassierten überall. Als Strafmaßnahme war von den Alliierten das Verbot verhängt worden, Hilfslieferungen in das besetzte Deutschland zu senden. Doch schon bald betrachteten die Westmächte die leibliche Versorgung der Bevölkerung als Voraussetzung für einen geordneten demokratischen Neuanfang. Deshalb wurde das Verbot im Dezember 1945 aufgehoben.
Vor allem aus den USA kamen Pakete mit hochwertigen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Fett, Zucker, Mehl, Reis, Ei- und Milchpulver. Das Evangelische Hilfswerk übernahm in Deutschland die Vermittlung eines großen Teils der Hilfsgüter. Als kirchliche Einrichtung verfügte es über einen Vertrauensvorschuss bei den Besatzungsmächten und verstand es zudem, seine ökumenischen Verbindungen in aller Welt zu nutzen. In Württemberg konnte das Evangelische Hilfswerk über ihre Verteilerstellen bis 1955 rund 4,5 Tonnen Hilfsgüter plus nahezu 65.000 Spendenpakete aus dem Ausland verteilen.

CRALOG – Spenden der Partnerkirchen in Übersee
Ein erheblicher Teil der Spenden, die das Hilfswerk aus dem Ausland erhielt, war den amerikanischen Partnerkirchen und den Mutterkirchen der deutschen Freikirchen zu verdanken. Die beiden hier gezeigten Pakete stammen von der CRALOG, der Dachorganisation der Hilfswerke der amerikanischen Kirchen. CRALOG heißt „Council of Relief Agencies Licensed to Operate in Germany“ (Rat der zur Arbeit in Deutschland zugelassenen Hilfsorganisationen). Eines der Pakete war vom „Lutheran World Relief Inc.“ an das Evangelische Hilfswerk, das andere Paket vom „Catholic Relief Services N.C.W.C.“ an den Caritasverband per Schiff nach Bremen gesandt worden. Im Gegensatz zu CARE ließ CRALOG seine Hilfssendungen ausschließlich durch die deutschen Wohlfahrtsverbände verteilen. Aufgrund dieser nur indirekten Beziehung zur deutschen Bevölkerung erlangte CRALOG im Bewusstsein der Menschen nicht die symbolische Bedeutung wie die CARE-Pakete, obwohl über CRALOG deutlich mehr Hilfsgüter verteilt wurden als durch CARE.
Die beiden leeren Hilfsgüter-Kartons überdauerten in württembergischen Pfarrhäusern, die als Verteilungsstellen des Evangelischen Hilfswerks fungiert hatten. In den Jahren 1994 und 2000 kamen sie mit Aktenlieferungen in die Museale Sammlung des Landeskirchlichen Archivs.
Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.
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Verteilung von Textilien in der Bezirksstelle in Kirchhausen, 1950
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Um die Lebensmittel- und Bekleidungsspenden sachgemäß aufzunehmen, musste das Evangelische Hilfswerk geeignete Zentrallager einrichten. Von dort aus wurden die Hilfsgüter mit LKWs in die Bezirksstellen, in Heime und Anstalten gebracht.
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Verteilung von Lebensmittelspenden in einer diakonischen Bezirksstelle des Evangelischen Hilfswerks
17. September 2020 | Uwe Heizmann | Genealogie, Kurioses
Die Menschen der Frühen Neuzeit waren fasziniert vom Fremden und Unbekannten, weshalb vor allem an fürstlichen Höfen so genannte Kuriositätenkabinette entstanden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass der Pfarrer von Unterheinriet die Fehlbildungen des am 9. Mai 1753 geborenen und auch getauften und namenlos gebliebenen wohl weiblichen Kindes des Schneiders Johann Eberhard Binder und seiner Ehefrau Margaretha detailliert – und in teils derben Worten – beschrieben hatte:
„Dieses war ein monstreuses Kind, in dem Gesicht sahe es ganz geschuppt aus wie ein Spiegel-Karpff, die Augendeckel waren ganz feüerroth, hatte eine kleine eingebuckte Nase mit 2 großen Löchern, die Ohren waren ganz hinten angewachsen, und an dem übrigen Leib, Händen, Armen, Schenckel und Füßen hatte es von außen her die Gestallt wie eine fetter abgezogener Hammel mit weißen und rothen Strichen durchströmgig, wurt von mir dem Pfarrer in seiner großen Schwachheit zu Hauß getauft und starb, nach vorherig geschehener Berichtung an das Löbliche Oberamt anderen Tags.“
Anmerkung
Spiegel-Karpff = Spiegelkarpfen, Zuchtform des Karpfens
Quelle
KB Unterheinriet, Mischbuch 1736-1808, Taufregister 1741-1775, S. 53
15. September 2020 | Andrea Kittel | Digitalisierung, Jubiläum, Restaurierung, Serie Nachkriegszeit
Der Papierrestaurator Matthias Raum brachte uns vor Kurzem das handgemalte Plakat des württembergischen Evangelischen Hilfswerks aus dem Jahr 1948 restauriert zurück.
Jahrzehntelange Lagerung hatten dem Objekt zugesetzt. Geknickt, eingerissen und verschmutzt kam es ins Landeskirchliche Archiv Stuttgart zusammen mit den Aktenbeständen des Diakonischen Werks Württemberg. Jetzt wurden die Schäden behutsam repariert und das brüchige Papier entsäuert. Das 197×136 cm große Plakat wird nun unter den klimatisch erforderlichen Bedingungen in unserem Magazin sachgerecht in einem Planschrank aufbewahrt. Das Plakat und seine Darstellungen einzelner Hilfseinrichtungen werden uns bis zum Jahresende bei unserer Serie „Nachkriegszeit“ als roter Faden begleiten.
Das Evangelische Hilfswerk
Das Evangelische Hilfswerk wurde auf der Kirchenvertreterkonferenz in Treysa am 23.8.1945 gegründet, um in der unmittelbaren Nachkriegszeit akute Nothilfe zu leisten. Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 endete in Deutschland der Zweite Weltkrieg. Das Land, das zuvor Völkermord und Zerstörung über Europa gebracht hat, lag in Trümmern. Traumatisierte und versehrte Menschen, Kriegswaisen, Heimatlose, Geflüchtete und Vertriebene benötigten Lebensmittel und Kleidung sowie eine erste Unterkunft. Auf EKD-Ebene wurde Eugen Gerstenmaier (1906-1986) mit dem Aufbau des Werks betraut, das Zentralbüro lag in Stuttgart. Die einzelnen Landeskirchen richteten eigene Hauptbüros ein, um über die regionalen kirchlichen Strukturen effektiv Hilfe leisten zu können. So auch in Württemberg. Unter der Leitung von Wilhelm Pressel (1895-1986) wurden landesweit Bezirksverantwortliche berufen und Bezirksbüros aufgebaut. Überall entstanden örtliche Kleiderkammern, Suppenküchen, Lebensmittelausgaben und Beratungsstellen – die Vorläufer der heutigen Diakonischen Bezirksstellen. Daneben errichtete das Hilfswerk Notaufnahmelager für Flüchtlinge und gründete verschiedene Heimeinrichtungen und Aufbaugilden.
Das Evangelische Hilfswerk wirkt heute als Diakonisches Werk weiter.
Wer hat das Plakat gestaltet?
Das Plakat zeigt eine Landkarte von Württemberg, auf der anschaulich sämtliche Einrichtungen und Initiativen des Hilfswerks dargestellt sind, die seit 1945 aufgebaut wurden und am 1.7.1948 noch bestanden. Das mit Tusche gezeichnete und kolorierte Plakat ist signiert mit „Curt Zeh 1947“. Wer ist dieser Curt Zeh? In den Akten des Evangelischen Hilfswerks liegen leider keine eindeutigen Nachweise für den Auftrag an den Künstler vor. Recherchen im Internet führten zu dem Oldenburger Plakatmaler Curt Zeh (1919-2013). Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg stand in enger Verbindung mit der württembergischen Landeskirche, so dass es durchaus vorstellbar war, dass das Evangelische Hilfswerk Württemberg auf der Suche nach einem Gestalter seinerzeit Kontakt dorthin aufgenommen hat. Ein Blick in seine Biografie ließ diese Annahme weiter plausibel erscheinen:
Curt Zeh hatte den Krieg selbst hautnah miterlebt. Mehrfach wurde er schwer verletzt, bei seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft fand er sein elterliches Haus in Leipzig zerbombt vor. In Oldenburg konnte er sich einige Zeit als Schriftenmaler über Wasser halten, indem er in einem Hangar auf dem ehemaligen Fliegerhorst für das britische Militär Grabkreuze der gefallenen britischen Soldaten beschriftete. Ab 1948 arbeitete er schließlich als Werbegestalter und machte sich in den 1950er Jahren einen Namen durch das Malen von großformatigen Kino- und Reklametafeln.
Der Kontakt zur Familie dieses Oldenburger Curt Zeh ließ jedoch Zweifel aufkommen, ob er der Gestalter des Plakats sein kann. Die Signatur in Deutscher Schrift sei, laut seiner Tochter, sehr untypisch – er signierte stets mit „ZEH“ in lateinischen Großbuchstaben. Seine Ehefrau erinnerte sich auch nicht, dass er je davon gesprochen habe, in der Zeit vor ihrer Heirat (1955) einen Auftrag vom Evangelischen Hilfswerk ausgeführt zu haben. Außerdem sei sein Malstil vollkommen anders gewesen. Die Suche nach dem Gestalter war daher nicht abgeschlossen und wir fragten uns, gibt es einen weiteren Künstler mit dem Namen Curt Zeh? Womöglich in Württemberg? Auf dem Sammlermarkt tauchten unlängst zwei Aquarelle mit Darstellungen von Bietigheim und Bad Cannstatt auf, die den gleichen Namensschriftzug tragen, wie das Hilfswerkplakat. Spannend wurde es, als wir Hinweise fanden, dass ein Curt Zeh aus Stuttgart 1952 am Rathaus Münsingen die malerische Gestaltung der Sonnenuhr ausgeführt hatte. Der Kontakt mit dem dortigen Stadtarchiv führte uns tatsächlich zu einem zweiten Curth Zeh: Neben den Aufträgen für die Stadt Münsingen werden in einer Quelle vom 8. 11. 1950 der Auftrag für eine Bildkarte für das Evangelische Hilfswerk erwähnt. Auch wenn immer noch kein eindeutiger Beweis vorliegt, kann diese Information als Indiz gewertet werden, dass der Stuttgarter Curt Zeh auch schon 1947 mit dem Evangelische Hilfswerk in Kontakt war und damals den Auftrag für das großformatige Plakat erhalten hat.
Die Motive auf dem Plakat
Die Illustrationen auf dem Plakat spiegeln die Nöte und Hilfsleistungen der ersten drei Nachkriegsjahre in Württemberg wider. Die Landkarte Württembergs wird rechts und links unten eingerahmt von zerstörten Städten. Ihre Wahrzeichen liegen in Trümmern. In ihren Ruinen sind sie sich merkwürdig ähnlich, so dass der Illustrator die Stadtwappen als erkennbare Insignien und Reste des einstigen Stolzes dazu gesellte: Heilbronn, Ulm, Freudenstadt, Reutlingen, Heimsheim, Friedrichshafen, Löwenstein, Weinsberg, Crailsheim…
Am oberen und unteren Bildrand sind lange Reihen von Hilfesuchenden dargestellt: Alte, Junge, Versehrte, Kranke, Erschöpfte. Die Menschen oben entsteigen Zugwaggons – offensichtlich auf der Flucht, bepackt mit Bündeln, Koffern und Kisten. Unten kommen sie zu Fuß, schleppen ihr Hab und Gut auf Handkarren oder auf von Ochsengespannen gezogenen Wägen. In diesen Szenen sind all diejenigen dargestellt, an die sich die Arbeit des Hilfswerks richtet. Dazu wird deutlich: Der Arbeitsschwerpunkt lag bei den Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, die sich nach der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 auf den Weg in den Westen gemacht hatten. Die Probleme der Versorgung und Unterbringung, der Betreuung und Eingliederung – die Leib- und Seelsorge, waren für das Evangelische Hilfswerk in Württemberg eine immense Herausforderung.
Das zentrale bildbestimmende Motiv des Plakats ist die Karte von Württemberg. Unter anderem werden regionale Besonderheiten hervorgehoben: Wald- Wiesen- Jagd- oder Weinbaugebiete. Die Hauptinformation gilt jedoch den Orten, die Sitz einer Hilfseinrichtung sind. Eine Legende am rechten oberen Bildrand klärt auf, wo es sich um eine „Bezirksstelle“, eine „Einrichtung“ oder eine „Betreuungsstelle“ handelt. Kinderspeisungen gab es an so vielen Orten, dass sich der Illustrator mit dem Piktogramm eines essenden Kindes begnügt, das sich entsprechend wiederholt. Anders, bei Versehrteneinrichtungen wie in Isny und Oberstenfeld, wo einbeinige ehemalige Soldaten etwas individueller auf Krücken abgebildet sind. Das Altersheim in Lorch wird anschaulich durch zwei alte, gebückte Menschen auf einem Bänkchen darstellt. Jugenderholungs- und Freizeiteinrichtungen zeigen fröhliche junge Menschen, lesend, singend, musizierend.
Die Motive des Plakats sind vielgestaltig. In seiner Gesamtkomposition will es nicht nur informieren, sondern auch aufrütteln, sensibel machen für Problemfelder, vor allem aber Hoffnung vermitteln, dass die geleistete und zu leistende Hilfe wiederaufzurichten vermag, was zerstört wurde.
Mit dem Plakat zielte das Evangelische Hilfswerk Württemberg darauf ab, seine Leistungen vorzustellen, um letztendlich Gelder zu akquirieren. In den ersten Jahren nach dem Krieg war der Bedarf an Mitteln für Notleidende enorm und die Werbung um Spenden machte einen Großteil der Arbeit des Hilfswerks aus.
Wer sich das Plakat und seine Motive genauer ansehen möchte, findet die ausführliche Darstellung auf wkgo.de.
Beitrag über das Hilfswerkplakat in Württembergische Kirchengeschichte Online
Beitrag über das Diakonische Werk Württemberg in Württembergische Kirchengeschichte Online
Bestände Diakonie im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart
Einzelne Bildbeispiele der Motive:
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Zerstörte Städte (Plakat links)
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Menschen (Plakat unten rechts)
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Flüchtlingslager
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Menschen (Plakat oben links)
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Kinderspeisung, Jugendfreizeit, Versehrtenheim, Siedlerausbildungsstätte
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Entlasslager
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Altersheim
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Plakat Gesamtansicht
25. August 2020 | Andreas Butz | Aktenfund, Jubiläum
Am 27. August 1770 und somit vor 250 Jahren wurde der Philosoph Georg Wilhelm Hegel (1770-1831) in Stuttgart im damaligen, heute noch vorhandenen Haus der Familie geboren. Er gilt als Hauptvertreter des sogenannten Deutschen Idealismus und sein Werk hatte eine erhebliche Wirkung auf andere Denker. Im Landeskirchlichen Archiv hat er einige Spuren hinterlassen. So wurde er etwa gleich einen Tag nach seiner Geburt in der Stiftskirche evangelisch getauft, was in einem Taufregister vermerkt wurde. Und er wurde an der Universität Tübingen zu einem württembergischen Pfarrer ausgebildet. Die philosophischen Studien waren eigentlich nur als Grundlagenteil seines Studiums gedacht, auch wenn sie für seinen besonderen Lebensweg zur Hauptsache wurden. Zum Abschluss seines Theologiestudiums hatte er jedenfalls eine Prüfung vor den Stuttgarter Konsistorialräten abzulegen. Auch der Bericht über dieses Examen ist noch vorhanden.
Der Eintrag für Hegels Taufe befindet sich im Taufregister der Stuttgarter Stiftskirche, das heute im Kirchenbucharchiv im Landeskirchlichen Archiv verwahrt wird. Die Taufe, die am 28. August stattfand, also einen Tag nach der Geburt, führte vermutlich der damalige Pfarrer Johann Christian Storr (1712-1773) durch. Von eindeutig späterer Hand wurde der Eintrag mit „der Philosoph!“ markiert. In der ersten Spalte sind die Namen des Täuflings, rechts daneben der Vater Georg Ludwig Hegel (1733-1799), Rent-Cammer-Secretarius, also Finanzbeamter, dann die Mutter Maria Magdalana Louise, geborene Fromm (1741-1783) genannt. Die Taufpaten waren: Magister Johann Friedrich Breyer (1738-1826), Professor der Philosophie in Erlangen, – ein Cousin des Vaters -, mit seiner Braut Johanna Wilhelmina Frost, der Tochter eines Regimentsrats, Ludwig Heinrich Riecke (1729-1787), erster Stadt- und Amtsphysicus, Johann Georg Enßlin (1703-1779), Kommerzienrat in Tübingen, – ein Großonkel -, Magister Christian Friedrich Göritz, Gymnasiallehrer, Justina Magdalena Glöckler, Witwe von Johann Christoph Glöckler, des gewesenen Prälaten von Anhausen, Eberhardina Friedrica Breyer, geborene Hegel, Rentkammer-Expeditionsratswitwe, eine Großtante Hegels und Mutter des erstgenannten Paten, Christina Katharina Günzler, Witwe des Oberamtmanns Amandus Günzler.
In welchem Verhältnis die einzelnen Paten zu den Eltern Hegels standen, wird teilweise durch die Familienverbindungen deutlich. Teilweise waren es vermutlich persönliche Freundschaften, die die Personen verbanden. Zwei der Paten hatten ein Theologiestudium in Tübingen durchlaufen, welches sie dann aber in andere Berufe führte. Dies leitet zum nächsten Fundstück über.
Ab 1788 studierte Hegel in Tübingen Theologie und erreichte 1790 zum Abschluss des Grundstudiums den akademischen Grad eines Magisters der Philosophie. Danach fing das eigentliche Theologiestudium an, wo Hegel vor allem die dogmatischen und exegetischen Vorlesungen von Gottlob Christian Storr (1746-1805) hörte, des Sohnes des Pfarrers, der ihn getauft hatte (siehe oben). Als herzoglicher Stipendiat lebte Hegel während seines Studiums im Evangelischen Stift. Zeitweise waren dort der spätere Dichter Hölderlin und der spätere Philosoph Schelling seine Stubengenossen. Schon vor seiner theologischen Abschlussprüfung, die am 20. September 1793 im Stuttgarter Konsistorium stattfand, war bereits klar, dass Hegel als „Hofmeister“ nach Bern gehen, also als Hauslehrer die Kinder einer wohlhabenden Familie unterrichten würde. Das Predigtamt lag ihm nicht. Seinem Antrag, früher zum Examen zugelassen zu werden, wurde stattgegeben. Deshalb wurde er bereits im September geprüft, während der Prüfungstermin seines Jahrgangs ansonsten drei Monate später lag (vgl. Beitrag über Hölderlin).
In einem der Testimonienbücher, welche die Zeugnisse der Konsistorialexamen und der Promotionen enthalten, ist Hegels Examen überliefert. Er gehörte zu den Besten seines Jahrgangs („Classe I“) und schloss sein Studium insgesamt als Viertbester („4.“) ab, was beides oben im Zeugnis vermerkt wurde. Die Prüfung im Konsistorium bestand in einer Predigt auf der Kanzel in der Stiftskirche, die ja auch seine Taufkirche gewesen war (siehe oben), von 15 Minuten, und in einer mündlichen Prüfung, die in lateinischer Sprache geführt wurde und die in den Räumen des Konsistoriums im Kanzleigebäude stattfand. Wie aus dem entsprechenden Bericht im Konsistorialprotokoll (LKAS, A 3, Nr. 62, 1793, S. 391) hervorgeht, waren neben ihm noch fünf andere Kandidaten zu diesem Termin eingeladen, nämlich die Pfarrer Ludwig Friedrich Le Prêtre (1748-1813) und Johann Christian Hintrager (1751-1826) sowie die Stipendiaten Christoph Ludwig Dobelmann (1756-1820), Johann Friedrich Schmoller (1760-1811) und Johann Gottlieb Helfferich (1760-1820). Wie man leicht erkennt, war Hegel bei weitem der Jüngste dieser zu Prüfenden. Zwei waren bereits als Pfarrer tätig. Vielleicht wurden bei diesem besonderen Termin außer der zeitlich vorgezogenen Prüfung für Hegel ansonsten Wiederholungsprüfungen durchgeführt. Die Prüfung fand als erster Punkt des freitäglichen Sitzungstages des Konsistoriums gleich morgens ab acht Uhr vor Konsistorialdirektor Karl Adolf Maximilian Ruoff, der von 1767-1788 weltlicher Konsistorialrat gewesen und dann zum Direktor aufgestiegen war, und den Konsistorialräten Georg Friedrich Griesinger (1734-1828), Ernst Urban Keller (1730-1812) und Johann Ernst Friedrich Bernhard (1722-1798) statt. Die jeweiligen Kandidaten erhielten eine Textstelle, über die sie predigen sollten, und hatten einige Zeit, um sich vorzubereiten. Hegel hatte seine Probepredigt, mit der die Prüfer nur einigermaßen zufrieden waren, über 1. Korinther 2,14 zu halten: „Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, denn es muss geistlich beurteilt werden.“
Hegels Abschlusszeugnis des Tübinger Stifts wurde im Testimonienbuch festgehalten und lautet mit deutscher Übersetzung:
Valetudo non constans (unbeständige Gesundheit), statura media (mittelgroßer Wuchs), eloquium haud gratum (keine bemerkenswerten rhetorischen Fähigkeiten), gestus pauci (zurückhaltende Gestikulationen), ingenium bonum (hervorragende geistige Anlagen), judicium excultum (gesundes Urteil), memoria tenax (sicheres Gedächtnis), scriptio lectu non difficilis (gut lesbarer Stil), mores recti (korrektes Verhalten), industria nonnumquam interrupta (gelegentlich nachlassender Fleiß), opes sufficientes (ausreichende physische Anlagen).
Studia theologica non neglexit (Erfolge in Theologie), orationem sacram non sine studio elaboravit, in recitanda non magnus orator visus (nicht ohne Eifer seine Predigerversuche, allerdings ist er kein großer Redner), philologiae non ignarus (gute philologische Kenntnisse), philosophia nullam operam impendit (keine Bemühungen in Philosophie)[!]
Das seltsame „nullam“ war ein Versehen des Schreibers. Offenbar hatte er das Wort vom Tübinger Stiftszeugnis falsch abgelesen. Mit dem heutigen Wissen um die große Bedeutung des Philosophen erscheint dies als ein geradezu komischer Fehler. Am Rand des Zeugnisses wurde denn das „nullam“ von späterer Hand auch in „multam“ korrigiert, also festgestellt, er habe ganz im Gegenteil natürlich sogar viel Mühe auf die Philosophie verwandt.
Hegel, der laut Konsistorialprotokoll das Examen insgesamt „zur Zufriedenheit“ bestanden hatte, wurde die Annahme seiner Hauslehrerstelle „unter der Bedingung gestattet, daß er sich fleißig im Predigen übe, woran es ihm noch sehr fehle, und jedem Ruf in sein Vaterland sofort Folge leiste“. Der begabte Absolvent hatte als Prediger nicht überzeugt, wie übrigens in seiner späteren Philosophenlaufbahn trotz seiner Berühmtheit auch nicht als Vortragender.
Quellen:
LKAS, Kirchenbucharchiv, Taufregister der Stiftskirche Stuttgart, 1765-72, Eintrag 28. August 1770, S. 304.
LKAS, A 13, Nr. 1, S. 389.
LKAS, A 3, Nr. 62, 1793, S. 391 (Bericht über den Prüfungstag im Konsistorialprotokoll)
Literatur:
Briefe von und an Hegel, Band IV, Teil 1. Dokumente und Materialien zur Biographie, Hrsg. von Friedhelm Nicolin, Hamburg 1977.
Hermann Ehmer, Das württembergische Konsistorium 1780-1795, In: Michael Franz (Hrsg.) „…an der Galeere der Theologie“?. Hölderlins, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, Bd. 23/3) Tübingen 2007, S. 263-283
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LKAS, A 13, Nr. 1. Testimonienbuch mit dem Eintrag bezüglich der Prüfung Hegels am 20. September 1793
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LKAS, Kirchenbucharchiv, Taufregister Stiftskirche Stuttgart (1665-1772), Eintrag 28. August 1770 für Georg Wilhelm Hegel
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Stiftskirche Stuttgart, 1818. Schauplatz von Hegels Taufe am 28.8.1770 und seiner theologischen Probepredigt am 20.9.1793.
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Die Alte Kanzlei, wo Hegels theologische Abschlussprüfung stattfand. Gustav Wais: Alt-Stuttgarts Bauten im Bild. 640 Bilder, darunter 2 farbige, mit stadtgeschichtlichen, baugeschichtlichen und kunstgeschichtlichen Erläuterungen. Stuttgart 1951, Nachdruck Frankfurt am Main 1977, Nr. 277.
24. August 2020 | Stefanie Palm | Quellenkunde
Am Morgen des 24. Dezember 1749 fand der Laichinger Pfarrer Matthias Friedrich Brecht einen anonymen Zettel an seine Tür geheftet. Der Inhalt des Zettels und das Vorgehen wurden peinlichst genau in den Kirchenkonventsprotokollen festgehalten.
„An den hochgehrtesten Herrn Pfarrer,
bitte Euch um Gottes Willen, Ihr wollt so gut sein, und dem gottlosen Sodom und Gomorrha abhelfen, dem schrecklichen, in des Jakob Röschen Haus; Es ist schrecklich gottlos: man spielt jede Nacht […] bis morgens! Gott erbarme sich. Ich habe selbst ein Kind dorthin gehen; ich bitte den hochgehrtesten Herrn Pfarrer, er wolle doch dem gottlosen Haus abhelfen, darf doch der ganze Ort um des Lasters Willen gestrafft werden. […]. Es gehen Buben dahin mit 14 Jahren, Schüler; auch Konfirmierte mit 15., 16. Jahren. In der heiligen Christnacht stehen sie auf um 12. Uhr. Sie spielen bis morgends, da man in die Kirche geht; das ist ja ein Greul vor Gott dem Allmächtigen.“
Mit diesem Zettel, so ist weiter vermerkt, begab sich Pfarrer Brecht umgehend zum Amtmann und hat dort Unterredung gepflegt wie die Sache anzugehen sei. Sie gingen am selben Abend noch zum Haus von Jakob Rösch – aber dort herrschte Ruhe in dieser Nacht.
Am nächsten Abend, dem 26.12., ging der Pfarrer mit seinem Sohn gegen 21 Uhr wieder dorthin. Der Pfarrer traf eine ganze Stube voll Männer und ledige Burschen an, die Kartenspiele lagen auf den Tischen. Wohl 30 Leute waren an drei Tischen versammelt.
So bald der Pfarrer sich zu erkennen gab, war alles auf, und wollte zur Tür hinaus – des Pfarrers Sohn aber stand dagegen und ließ keinen hinaus, darauf lief eine Gruppe der Kammer zu, und stieg zum Laden hinauf; da aber diese Sache zu langsam ging, brachen die Leute die Fenster samt den hölzernen Rahmen entzwei, und schlupften haufenweise zum zerbrochenen Fenster hinaus, bis auf einen, nämlich dem so genannten Haffner Stoffel.
Die beteiligten Personen wurden unterschiedlich abgestraft: je nachdem, ob sie Karten gespielt oder gewürfelt hatten, bzw. nur als Zuschauer anwesend gewesen waren. Der ganze Vorgang wurde nach der Predigt im Gottesdienst „publice“ (öffentlich) gemacht. Jakob Rösch wurde mitgeteilt, dass der Bericht über ihn noch nicht an das gemeinschaftliche Oberamt geschickt wurde, weil man sehen wolle, ob er sich nicht bessern werde.
(Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 24. und 29.12.1749)
Jakob Rösch wurde wegen der Sache vor das Gremium zitiert. Weil er bisher in seinem Haus kein Glücksspiel und andere dergleichen ärgerliche Dinge zugelassen hatte, kam er nur ins Zuchthaus. „Gebessert“ hat er sich nicht, wie spätere Eintragungen zeigen – dabei war seine Frau Anna Katharina die Tochter des Heiligenpflegers.
(Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 27.2.1750)
Hier war so gut wie alles, was nicht erlaubt war, versammelt – eine illegale Spielhölle in einem Privathaus am 2. Weihnachtfeiertag. Und am Ende stolpern alle zum Fenster hinaus und dabei bricht auch noch das Fenster aus der Wand. Nur der Haffner Stoffel schafft es nicht nach draußen. Die Liste der Unfug-Treibenden war bei 30 Beteiligten entsprechend lang. Zu vermuten bleibt, dass auch der Spaß, den die Beteiligten hatten, entsprechend groß war. Sprich, dass die riskierte Strafe einschätzbar und vielleicht auch einkalkuliert war. Denn dass eine solche Spielhölle unbemerkt bleiben würde, war nicht zu erwarten. Aber weiter nach oben, also an das Oberamt, sollte die Sache auch nicht gehen. Man regelte die Dinge gerne unter sich im Dorf.
Ein Blick in die Protokolle alleine reicht für ein Bild nicht aus. Sie geben jedoch Einblicke in die Arbeit der Richter und die Lebenssituationen der Gemeindeglieder. Dabei entsteht durchaus kein Abbild des Alltags, aber die Protokolle ermöglichen Ansichten des Alltags auf dem Land im 18. Jahrhundert. Sie gewähren Einblick in zwischenmenschliche, familiäre und dörfliche Konflikte und den Umgang mit diesen. Nicht zuletzt hat jeder Kirchenkonvent seine ganz eigene Geschichte, seine ganz eigenen Umstände.
Beitragsbild: LKAS, PfA Laichingen, B 75 (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 27.2.1750)
Bitte beachten Sie auch hier die Einführung in die Serie, sowie den quellenkundlichen Beitrag zu den Kirchenkonventsprotokollen auf der Homepage des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart.
23. August 2020 | Andrea Kittel | Jubiläum
Heute vor 75 Jahren wurde das Evangelische Hilfswerk gegründet. Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 endete in Deutschland der Zweite Weltkrieg. Das Land, das zuvor Völkermord und Zerstörung über Europa gebracht hat, lag in Trümmern. Traumatisierte und versehrte Menschen, Kriegswaisen, Heimatlose, Geflüchtete und Vertriebene benötigten Lebensmittel und Kleidung sowie eine erste Unterkunft.
Um akute Nothilfe zu leisten, gründete die Evangelische Kirche in Deutschland am 23. August 1945 auf ihrer Konferenz in Treysa das Evangelische Hilfswerk mit Hauptsitz in Stuttgart. Die einzelnen Landeskirchen richteten eigene Geschäftsstellen ein, um über die regionalen kirchlichen Strukturen effektiv Hilfe leisten zu können. Landesweit wurden Bezirksverantwortliche berufen und Bezirksbüros aufgebaut. Auch in Württemberg entstanden so örtliche Kleiderkammern, Suppenküchen, Lebensmittelausgaben und Beratungsstellen – die Vorläufer der heutigen Diakonischen Bezirksstellen. Daneben errichtete das Hilfswerk Notaufnahmelager für Flüchtlinge und gründete verschiedene Heimeinrichtungen und Aufbaugilden.
Das Evangelische Hilfswerk wirkt heute als Diakonisches Werk weiter.
Das Landeskirchliche Archiv wird sich ab 15. September bis zum Jahresende in einer Blog-Serie anhand von Quellen, Objekten, Fotos und Plakaten mit dem Thema Nachkriegszeit beschäftigen, vieles davon aus dem Bestand des Diakonischen Werks bzw. des Hilfswerks, das sich in unserem Archiv befindet.
Beitrag über das Diakonische Werk Württemberg auf Württembergische Kirchengeschichte Online.
Beitragsbild: Plakat, gezeichnet von Curt Zeh, 1948 (Ausschnitt)
21. August 2020 | Stefanie Palm | Quellenkunde
Weitaus mehr als nur die Anklage wegen Kindesmisshandlung steht hinter einem tragischen Fall von 1742. Johannes Schwenk klagte zusammen mit seiner Tochter Barbara gegen deren Ehemann, den Kaufmann Georg Friedrich Schnitzer. Der Angeklagte hatte dem gemeinsamen Kind, geboren am 18.10.1741, während es krank war, kalte Milch zu Trinken gegeben und seine Kleidung nass gemacht. Nachdem ihn seine Schwiegermutter dafür gescholten hatte, beleidigte er sie als eine „krumme Scheißmaul“, zog seinen Degen und wollte sie damit verletzen. (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 9.5.1742).
Der Kirchenkonvent befürchtete, dass Georg Friedrich Schnitzer seiner Frau und dem Kind etwas anhaben könnte. Da Lebensgefahr („periculus in mora“) bestand, wurde ihrem Vater, dem Rößle-Wirt Johannes Schenk-Edel, erlaubt, sie und das Kind für acht Tage zu sich ins Haus zu nehmen. Barbara Schnitzer wurde befragt, wie ihr Sinn bei diesen und anderen unerträglichen viehischen Aufführungen ihres Mannes sei? Sie meinte dazu, dass sie an Leib und Seele zugrunde gehe. Sie halte ihren Mann für „incorigibel“ (unverbesserlich) und wünsche die Scheidung. Georg Fridrich Schnitzer sagte aus, dass er alles nur als Spaß getan und es nicht böse gemeint habe. Er wolle sich bessern und freundlich mit seiner Ehefrau umgehen. Das Ehepaar wurde vom Kirchenkonvent zum Frieden ermahnt und ihnen Gottes Gnade und Segen mitgegeben. Sollte Georg Friedrich Schnitzer weiter auf seinem „Unsinn“ beharren, drohte man ihm mit der Weiterleitung an höhere Stelle.
Als Marginale ist vermerkt, dass der Vater dem Kind Schnupftabak in die Nase gestopft und gedroht hatte, es in die Hüle (den Dorfteich) zu werfen oder in die kalte Kammer zu legen. Ebenfalls vermerkt ist dort, dass Amtmann und Pfarrer den Vater schon vor einem halben Jahr verwarnt hatten. Die gemeinsame Tochter Angelica verstarb im Haus der Großeltern am 11.5.1742 mit gerade acht Monaten.
Für den Kirchenkonvent schien damit der Fall zunächst erledigt gewesen zu sein. Er hatte seine Pflicht getan, indem er die Parteien zum Frieden ermahnt hatte. Genügend Gründe, um ein Scheidungsverfahren einzuleiten, lagen nicht vor. Sechs Jahre später, nachdem Georg Friedrich Schnitzer dann auch noch seine Magd geschwängert hatte (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 13.2.1742, 14.2.1748: Schwangerschaft der Magd Angelica Moll) und eine versuchte Vergewaltigung vorlag (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 9.5.1742: Versuchte Vergewaltigung der Maria Bainer im Haus des Delinquenten), waren genügend Gründe gegeben und der Kirchenkonvent in Laichingen schaltete höhere Stellen ein. Das Ehegericht in Stuttgart beschäftigte sich dann mit dem Fall.
Die Scheidung muss Ende 1748 oder Anfang 1749 stattgefunden haben, da Anna Barbara Schwenk-Edel 1749 in zweiter Ehe den Metzger, Kaufmann und Krämer Leonard Hetzler heiratete. Aus dieser Ehe gingen sieben Töchter hervor, von denen aber nur zwei das erwachsene Alter erreichten und heiraten.
(Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Pfarrarchiv Laichingen, Nr. 185.)
Beitragsbild: Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 9.5.1742.
19. August 2020 | Dorothea Besch | Bestand, Fotografie
In unserem Archiv werden nicht nur Akten, sondern auch Plakate aufbewahrt. Im umfangreichen Bestand des Diakonischen Werks Württemberg, das dieses Jahr sein 50-jähriges Jubiläum feiert, befinden sich 182 Plakate, deren Verzeichnung nun abgeschlossen ist. Die Plakate erzählen in bildhafter Gestaltung von den Arbeits- und Aufgabengebieten der Inneren Mission und des Evangelischen Hilfswerks, die sich 1970 zum Diakonischen Werk Württemberg zusammengeschlossen haben. Die frühesten Plakate der beiden Institutionen, die sich bei uns befinden, stammen von 1947, das neueste von 2013. Ein wahrer Bilderschatz, der gesellschaftliche Entwicklungen und Notstände deutlich macht.
Zur Vertiefung: Beitrag über das Diakonische Werk Württemberg auf Württembergische Kirchengeschichte Online.
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Mitarbeiter beim Fotografieren
17. August 2020 | Stefanie Palm | Quellenkunde

Kartenspiel, um 1920. Landeskirchliches Archiv, Museale Sammlung
Durch „schlechtes Hausen“ und „Uneinigkeit im Hauswesen“, das oft mit Verschwendung, Müßiggang und Alkoholismus verbunden war, sah sich die Obrigkeit aus wirtschaftlichen Gründen zum Einschreiten gezwungen. Nicht, dass die Trinkenden und Streitenden irgendwann nicht mehr genug arbeiten konnten und Geld aus der Gemeindekasse wollten. An dieser Schnittstelle verbanden sich obrigkeitliche Interessen und die Nöte der Ehepartner, besonders oft der Ehefrauen.
Ein Fall aus dem Kirchenkonventsprotokoll des Albdorfs Laichingen mag beispielhaft die Thematik illustrieren. Nicht durch die geschlagene Ehefrau, sondern den Pfarrer Friedrich Ernst I. Perrenon kam es 1783, noch am Tag des Vorfalls (einem Sonntag!), zur Anklage gegen Jakob Hirsch. Er hatte auf der Straße beim Pfarrhaus seine Ehefrau mit einem Stecken auf den Rücken, auf den Kopf und ins Gesicht geschlagen. Sie blutete an der Schläfe. Wenn nicht ein Mann ihn von weiteren Schlägen abgehalten hätte, hätte er seine Frau wohl zu Tode geschlagen. Er wurde zum Pfarrer gebracht, Zeugen und seine Ehefrau wurden verhört. Er gab an, dass er „sein Weib auf diesem Platz oder zu Haus todschlagen“ wolle. Für die Körperverletzung musste Jakob Hirsch drei Tage bei Wasser und Brot und einer warmen Mahlzeit am Tag in das Gefängnis. Gleich zu Anfang der Verhandlung wurde erwähnt, dass der Angeklagte vor einem Jahr wegen „spielens sauffens und gehabter Händel“ einen halben Tag in den Dorfarrest musste. Er hatte kein Geld gehabt, um die Strafe zu bezahlen.
Viele Fragen bleiben offen. Zum einen, ob es ohne die Anwesenheit des Pfarrers zu einer Anklage gekommen wäre, ob die Sache überhaupt den Kirchenkonvent erreicht hätte. Oder ob hier durch das Schlagen der Frau auf offener Straße eine Grenze überschritten worden war ? Zum andern tritt die Schutzlosigkeit der Ehefrau zu Tage sowie das Unvermögen – und vielleicht auch der Unwille – des Kirchenkonvents, ihr Schutz zu gewähren.
Quelle: Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1782-1792, 4.10.1783
14. August 2020 | Stefanie Palm | Bestand, Quellenkunde
Die Ehe war ein zentraler Ordnungsfaktor der Gesellschaft und von oben geregelt. Dabei war festgelegt, ab welchem Alter geheiratet werden durfte, welche Zustimmungen nötig waren und welche Vermögensverhältnisse vorliegen mussten. Ehen sollten nach Ansicht der Gemeinden nur dann geschlossen werden, wenn die Begründung eines einigermaßen soliden Hausstandes gewährleistet schien, also die Eltern die zu erwartenden Kinder selbst versorgen konnten. Durch die Eheschließung und die Gründung eines eigenen Hausstandes (status oeconomicus) wurde der Mensch der Frühen Neuzeit erst zum vollen Mitglied der Gesellschaft. Knechte und Mägde waren außen vor.
Seit der Reformation wurde die Ehe in den protestantischen Gebieten eine weltliche Sache – mit kirchlichem Segen. Vor allem auf dem Land betrachtete die Bevölkerung im 17. und zum Teil noch im 18. Jahrhundert die Verlobung als konstituierendes Element für eine eheliche Hausgemeinschaft. Innerhalb bestimmter Verhaltensregeln erlaubten die Gemeinschaften den Beischlaf der Verlobten, was im Gegensatz zur obrigkeitlichen Auffassung stand. Eine Eheschließung war immer eine das gesamte Dorf betreffende Angelegenheit, da eine Verbindung sowohl ökonomisch als auch hinsichtlich des Standes „passen“ musste. Männer mussten mindestens 25 sein und insgesamt musste ein bestimmtes Vermögen vorliegen. Waren diese Voraussetzungen gegeben und fanden die Treffen der Versprochenen in der Öffentlichkeit statt, wie zum Beispiel in den sogenannten Lichtstuben (Treffen zum Handarbeiten im Winter in einer beleuchteten Stube im Dorf), erlaubten die dörflichen Normen auch Sexualität, wie anhand des Albdorfs Laichingen festgestellt werden konnte. Wurden diese Regeln nicht eingehalten oder entzog sich im Fall der Schwangerschaft der Mann seinen Verpflichtungen, schritt das kirchliche Sittengericht ein. Aber man konnte manche Tatsachen auch für sich nutzen – eine nicht-eheliche Schwangerschaft schuf für einige Paare die Möglichkeit, ohne Vermögen eine Heiratserlaubnis zu erzwingen.
„Elisabeth, Melchior Riecken Filia at: 24: annorum bekennt, daß sie sich schwanger befinde seit 13 Wochen, und zwar von Jakob Uffrechten. […] at: 26 ann. Jakob Uffrecht gestand dies und gab weiter an, dass er ihr die Ehe versprochen habe und sie auch behalten wollte.“
Die Eltern der zum Zeitpunkt der Schwangerschaft 24-jährigen Elisabeth verfügten über keinerlei Vermögen. Hingegen waren die Vermögensverhältnisse der Eltern des werdenden Vaters günstiger, doch wollten diese vor ihrem Tod nichts davon abgeben. Das Paar heiratete am 7.8.1742 und bekam in den folgenden Jahren insgesamt zehn Kinder, von denen aber nur fünf die Kindheit überlebten. Vermutlich bedingt durch die ökonomischen Verhältnisse der Familie war die Eheschließung von dreien der Töchter ebenfalls erschwert, so dass sie ledig Mütter wurden. Ihre Kinder verstarben jedoch. (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1738-1754, 4.5.1742)
Die entsprechenden Fälle in den Protokollen des Laichinger Kirchenkonvents erwecken den Eindruck, dass uneheliche Schwangerschaften ohne großes Aufheben abgehandelt wurden. Auch auf Seiten der Richter war man sich darüber im Klaren, dass solche Schwangerschaften nicht zu unterbinden waren. Vor allem Frauen nutzten den Kirchenkonvent, um ihre Interessen zu wahren. Leider wurde dieser Spielraum ab dem Ende des 18. Jahrhunderts immer enger bzw. durch den Pietismus sehr moralisiert und entmenschlicht.
Siehe hier die Einführung in die Serie über die Kirchenkonventsprotokolle.
Beitragsbild: Spinnstube. Autor unbekannt – Otto von Reinsberg-Düringsfeld: Das festliche Jahr in Sitten, Gebräuchen und Festen der germanischen Völker. Mit gegen 130 in den Text gedruckten Illustrationen, vielen Tonbildern u. s. w. Spamer, Leipzig 1863. Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: Germ.g. 390 w
10. August 2020 | Stefanie Palm | Bestand
Wenn die gesetzte Ordnung prinzipiell in Frage gestellt wurde bzw. das Thema der Ehre ins Spiel kam, war mit den Richtern nicht zu spaßen. Fluchen/Schwören waren damals Gottes- und Obrigkeitslästerung. Klagen wegen angeblicher Hexerei, Diebstahl, Schimpfwörtern und falschen Gerüchten betrafen die Ehre. Da wurde der Kirchenkonvent als Instanz zur Wiederherstellung der Ehre genutzt.
In der Frühen Neuzeit wurde die Ehre einer Person und seine Stellung innerhalb der Gesellschaft durch Herkunft, Vermögen und Leumund festgelegt. So entstand eine Form des sozialen Kapitals, das gerade für Frauen eine spezifische Bedeutung im Bereich der Sexualität bekam. Durch die familiäre Einbindung jeder Frau waren auch die übrigen Familienmitglieder, also auch die Ehemänner, betroffen. Wie aus der Sichtung der Protokolle erkennbar ist, kam es nicht selten vor, dass Frauen von Angehörigen ihres eigenen Geschlechts der Hexerei, des schlechten Umgangs, der Liederlichkeit bezichtigt und mit Schimpfwörtern wie Hure belegt. Dahinter steckte wohl oft Neid: ein Mechanismus, der bis in die Gegenwart anhält.
Die Kirchenkonvente gingen solchen Anschuldigungen nach und befragten Zeugen, um ein genaues Bild der jeweiligen Angelegenheit zu gewinnen. Sie versuchten vor allem im Fall des Vorwurfs der Hexerei, den Vorwurf zu entkräften und als böses Geschwätz zu enttarnen. Es ging darum, deutlich zu machen, dass es keine Hexerei gibt und damit auch keine Hexen. Ziel der Bestrafung war immer die Versöhnung der Parteien, um den Frieden wiederherzustellen. Bestraft wurde mit öffentlichen Widerrufen und Entschuldigungen, Geld- und Gefängnisstrafen und im Fall von übler Nachrede mit „auf das eigene Maul schlagen“.
Am 14. März 1731 wurde Anna Maria Hiller wegen der Untersuchung einer Verleumdungsangelegenheit vor den Konvent gerufen. Sie hatte angegeben, dass Appolonia Clauß überall behauptete, dass die Katze des Ehepaars Hiller ihnen von Laichingen bis über Ulm hinaus gefolgt sei. Daher wurde Anna Maria Hiller vor den Kirchenkonvent in Laichingen zitiert. Anna Maria Hillers Zeuge, Walter Franck, belastete jedoch Appolonia Clauß und ihre Schwester Margaretha Koch schwer. Am Ende gestand Margaretha Koch, die Geschichte erfunden zu haben. Margaretha Koch bekam folgende Strafe: sie soll 3-mal um den „Trill“ (Drehkreuz am Dorfeingang) geführt werden, eine viertel Stunde dabei stehen bleiben, und als dann bis auf den Abend in das Zuchthäußle (Dorfarrest) gelegt werden. Sie musste Anna Maria Hiller die Hand geben, sich selbst auf den Mund schlagen, und Anna Maria Hiller vor dem ganzen Kirchenkonvent für ehrlich bezeugen (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1726-1730, 14.3.1731).
Beitragsbild: Verhandlung über Anna Maria Hiller vor dem Kirchenkonvent in Laichingen am 14.3.1731.
Siehe hier die Einführung in die Serie über die Kirchenkonventsprotokolle.
6. August 2020 | Konstanze Grutschnig | Restaurierung
Wenn es im Archiv gebrannt hat oder Wasser im Magazin steht, muss schnell gehandelt werden. Nachdem die Feuerwehr den Brand gelöscht oder das Wasser abgepumpt hat, müssen alle Materialien aus den betroffenen Magazinen geräumt werden. Zu den Sammlungen im landeskirchlichen Archiv und der Landeskirchlichen Zentralbibliothek gehören nicht nur Akten, Bücher, Fotos oder Filme, sondern auch Gemälde, Paramente oder liturgische Geräte. Das bedeutet: im Notfall müssen Objekte aus Papier, Pergament, Leder, Filmmaterial, Glas, Stoff und Metall materialgerecht verpackt, transportiert und ggf. getrocknet werden. Damit in der Aufregung alle Mitarbeiter wissen, wie mit den verschiedenen Objekten umgegangen werden muss, hat der Notfallverbund Stuttgart diesen Quickguide für die Hosentasche erstellt. Wir sind nun vorbereitet – hoffen aber, dass der Notfall nicht eintritt …
3. August 2020 | Stefanie Palm | Quellenkunde
Eine Magd, die in der Kirche einer anderen Frau ins Gesicht schlägt. Ein Mann, der seine Frau auf offener Straße mit einem Stecken auf den Kopf prügelt. Und ein anderer, dessen Haus sich am zweiten Weihnachtsfeiertag in eine Spielhölle verwandelt. Sie alle mussten vor fast 400 Jahren vor den Richter treten. Ihre Geschichten finden sich in den Laichinger Kirchenkonventsprotokollen. Sie werfen Schlaglichter auf das Leben der Menschen Württembergs in der frühen Neuzeit – als ob wir alte Fotos in den Händen halten und versuchen, etwas aus den Aufnahmen herauszulesen.
Beim Lesen der alten historischen Quellen, ist es hilfreich, den Kontext zu kennen, der den Hintergrund für die Entstehung bildet. Den wichtigsten Rahmen für die Frühe Neuzeit bildet die Einheit von Kirche und Staat, von geistlichem und weltlichem Bereich. Ein Teil der „guten Policey“ waren die 1642 eingerichteten Kirchenkonvente. Sie sollten ein „gutes“ Zusammenleben aller „richten“. Es ging dabei um den „gemeinen Nutzen“ aller, denn nur durch diese gute Ordnung sind alle vor dem Zorn Gottes und seiner Strafe geschützt. Vergehen mussten angezeigt und vor aller Augen öffentlich abgebüßt werden.
Dass die Obrigkeit trotzdem die Realitäten wahrnahm und keineswegs davon ausging, dass sämtliche Verordnungen, Reskripte, Erlasse und Gesetze treu befolgt wurden, ist mittlerweile bekannt. Ebenso wenig ist Gesetzgebung ein Akt, der nur von oben nach unten vollzogen wird. Gesetze, Normen stoßen immer auf Resonanz und diese wird zurückgeworfen.
Doch nicht nur die Obrigkeit war an einer guten Ordnung interessiert. Prinzipiell war dem „gemeinen Mann“, dem Untertan, ebenfalls daran gelegen, dass Regeln eingehalten wurden. Das eigene Verhalten wurde durch die Furcht vor einer Bestrafung konditioniert. Nur über die genauen Inhalte des Verhaltenskataloges war man sich je nach Stand und individuellen Lebensumständen uneins.
Und wer hat nun wen gerichtet?
Der Vorsitzende des Kirchenkonvents war der jeweilige Pfarrer. Zudem waren der Amtmann (Schultheiß), der Heiligenpfleger (Kirchenpfleger) und mindestens zwei Ratsmitglieder feste Mitglieder dieses lokalen Gerichts. Bei der Strafbemessung sollten die jeweiligen Lebensumstände berücksichtigt werden.
Und über was wurde gerichtet beziehungsweise berichtet?
Schauen wir uns ein paar Seiten aus den Laichinger Protokollen des 18. Jahrhunderts an und machen uns selbst ein Bild: Laichingen war ein Marktflecken auf der mittleren Schwäbischen Alb. Das Vermögen der Pfarrei war erheblich – sie gehörte zu den reichsten im Herzogtum Württemberg. Bekannt war der Flecken für seine Leinenweberei.
Zunächst werfen wir den Blick auf sogenannten „Unfug“, der von Jugendlichen, meist jungen Männern, an Sonn- und Feiertagen begangen wurde.
Unfug gab und gibt es immer. Im 18. Jahrhundert zählten dazu Karten- und Würfelspiele, Alkoholkonsum, Kegeln, Lärmen, Schlittenfahren sowie die Nichtbeachtung der für die Gasthäuser festgelegten Sperrstunde. Zum Teil war der Unfug an Werktagen erlaubt, aber ausdrücklich nicht am Sonntag, insbesondere nicht während oder im Gottesdienst. So konnte eine lustige Schlittenfahrt mit Gejohle aus dem Nachbarort zurück nach Laichingen mit einer Geldstrafe sanktioniert werden. Zwei junge Burschen und ein junges Mädchen kostete dies im März 1757 jeweils 53 Kreuzer (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1754-1764, 3.3.1757).
Ebenfalls 1757 waren drei junge Burschen ohne Erlaubnis des Pfarrers am Sonntag nach Machtolsheim gegangen und verübten allda „mit trinken, jollen, händeln […] großen unfug“. Die Strafe folgte umgehend. Sie mussten jeweils eine Geldstrafe von einem halben Pfund Heller in die Gemeindekasse einzahlen. Der Strafe fiel hier höher als bei der Schlittenfahrt aus, – vermutlich da auch noch Alkohol und Streit eine Rolle spielten.
Völlig unpassend erschien die kleine Frauenschlägerei in der Kirchenbank der Laichinger Dorfkiche St. Alban zwischen den Gottesdienstbesucherinnen Barbara Koch und Appollonia Bohnacker. Barbara Koch klagte, ihre Kontrahentin habe sie im Sonntagsgottesdienst so ins Gesicht geschlagen, „daß sie aus dem Maul geblutet habe“. Appollonia Bohnacker wurde für dieses Vergehen mit zwei Tagen Zuchthaus (dörflicher Arrest) bestraft. Da sie eine arme Magd ohne jeglichen Besitz war, hatte sie nicht die Möglichkeit, stattdessen eine Geldstrafe zu entrichten. Leider geht aus dem Protokoll nicht hervor, aus welchem Grund sich die beiden Frauen gestritten hatten. Und: Wählte Appollonia, die „guten Wandels, aber arm“ war, die große Bühne der Kirche womöglich sogar bewusst? Was für eine Geschichte sich hinter dem kurzen Eintrag verbirgt – wir werden es nie erfahren (Kirchenkonventsprotokolle Laichingen 1754-1764, 16.1.1757).
Weitere quellenkundliche Aspekte der Kirchenkonventsprotokolle folgen in den kommenden Wochen auf diesem Blog.
Hinweis auf die Quellenkunde auf der Homepage des Landeskirchlichen Archivs: Kirchenkonventsprotokolle von Bertram Fink.
Die Verfasserin hat als Abschlussarbeit ihres Geschichtsstudiums eine umfangreichere Arbeit zu dem Thema verfasst.
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Blick auf Laichingen um etwa 1900 vom Wasserhäusle. Fotograf: Adolf Palm
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Blick in die Schulstraße in Laichingen. Um 1900. Fotograf: Adolf Palm
29. Juli 2020 | Sabine Tomas | Aktenfund, Kunstgeschichte
Woran denken Sie, wenn Sie das Wort Bauarbeiter hören? Möglicherweise denken Sie an die berühmte Fotographie „Mittagspause auf einem Wolkenkratzer“ aus dem Jahr 1932, die elf Männer zeigt, die auf einem Stahlträger sitzend, ihre Mittagspause abhalten, unter ihnen die Straßen von New York. Vielleicht kommen Ihnen aber auch Bilder von einerseits muskulösen, oberkörperfreien jungen Männern in den Kopf, die in der Sonne ihre Muskeln spielen lassen – oder im Gegenteil beleibte ältere Herren, die nichts anderes tun, als Kaffeepause zu machen, Frauen hinterher zu pfeifen und hin und wieder ihr „Bauarbeiter-Dekolleté“ sehen zu lassen. Dies alles sind Bilder, die uns unsere kulturelle Erziehung mitgegeben hat – und die nichts weiter sind als bloße Klischees unserer Gesellschaft. Wer beispielsweise als SteinmetzIn an der Restaurierung und Erhaltung eines Bauwerks wie des Ulmer Münsters beteiligt ist, braucht viel mehr als bloße Muskelkraft – er/sie braucht Fingerspitzengefühl, ein gutes Auge für Details und künstlerische Begabung. Dass nicht nur der/die BaumeisterIn, sondern auch sein/e/ihr/e WerkmeisterIn, sein/e/ihr/e VorarbeiterInnen und PolierInnen und damit alle Mitglieder einer Bauhütte, die durch diese Berufsgruppen repräsentiert werden, diese Eigenschaften besitzen, zeigen die vielen überlieferten Bautagebücher, Notizhefte und Skizzenbücher aus dem 19. und 20. Jahrhundert des Archivbestands der Ulmer Münsterbauhütte. Detaillierte Skizzen und Zeichnungen von Fialen, Spitzbögen und anderer architektonischer Objekte zeugen von Werktreue, Leidenschaft und hohem künstlerischen Anspruch. Diese Bücher vermitteln uns einen Eindruck von den Menschen, die ihr berufliches Leben der Erhaltung des Ulmer Münsters gewidmet haben und vermitteln ein ganz anderes Bild, als es die gängigen Klischees über im Bauwesen beschäftigte Arbeitnehmer heute tun.
27. Juli 2020 | Uwe Heizmann | Genealogie, Kurioses
In einem Totenregister von Willmandingen (Sonnenbühl, Lkr. Reutlingen) ist unter dem 10. Dezember 1670 der Begräbniseintrag des Schulmeisters Hans Meckh (Meekh, Möck, Mäck) zu finden. Neben den üblichen Angaben sind außerdem biografische Informationen vermerkt. Aus diesem geht hervor, dass der Schulmeister wegen Krieg und Hunger seinen Heimatort verlassen und sich über zehn Jahre an anderen Orten verdingen musste:
„Den 10. 10bris ist ehrlich mit dem Gesang der Schuler zur Erden bestattet worden unser alter Schulmeister Hans Meekh, welcher 75 Jahr alt worden, vor der Nördlinger Schlacht 14 Jahr Schulmeister gewesen der Krieg und Hunger hat ihn auch hinweg gebracht, da er sich dann zu Lindau am Bodensee als ein Quardirknecht 5 Jahr brauchen laßen, und umb Memingen in der Statt und in Dörfern bey 5 Jahr gewesen. Nach dem Friedenschluß anno 1648 ist er wider gekommen und abermal 18 Jahr Schulmeister mit Lob gewesen, 5 Jahr lang wegen Alters den Dienst nit versehen können, vom Heiligen [= Kirchenvermögen] hat man ihme von den letsten Wochen im Monat Octobri 1669 an, wochentlich 6 Kreuzer auf Vogt und Specials Bewilligung durch mich, Ambtmann und Gericht gemacht und geraicht worden.“
Die Nördlinger Schlacht war eine entscheidende Schlacht während des Dreißigjährigen Krieges am 5. und 6. September 1634 bei Nördlingen im heutigen Bayern, die von protestantischer Seite, Schweden und Verbündete, verloren wurde und die weitreichende Folgen hatte. Der württembergische Herzog Eberhard III. floh nach Straßburg. Große Teile des Herzogtums wurden von katholisch-kaiserlichen Truppen besetzt, ganze Landstriche geplündert und verwüstet. Kaiser Ferdinand II. verschenkte große Gebiete Württembergs an Verwandte und Verbündete. Erst durch den Westfälischen Frieden 1648 erhielt der Herzog das Herzogtum zurück.
Als Schulmeister wurde Meckh bei den alljährigen Visitationen neben dem Pfarrer ebenfalls geprüft, so dass weitere Informationen zu ihm in den für das 17. Jahrhundert nur lückenhaft überlieferten Visitationsprotokollen zu finden sind. Im Protokoll für den 9. Mai 1654 wird über ihn und seinen Schuldienst berichtet:
„Vor dißem [Schuldienst] diese Schul versehen 14 Jahr lang, und an jetzt nachdem Willmandingen wider auß oesterreichischer Hand liberirt worden in die 7 Jahr. Ist bey fürstlicher Cantzley examinirt und confirmirt worden. Vergangenen Winter Schul gehalten, Knaben gehabt 21, Mägdtlin 6. Versihet neben der Schul auch die Mesnerey.
Testimonium Ludimoderatoris: Hat ein gut Lob seines Verhaltens halber. Sey vleissig mit den Schulkinder, lehr sie wol, wie er dan Kinder solle haben, die in die 20 und 30 Psalmen außwendig sollen können her sagen. So warte er auch vleissig der Mesnerey ab, also das niemandt uberal an ihme habe etwas zu klagen.“
Die Visitationsprotokolle für 1656 und 1658 bis 1661 äußern sich ähnlich positiv. Auch seine kriegsbedingte Abwesenheit wird mehrfach erwähnt. Aus den Protokollen geht außerdem hervor, dass er keine eigenen Kinder hatte. Das Protokoll für 1667 ist das letzte, in dem Meckh erwähnt wird. Dort heißt es:
„Hatt seinen Officio nach Vermögen abgestattet, ist hierüber erkranckhet, und würdt wegen hohen Alters die Schul nicht mehr versehen kenden.“
Hans Meckh war also von 1620 bis 1634 und von 1648 bis 1667 Schulmeister in Willmandingen. In den 14 Jahre dazwischen war er kriegsbedingt nicht in Willmandingen. In seinem Begräbniseintrag findet man Informationen darüber, wo er sich ca. zehn Jahre aufhielt, für die restliche Zeit liegen keine Informationen vor. Er wird vermutlich, wie andere durch den Krieg Vertriebene, auf der Suche nach Arbeit, Nahrung und Obdach durchs Land gezogen sein, immer auf der Hut vor marodierenden Söldner.
Aufgrund der Altersangaben in seinem Begräbniseintrag und in den Visitationsprotokollen kann seine Geburt auf das Jahr 1595 eingegrenzt werden. Da die Kirchenbücher von Willmandingen jedoch erst ab 1641 überliefert sind, kann sein genaues Geburts- oder zumindest das Taufdatum leider nicht festgestellt werden.
Quellen
KB Willmandingen, Mischbuch 1641-1807, Totenregister 1647-1728, ohne Seitenzählung
Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 281, Bü. 1026, II, Bl. 13v (Visitationsprotokoll 1654)
Landeskirchliches Archiv Stuttgart (LKAS), A 1, Nr. 20, Bl. 284r (VP 1656)
LKAS, A 1, Nr. 22, Bl. 339v (VP 1658)
LKAS, A 1, Nr. 23, Bl. 349v (VP 1659)
LKAS, A 1, Nr. 24, Bl. 349v (VP 1660)
LKAS, A 1, Nr. 25, Bl. 363v (VP 1661)
LKAS, A 1, Nr. 27, Bl. 367r (VP 1667)
23. Juli 2020 | Andreas Butz | Kunstgeschichte, Veröffentlichung
Der kleine überarbeitete Kirchenführer durch die Stadtkirche St. Georg zu Weikersheim liefert neue Erkenntnisse sowohl zu ihrer Vorgängerkirche und Baugeschichte als auch ihren Ausstattungsstücken. Im ersten Teil werden die Quellen, die für die Entscheidungen über einen Neubau relevant sind, ausgewertet und in die heutige Sprache umgesetzt. Im zweiten Teil wird die vielschichtige Entwicklung von der einst einfachen romanischen Kirche bis zur heutigen Stadtkirche mit ihrem wohl gelungenen Stilpluralismus dargestellt und kann lebendig nachvollzogen werden. Innenraum und Außenbau des Kirchengebäudes erschließen sich durch präzise Beschreibungen und anhand ausgewählter Betrachtungen, die alle historisch, kunsthistorisch oder kulturhistorisch interessierten Besucherinnen und Besucher in die jeweilige Stilepoche der jeweiligen Kunstobjekte eintauchen lassen. Zahlreiches Anschauungsmaterial dient als lebendige Begleitung des Fließtextes, der nicht zuletzt von der geistlichen Botschaft des Sakralgebäudes im christlichen Abendland zeugt.
Die Autoren sind Dr. Anette Pelizaeus M.A., Kunsthistorikerin und Inventarisatorin im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart und Günter Breitenbacher, Studiendirektor A.D. am Gymnasium Weikersheim.
Der Band kann zu einem Preis von 4,00 Euro über unser Sekretariat (Margarete.Gruenwald@elk-wue.de) oder über das Dekanat Weikersheim bezogen werden.
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Kirchenführer Weikersheim
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Dr. Anette Pelizaeus
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Günter Breitenbacher
20. Juli 2020 | Uwe Heizmann | Aktenfund, Kurioses
Die Einträge ungewöhnlicher Todesfälle in Totenregistern zeichnen sich meist durch umfangreicheren Text aus. In einem Totenregistern von Neuenstadt am Kocher sticht einer dieser Einträge aber in erster Linie durch die gut gezeichnete Illustration am Rand des Eintrages hervor, die das für den Tod ursächliche Unglück unmissverständlich darstellt, ohne dass der Betrachter noch den Text lesen muss. Dieser lautet wie folgt:
- Oktober 1605: „Peter Pfläderer, der alt, über die 70 Jahr, ist draußen auff der Fuhrstrasse, als er mit Saltzscheiben widerumb heimgefahren, über den Wagengaul abgefallen, das vorder Radt ist ihme über ein Fuß, das hinder über den Leib gangen, das er in 2 Stunden hernachen, zu Stopffloch, einem bapistischen Flecken, dem Khummeter von Ellingen zugehörig, ein halb Meil wegs von Weißenburg am Sandt, gestorben, undt folgends daselbst begraben. Ist allhier seiner Meldung gethan worden, den 8. Tag Novembris, am gmeinen Gebettstag.“
Das Fuhrwerk des Peter Pfläderer hatte, wie auch in der Illustration dargestellt, keinen Kutschbock. Die dargestellte Kutsche wurde von drei hintereinander angespannten Pferden gezogen (Pfläderers Kutsche hatte vermutlich sechs paarweise hintereinander angespannten Pferde, die aber auf der Zeichnung nicht dargestellt werden konnten). Es saß deshalb wahrscheinlich selbst auf einem der Pferde, von dem er heruntergefallen und unter die Räder geraten war. Aus dem Todeseintrag geht nicht hervor, ob ihn jemand gefunden und nach Stopffloch, dem wohl nächstgelegenen Ort, gebracht hatte oder ob er selbst noch dorthin gefahren war.
Einen Ort „Stopffloch“ gibt es nicht. Im bayerischen Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen gibt es jedoch den Ort Stopfenheim, heute Ortsteil von Ellingen in Mittelfranken. Dieser kleine katholische Ort gehörte einst zur Landkommende Ellingen des Deutschen Ordens, unterstand also dem dortigen Komtur. Es ist anzunehmen, dass dieser Ort gemeint ist, auch wenn die Entfernungsangabe von einer halben Meile (1 Meile = ca. 7,5 km) bis Weißenburg in Bayern nicht passt, da die tatsächliche Wegstrecke ca. 10 km beträgt. Klarheit könnte hier das entsprechende Totenregister von Stopfenheim bringen, jedoch sind die dortigen Kirchenbücher erst ab 1635 überliefert.
Peter Pfläderer hatte, wie im Kirchenbucheintrag beschrieben, und auf der Darstellung auch gut erkennbar, sogenannte Salzscheiben geladen, von denen jede anderthalb Zentner gewogen haben dürfte. Ein Loch in den Scheiben ermöglichte, diese beim lokalen Salzhändler aufzuhängen und wohl auch, sie für den Transport aneinanderzuzurren. Das Wasser der Solequellen wurde damals in riesigen Pfannen gesotten. Daraus erklärt sich die für heutiges Verständnis seltsame Form der Salzportionen. Woher das hier dargestellte Salz stammte, wird nicht klar. Aber der Fuhrmann befand sich auf dem Heimweg, so dass Schwäbisch Hall wohl nicht in Frage kommt. Zeitgenössische Abbildungen von solchen Salzfuhrwerken dürften jedenfalls sehr selten sein.
Der Zeichner der Illustration war wahrscheinlich der registerführende Pfarrer Christoph Kautz (1561-1607).
Quellen
KB Neuenstadt am Kocher, Mischbuch 1555-1636, Totenregister 1558-1636, Bl. 168r
wikipedia, Meile
wikipedia, Stopfenheim
wikipedia, Liste der Kommenden des Deutschen Ordens
Diözesanarchiv Eichstätt, Kirchenbücher
Biografische Informationen zu Christoph Kautz
15. Juli 2020 | Andreas Butz | Bestand, Digitalisierung
Lienzingen ist ein württembergischer Ort im Enzkreis und ist heute ein Teilort von Mühlacker. Eine gewisse überregionale Bekanntheit hat die dortige Liebfrauenkirche, eine spätmittelalterliche Friedhofskapelle. Das Dorf gehörte früher verwaltungstechnisch zum Klosteramt Maulbronn. Die nachfolgend genannten demografischen Zahlen ergeben ein Bild, das auch typisch für die anderen Orte dieses ehemaligen Bezirks sind, was den Dreißigjährigen Krieg betrifft, zu einem gewissen Grad sogar für sehr viele Dörfer des damaligen Herzogtums Württemberg.
Im Landeskirchlichen Archiv bilden die Synodusprotokolle den Bestand A 1, der aus 161 dickleibigen, schweren, in geprägtes Leder gebundenen Folianten besteht. Die Laufzeit dieser Bände beginnt 1581. Es gibt einige Lücken, aber im Wesentlichen wurden diese Bände jährlich angelegt, so dass es sich um eine sogenannte serielle Quelle handelt, der also nicht nur punktuell Informationen entnommen werden können, sondern anhand derer auch Entwicklungen abgelesen werden können. Diese Protokollbände enthalten Auszüge aus den Kirchenvisitationsberichten. Alljährlich wurden alle Pfarrorte Württembergs von sogenannten Generalsuperintendenten besucht, die nach einem gleichförmigen Schema kürzere Berichte verfassten und auch die Anzahl der Gemeindeglieder festhielten. Das heißt, dass mittels dieser Daten die Bevölkerungszahlen jedes württembergischen Dorfes ab 1581 ablesbar sind.
Die Zahlen für Lienzingen im Band von 1621 nennen 490 Kommunikanten und 340 Katecheten. Insgesamt handelt es sich um 830 Personen. Kommunikanten sind Abendmahlsteilnehmer, also Personen, die konfirmiert sind, grob gesagt die Erwachsenen. Katecheten sind Kinder, die bereits den Katechismus lernen, also die Schulkinder. Das heißt, dass die Kleinkinder bei diesen Zahlen fehlen. Man müsste sie soweit möglich schätzen und zu der Zahl hinzufügen. Es versteht sich, dass der Ort inklusive kleineren Kindern über 900 Einwohner hatte. Das Zahlenverhältnis zwischen Schulkindern und Erwachsenen zeigt auch, dass das Dorf damals am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges eine stark positive Bevölkerungsentwicklung hatte, also dass die einzelnen Familien normalerweise viele Kinder hatten.
Der Band von 1653 nennt 108 Erwachsene, 63 Schulkinder und 38 kleinere Kinder (Infantes), die inzwischen auch ausgewiesen werden, alles in allem 209 Personen. Wie man unschwer erkennen kann, hat der Ort während des Dreißigjährigen Krieges mehr als drei Viertel seiner Einwohnerzahl eingebüßt. Dabei war der Krieg 1653 sogar schon seit fünf Jahren vorüber. Erschreckenderweise ist das keine lokale Besonderheit, sondern entspricht in ungefähr dem demografischen Einbruch Württembergs insgesamt. Verantwortlich dafür waren nur zum kleineren Teil die direkten Kriegsfolgen. Die Schwächung der Bevölkerung durch Mangelernährung, das Herumstreifen von Soldaten und Flüchtenden boten ideale Ausbreitungsvoraussetzung für die Pest, die um 1635 viele Menschen hinwegraffte. Innerhalb weniger Monate verloren die Dörfer einen Großteil ihrer Bewohner. In den Sterberegistern der einzelnen Orte kann dies abgelesen werden.
Der Protokollband von 1680 nennt 219 Erwachsene, 80 Schulkinder, 113 kleinere Kinder für Lienzingen, insgesamt 412 Personen (die im Protokoll genannten Daten des Filialorts Schmie muss man bei der Gesamtzahl herausrechnen). Innerhalb von nur drei Jahrzehnten hat sich die Einwohnerzahl wieder verdoppelt, was ein erstaunlicher Befund ist. Die genannten Kinderzahlen geben den Hinweis, wie dies möglich war.
Der letzte Scan zeigt die Zahlen von 1695. Damals wohnten im Ort 131 Erwachsene, 56 Schulkinder und 20 kleinere Kinder, insgesamt 207 Personen. Wir sehen, dass die Bevölkerungszahl des Ortes wieder auf den niedrigen Stand von 1653 herabgesunken war, sich also innerhalb weniger Jahre halbiert hat. Die Erklärung liegt im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688-1697). Das Klosteramt Maulbronn war Durchzugsgebiet französischer Armeen und musste außerdem die dort zum Schutz abgeordneten Reichstruppen ernähren. Diese Abgaben und erheblichen Erschwernisse bei der Feldbestellung führte wieder zu Nahrungsmittelengpässen und überdurchschnittlichen Sterberaten. Ein Teil der Einwohner der Dörfer flüchtete sich in diesen Jahren auch in sicherere Gegenden. Das 18. Jahrhundert war weniger von Kriegen gekennzeichnet und führte dementsprechend wieder zu einem Bevölkerungsanstieg.
Wie man sieht, lassen sich die Folgen von historischen Ereignissen anhand von seriellen Quellen auf lokaler Ebene konkret ablesen. Wir planen, den Bestand A1, wie ähnliche andere Bestände in Zukunft digital zu präsentieren.
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Synodusprotokoll, Lienzingen, 1621
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Synodusprotokoll, Lienzingen, 1653
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Synodusprotokoll, Lienzingen, 1680
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Synodusprotokoll, Lienzingen, 1695
13. Juli 2020 | Uwe Heizmann | Genealogie, Kurioses
In Neuenstadt am Kocher findet man in zwei Totenregistern mehrere Einträge, die durch Skizzen von Schwert und Rad, eines Schwerts oder eines Scheiterhaufens markiert sind. Diese Einträge sind solche von hingerichteten Personen. Zwar kann angenommen werden, dass es auch in Totenregistern anderer Pfarreien entsprechend markierte Einträge gibt, jedoch ist eine solche Häufigkeit eher selten. Ob in Neuenstadt mehr Hinrichtungen stattfanden, als in anderen Gerichtsorten, wird eher nicht angenommen.
In den Todeseinträgen sind die Verurteilten, ihre Vergehen und die Hinrichtungsart sowie teils ihr Alter genannt. Auf den ein oder anderen Leser mögen diese Einträge verstörend wirken, speziell auch dass die Todesstrafe auch bei Jugendlichen angewandt wurde. Es muss jedoch bedacht werden, dass im 17. Jahrhundert völlig andere Moralvorstellungen herrschten, als heute. Daraus resultierten auch die harten Strafen für (vermeintliche) Straftaten.
22.10.1602: „Ist Bartlin Wirth von Steinkirch[en] auß der Grafschafft Hohenloch von wegen nachfolgenden bösen Stückhen, als das er ein Ursach war das sein aigen Kind in der […] ertrunckhen, die weil er seinem Eheweib offtermals nach dem Leben gestelt, dißgleichen auch mit Diebstall und Ehebruch sich vergriffen, nach ergangenem Urteil mit dem Schwert vom Leben zum Todt gericht, hernach auf das Rad gelegt, christlich und mit vorhergangener hertzlicher Bekantnus und Reu über seine Sünd verschieden, war ein junger Mann auf etlich und 20 Jar alt, welches […] hatte auch in seiner Gefänckhnus communiciert.“
Das ein bereits Hingerichteter durch auf das Rad legen noch weiter bestraft wird, erscheint aus heutiger Sicht unnütz. Zur damaligen war man aber der Ansicht, dass die jeweilige Person auch über den Tod hinaus bestraft werden konnte. Außerdem diente der Leichnam als Abschreckung für andere.
07.12.1603: „Stoffel Götz von Ruocksen [= Ruchsen] (Mentzischen Gebietts in die Cent Meeckmüll [= Möckmühl] gehörig) ein Wildtprettschütz, ist wegen seines meinaidt[igem] Uhngehorsams und muttwillens, weil ehr zum vierten Mahl wid[er] kommen, mit dem Schwerdt alhir gerichtet worden.“
Dieser Eintrag ist schwer zu lesen, weshalb auch nicht richtig klar wird, welches schwere Vergehen Stoffel Götz verbrochen hatte.
22.07.1639: „Georgius Jomann, ein verruffer Landtdieb, Burger zuo Eberstall, Krautheimer Ampts, sonsten von Biringen gebürtig, Religionis pontificiae, darauff er auch gestorben, wesswegen ihm man das Schwerth laßen gedeyen, durch Fürbitt der Cappuciner bey H[errn] Graven von Trautmansdorff Oberamptmann, da er sonsten mit dem Strang hatt sollen gerichtet werden, hatt solches Urtheil außgestanden den 22. Julii“.
Georgius Jomann hatte das „Glück“, mit dem Schwert geköpft und nicht am Strang
erhängt zu werden, da letzteres unter Umständen einen langsamen und qualvollen Tod bedeutet hätte. Außerdem wurde das Erhängen – diese Unterscheidung ist aus heutiger Sicht unverständlich – von der damaligen Gesellschaft als eine unehrenhafte Strafe, das Enthaupten mit dem Schwert als ehrenvolle Bestrafung angesehen. Die psychische Belastung dürfte jedoch dieselbe gewesen sein.
27.11.1656: „Den 27. Novembr[is] ist Barbara, Jerg Mörten s[elig] Wittib, welche wegen lang verübter Hexerei zue Cl[ever]sultzbach, in Gleichem Anna, Balthas Laysen Wittib von Michelbach, und Anna, Hanß Nollen Wittib, von Bretach, alß auch uberzeügte Hexen alhir decolliert [= enthauptet], nachgehendts zue Aschen verbrannt worden.“
Dem hier genannten „Verbrechen“ fielen im 16. bis 18. Jahrhundert leider sehr viele und definitiv unschuldige Menschen – zumindest was den Vorwurf
der Hexerei betrifft – zum Opfer. Auffällig in diesem Eintrag ist, dass alle drei Frauen Witwen und somit ohne Schutz oder Unterstützung durch den Ehemann waren. Auch hier wurde eine Bestrafung nach dem Tod angewandt. Die Leichen der enthaupteten wurden verbrannt, so dass die Leichname nicht beerdigt werden konnten und die Seelen keine Ruhe fanden.
11.09.1666: „Den 11. 7bris ist Fridrich Kugler, 15. Annorum [= Lebensjahr], Andreas Kuglers geweßener Sattelknecht Sohn, welcher sodomiticam abominationem cum vitulo tertia vice agirt [= welcher die Sodomie mit einem Kalb zum dritten Mal begangen hatte], decollirt, und zur Aschen verbrannt worden.“
Dass ausdrücklich erwähnt wird, dass Fridrich Kugler die Tat zum dritten Mal begangen hatte, könnte ein Hi
nweis darauf sein, dass man bei diesem Jugendlichen die Strafe nicht gleich beim ersten Mal anwenden wollte. „Doppelstrafe“ wie beim vorherigen Eintrag.
30.10.1666: „Den 30. 8bris ist Stoffel Hilckers, Endris Hilckers Bueb von Lampoltzhausen decollirt und p[er]plex[us] [= verworrener] Sodomiam verbrannt worden.“
Ob es sich in diesem Fall um einen ähnlichen wie den vorhergehenden gehandelt hat, bleibt offen. Unter Sodomie verstand man damals, vor allem aus kirchlicher Sicht, jedes Sexualverhalten, das nicht der Fortpflanzung dient, also etwa der Geschlechtsverkehr zwischen zwei Männern oder auch nur Masturbation. Das Alter des Stoffel Hilckers ist nicht angegeben, jedoch deutet die Bezeichnung „Bueb“ darauf hin, dass er noch ein Jugendlicher war.
15.07.1673: „Den 15. Julii ist Maria, Veit Webers sel[ig] Wittib mit ihrer Tochter Anna Maria Hambergerin wegen begangenem Kindsmords tecollirt und auff dem eüßern Kürchhof begraben worden.“

Welches Motiv die beiden Frauen für ihre Tag hatten, wird in dem Todeseintrag nicht erwähnt. Eine Recherche in der im Hauptstaatarchiv Stuttgart überlieferten Akte könnte diese Frage beantworten.
Quellen
KB Neuenstadt am Kocher, Mischbuch 1555-1636, Totenregister 1558-1636, Bl. 166r (22.10.1602)
KB Neuenstadt am Kocher, MB 1555-1636, To 1558-1636, Bl. 166v (07.12.1603)
KB Neuenstadt am Kocher, MB 1637-1679, To 1637-1679, Bl. 141r (22.07.1639)
KB Neuenstadt am Kocher, MB 1637-1679, To 1637-1679, Bl. 170r (27.11.1656)
KB Neuenstadt am Kocher, MB 1637-1679, To 1637-1679, Bl. 178v (11.09.1666, 30.10.1666)
KB Neuenstadt am Kocher, MB 1637-1679, To 1637-1679, Bl. 185v (15.07.1673)
Allgemeiner Literaturhinweis: Unsere Arbeitshilfe zur Forschung mit den württembergischen Kirchenbüchern kann zum Preis von 5,00 Euro bestellt werden.
6. Juli 2020 | Andreas Butz | Aktenfund, Genealogie, Kurioses
Bei den militärischen Aktionen der Reichstruppen auf dem Balkan, die sich nach der misslungenen osmanischen Belagerung Wiens (1683) entfalteten, wurden auch Menschen verschleppt, die zumindest teilweise nach Württemberg gelangten, vor allem nach der Eroberung von Belgrad im Jahr 1688. Unser Blogbeitrag vom 28. Mai 2020 macht auf einen solchen Fall aufmerksam. Der Blog von Leo-BW hat kurz nach dieser Veröffentlichung diese Verschleppungen in den historischen Kontext eingeordnet. Wir kennen aus unseren Kirchenbüchern, die vermutlich noch viele solche Taufen enthalten auch einen anderen, aber anders gelagerten Fall. Es gab offenbar auch vereinzelt Türken, die sich im Verlauf dieser militärischen Ereignisse von den Reichstruppen anwerben ließen. Hier haben wir den Fall eines türkischen Dragoners, seiner ebenfalls türkischen Frau, und seines neu geborenen Sohnes. Während die muslimische Religionszugehörigkeit des Reiters offenbar kein Hinderungsgrund für die Anwerbung war, verfuhr man bezüglich seines Kindes auf eine drastische Weise.
Dem Eintrag von Pfarrer Johann Reichard Lang im Taufregister ist zu entnehmen, dass er am 31. Oktober 1689 in der Albanikirche in Mühlhausen an der Enz Zwillinge taufte. Ihm wurde durch Offiziere des kurbayerischen Dragoner-Regiments, das damals für einige Tage in dem damals reichsritterschaftlichen Dorf Mühlhausen im Quartier lag, überraschend noch ein weiteres Kind gebracht, das er taufen sollte. Die Eltern dieses Kindes waren Türken. Der Vater diente im kurbayerischen (Arcos`schen) Dragonerregiment, das im Jahr davor gegen die osmanischen Truppen gekämpft hatte und bei der e
rfolgreichen Einnahme Belgrads beteiligt gewesen war. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation stand damals in einer Art Zweifrontenkrieg gegen Frankreich im Westen und das Osmanische Reich im Südosten, so dass Truppen teilweise zwischen diesen Kriegsschauplätzen hin- und herwechselten. Das kurbayerische Regiment befand sich vom 29. Oktober bis 2. November in Mühlhausen an der Enz, wo auch der genannte türkische Dragoner und seine ebenfalls türkische Frau, und das gemeinsame Kind untergebracht waren. Die Gelegenheit, dass er an diesem Tag mit einem Trupp in Nachbardörfern, beziehungsweise in der Umgebung unterwegs war, um zu Fouragieren, also um Lebensmittel oder Pferdefutter zu besorgen, nutzten seine Vorgesetzten jedoch dazu, seinen Sohn zum Christen zu machen. Die anwesende Mutter wehrte sich „heftig“ gegen dieses Ansinnen. Mit Hilfe einer anderen Soldatenfrau konnte das Kind „mit Gewalt“ aus dem Quartier des türkischen Ehepaars geholt und in die Kirche vor den Taufstein gebracht werden, wo der Pfarrer angewiesen wurde, es auf den Namen Hans Adam Mühlhäuser zu taufen. Der Name der Eltern blieb dem Pfarrer unbekannt. Der Nachname wurde nach dem hiesigen Ort gewählt, die Vornamen offenbar nach dem erst einige Wochen zuvor verstorbenen Ortsherren Hans Adam von Hohenfeld (1652-1689). Die Paten waren die kurbayerischen Offiziere Hauptmann de Mardin, Hauptmann Heim, Hauptmann Baron Rohrbach, Hauptmann Trollinger, Hauptmann Leva, Leutnant Hopffner, Fähnrich („Fendtrich“) Harm. Das weitere Schicksal des zwangsgetauften Knaben ist unbekannt.
Text des Eintrags:
„Es hat sich aber zugetragen, d[aß] zwar mir Pfarrern vor dem Taufstein unbewußt war ein türkisches Kind, solle mit obgesetzten zweyen Zwillingen mitgetauft und zu einem Christen gemacht werden, dessen Eltern, Vater und Mutter, geborene Türken waren, die türkische Mutter sich aber deswegen heftig gewägert (gewehrt) und sich durchaus dazu nicht verstehen wollen, daß ihr Kind sollte getauft werden. Bis die Herren Officiere in Abwesenheit ihres Manns, der ohne des Fourage geritten, solches durch eine Soldatenfrau mit Gewalt aus ihrem Quartier nehmen lassen, die es dann in die Kirche vor den Taufstein gebracht und mit obermeldten Zwillingen getauft und den christlichen Namen aus Befehl der Herren Officierers Hans Adam Mühlhausser gegeben worden. Eltern: Waren geborene türkische Eltern, deren Namen mir unbekannt. Waren unter dem Churbayerischen Arzischen Regiment Dragonersleuth.“
Link zur Originalquelle auf Archion:
Taufeintrag im Mischbuch von Mühlhausen an der Enz vom 31.10.1689
2. Juli 2020 | Sabine Tomas | Kurioses
Politik geht vom Volk aus und sein Instrument sind Wahlen. Gerade heute wird dieses Instrument immer wichtiger, wer nicht wählen geht, wählt populistisch. Auch damals war man sich der Bedeutung und der Macht der Wahlen bewusst. Mit Kreuzen und Strichen versehene Stimmzettel der Gemeinderatswahlen in der Stadt Ulm am 11. Mai 1919 aus dem Archiv der Ulmer Münsterbauhütte lassen erahnen, dass Politik im Alltag der Bürger eine Rolle spielte und angekommen war. Ob die Notizen vom Münsterbaumeister oder einer seiner Mitarbeiter stammen, lässt sich heute nicht mehr
rekonstruieren. Fest steht aber, das man sich Gedanken gemacht hat und offensichtlich ein breites politisches Spektrum als wählbar ansah. Den erhaltenen Notizen zufolge lag die Deutsche Demokratische Partei Ulms bei den Mitarbeitern der Münsterbauhütte hoch im Kurs, gleich 19 Kandidaten sollten drei bis sechs Stimmen bekommen, gefolgt von der Sozialdemokratischen Partei mit zehn Kandidaten und der Zentrumspartei mit neun Kandidaten. Schlusslicht bildeten hier die Württembergische Bürgerpartei mit vier Kandidaten und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Ulm-Söflingen mit nur einem Kandidaten, der drei Stimmen erhalten sollte. Ob tatsächlich so aus der Münsterbauhütte heraus gewählt wurde, bleibt Spekulation.
Quelle: Ulm, Münsterbauhütte, 538