Schlagworte: Heimatvertriebene

Nachkriegszeit Teil 15: Fremdenfeindlichkeit abbauen – Eine Ausstellung im Jahr 1948

21. Dezember 2020 | |

Als infolge des Zweiten Weltkriegs unzählige Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten nach Deutschland strömten, wurden sie von der Bevölkerung keineswegs mit offenen Armen empfangen. Sie wurden als „Rucksackdeutsche“ beschimpft und mit Argwohn betrachtet. Kleidung, Bräuche, Kochgewohnheiten, Dialekte, Konfessionen – alles erschien fremd.

Woher kamen die Menschen, die eine neue Heimat im zerstörten Deutschland suchten? Wie hatten sie gelebt, gearbeitet, gewohnt? In welchen Berufen waren sie ausgebildet worden, welches Handwerk hatten sie erlernt?

Um die einstigen Lebenswelten der Flüchtlinge näherzubringen und dabei Vorurteile abzubauen, finanzierte das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Württemberg 1948 eine Ausstellung mit dem Titel „Wer wir sind“. Die sogenannten Neubürger hatten die Möglichkeit, sich und ihre Heimat durch Schnitzereien, Fotos, Trachten und Handarbeiten darzustellen. „Wer diese Ausstellung gesehen hat, der musste ein anderes Bild von den Heimatvertriebenen bekommen“, resümierte der Monatsbrief des Hilfswerks nach Abschluss der Ausstellung. Ziel der Schau war die Einsicht, „dass diese Bauern und Handwerker für uns keine Fremdlinge sein können.“ Die in Hilfskomitees organisierten Donauschwaben, Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Bessarabier und Dobruschdadeutsche beteiligten sich an der Ausstellungskonzeption. In 18 württembergischen Städten wurde die Ausstellung gezeigt und in Feierstunden und Gottesdiensten eröffnet. Eine Brücke des gegenseitigen Verstehens und der christlichen Nächstenliebe sollte gebaut werden. Die Alteingesessenen konnten mit dem Besuch der Ausstellung deutlich machen, „daß man hierzulande nicht ohne Herz ist und immer mehr zu tun gewillt ist, das materielle und das seelische Leiden der Brüder und Schwestern zu lindern und ihnen eine wirkliche Heimat in unserem armen und gequälten Land zu bereiten.“

Der Verlust der Heimat und die Traumatisierung der rund 600 000 Vertriebenen (in Württemberg, bis 1948), vor allem aus Rumänien und Jugoslawien, erfuhren durch die Schau ein gewisses Maß an Anerkennung. Um Verständigung werbend, versäumte man im Bericht im Monatsbrief des Hilfswerks nicht, das Leid und die schwierigen Lebensumstände der Altbürger in die Waagschale zu werfen.

Die Ausstellung als Experiment für den kulturellen Austausch und als Brückenschlag zwischen Alt- und Neubürger*innen wurde mit rund 50 000 Besucher*innen als „gesegneter Erfolg“ verbucht.

 

Quellen:

Unser Monatsbrief. Hilfswerk der Evang. Landeskirche in Württemberg, 2. Jahrgang, November 1948.

L1, Nr. 3455 (U 954)

L1, Nr. 305

Matthias Beer, Die ‚Flüchtlingsforschung‘ zum deutschen Südwesten. Anmerkungen und Thesen, in: Rainer Bendel/Abraham Kustermann (HG.), Die kirchliche Integration der Vertriebenen im Südwesten nach 1945, Berlin 2010, S. 197-211.

Beitragsbild: Handarbeiten der Siebenbürger Sachsen aus Rumänien

Serie Nachkriegszeit Teil 13: Kinderschicksale – Heimschule für Flüchtlingswaisen Kleinglattbach

8. Dezember 2020 | |

In der Nachkriegszeit mussten viele Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland als Halbwaisen aufwachsen, da die Väter als Wehrmachtssoldaten gefallen waren. Normalerweise haben dann die Mütter die Kinder allein betreut. Allerdings gab es auch Mütter, die dazu aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage waren, oder Kinder, die während der Kriegswirren am Ende des Krieges beide Eltern verloren hatten, also zu Vollwaisen wurden. Das evangelische Hilfswerk in Württemberg richtete für diese vom Schicksal schwer getroffenen und oft traumatisierten Kinder eine Knabenheimschule in Kleinglattbach bei Vaihingen an der Enz ein.
In der archivischen Überlieferung dieser Einrichtung finden sich etliche Beschreibungen dieser Schicksale, von denen wir drei herausgreifen:

1) T.K., ein 14-jähriger, 1933 in Ödenburg (Sopron) in Ungarn geborener Junge kam am 6. Juli 1946 in die Knabenheimschule. 1944 musste er beim Vormarsch der Russen seine Heimat verlassen und verbrachte die Zeit dazwischen in verschiedenen Lagern. Dreckig, zerlumpt und unterernährt kam er zusammen mit fünf anderen Jungen in Kleinglattbach an. Nach einer Dusche und mit neuen Kleidern kamen nette und saubere Jungen zum Vorschein. Er hat dann durch eine wundersame Fügung seine Eltern wiedergefunden. Nach drei Wochen wurde er aber wieder in die Knabenheimschule aufgenommen.
2) Vier Brüder aus Oberschlesien (Horst, geb. 1933, Heinz, geb. 1934, Egon, geb. 1935, Gottlieb, geb. 1937) kamen als Halbwaisen in die Heimschule. Der Vater war in einem KZ umgekommen. Die alleinerziehende Mutter, die noch einen kleinen Buben und zwei kleine Mädchen zu versorgen hatte, war mit der Betreuung ihrer Kinder überfordert. Die Jungen scheinen auch unterernährt angekommen zu sein.
3) E.T. war 1935 in Schönborn (heute Novo Selo), einem damals von Deutschen besiedelten Ort in Bosnien, geboren. Der Vater betrieb dort eine kleine Zuckerbäckerei. Die Erinnerung an den nächtlichen Überfall von Partisanen auf das Dorf und die damals erfolgte sofortige Vertreibung der Bewohner hat ihn traumatisiert. Seine Eltern waren nun ausgezehrt und krank und konnten sich nicht ausreichend um ihn kümmern. Der Vater lebte in einem Flüchtlingslager, die Mutter war auf unabsehbare Zeit zur Erholung verschickt.

In den Akten findet sich auch eine erstaunliche, fast filmreife Geschichte. An einem Sonntag im Sommer 1946 machte eine zwölfköpfige Gruppe der Heimschule eine Ausflugswanderung zum nahen Aussichtsturm Eselsburg. In die Balken des hölzernen Turms waren wie so üblich die verschiedensten Namen eingeritzt. Zu seiner großen Überraschung entdeckte ein Junge darunter auch den Namen seines Vaters. Dabei stand auch ein Ortsname. Zunächst war unklar, ob das nur eine zufällige Namensgleichheit war. Aber der Sache musste nachgegangen werden. Deshalb wurde der Junge zusammen mit zwei anderen Schülern als Begleiter in den genannten Ort geschickt, der sich in etwa einer Stunde Fußmarsch von Kleinglattbach entfernt befand. Sie sollten sich dort beim Pfarrer erkundigen, ob er die Person kenne und, wenn ja, um wen es sich handle. Wie sich mit Hilfe des Pfarrers herausstellte, war diese Person tatsächlich der Vater des Jungen. Es kam dann zu einer tränenreichen Begegnung im Pfarrhaus. Nach der Entlassung aus dreijähriger russischer Gefangenschaft war der Vater in diesem Dorf in Württemberg untergekommen. Der in Ungarn geborene Sohn, dessen Mutter inzwischen nicht mehr am Leben war, war 1946 als Waise in Kleinglattbach aufgenommen worden. Wie dem Bericht zu entnehmen ist, war die Freude in der Heimschule insgesamt sehr groß, als der Junge am Abend tatsächlich zusammen mit seinem Vater zurückkam.

Der Standort der Knabenheimschule waren während der ersten drei Jahre ihres Bestehens (1946-1948) angemietete Räume im Hofgut der Familie von Neurath in Kleinglattbach, die unmittelbar davor interimsweise vom Seminar Blaubeuren genutzt worden waren. Leiter der Schule war Dr. Willibald Heldt (1900-1968), ein baltendeutscher ehemaliger Schuldirektor aus Estland, dem nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft die Rückkehr in seine Heimat nicht mehr möglich war.
Bei Aufnahme der Arbeit im Februar 1946 konnten bereits 20 Jungen, die auf der Flucht ihre Eltern verloren hatten, aufgenommen werden. Die Schule bot Unterkunft für etwa 65 Schüler, die sich in ihrer Freizeit im Chor und Streichorchester einbringen oder sportlich betätigen konnten. Die Schüler legten im Garten Beete an. Die eigentliche Verpflegung wurde durch das Evangelische Hilfswerk bereitgestellt. Insgesamt 126 Schüler konnten bis 1948 in der Heimschule untergebracht werden. 1948 wurde der Schulbetrieb mit 60 Schülern in die Laufenmühle bei Welzheim verlegt. Aus finanziellen Gründen wurde die Arbeit 1949 eingestellt. Die Schüler wurden daraufhin an der Landeswaisenanstalt in Schwäbisch Gmünd und im Evangelischen Landeserziehungsheim Urspring untergebracht und konnten dort ihre Schulausbildung vollenden.

Quellen: LKAS, L 1, Nr. 2302-2304, 2307.

Serie Nachkriegszeit Teil 11: Neue Formen der Jugendsozialarbeit – die Aufbaugilden des Evangelischen Hilfswerks

24. November 2020 | | ,

Die Not nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war auch unter den Heranwachsenden und Jugendlichen besonders groß. Ohne jegliche Perspektiven drohten heimat- und elternlose Jugendliche, die in Bunkern und Luftschutzräumen der zerstörten Städte lebten oder ziellos über die Landstraßen zogen, in die Kriminalität abzurutschen. Um dies zu verhindern, engagierte sich das Evangelische Hilfswerk in der Jugendsozialarbeit mit dem Aufbau sogenannter „Gilden“. Dieser Name wurde in Anlehnung an die mittelalterlichen Genossenschaften ausgesucht, die religiöse oder berufliche Ziele verfolgten und sich dabei um das Wohl ihrer Mitglieder sorgten. Dies war auch bei den Aufbaugilden der Fall. Die jungen Menschen sollten in familienähnlichen Gemeinschaften zusammenleben und Halt im christlichen Glauben finden.

Die erste Aufbaugilde entstand im Februar 1948 auf Schloss Stettenfels bei Heilbronn, als ein Zeichen des Neuanfangs und gleichzeitig als Selbsthilfe zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Hier half die Gilde beim Ausbau eines Altersheims für Flüchtlinge. Die nach und nach entstehenden Gilden wurden zu gemeinnützigen Arbeiten eingesetzt, wie Trümmerbeseitigung, Forst- und Steinbrucharbeiten. In Calw-Stammheim wurde mit Hilfe von Spendengeldern aus der Schweiz eine Gilde aufgebaut, die das beschädigte Freibad wieder instand setzte.

1952 gab es in Württemberg bereits 12 Aufbaugilden. Mit der steigenden Zahl von „Ostflüchtlingen“ aus der DDR wurden nach württembergischem Vorbild auch in Hessen und Nordrhein-Westfalen mehr als 60 Gilden bis Ende 1953 gebaut. Im selben Jahr startete die Mädchengilde in Stuttgart. Zusätzlich entstanden Abiturienten- und Studentengilden, sowie Stadt- und Landgilden. Beim zehnjährigen Jubiläum 1958 wurde von 59 Gilden berichtet, in denen über 11 000 Jugendliche für mindestens ein halbes Jahr mit den westlichen Lebensverhältnissen vertraut gemacht wurden. 1958 existierten im gesamten Bundesgebiet über 120 Gilden. Mit dem Bau der Mauer im August 1961 stoppte der Flüchtlingsstrom aus der DDR. Die Gildenarbeit widmete sich nun spätausgesiedelten Jugendlichen, die mit ihren Eltern aus ehemaligen deutschen Ostgebieten kamen. Um ihnen die Integration in Westdeutschland zu erleichtern, wurden Förderschulen mit Sprachkursen eingerichtet. Die meisten Gilden in Württemberg stellten jedoch ihre Arbeit zu Beginn der 1970er Jahre ein. Lediglich die Heilbronner Aufbaugilde hat sich erhalten und arbeitet bis heute mit jungen Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen eine Betreuung brauchen.

Quellen:

LKAS, L 1, Nr. 93, Nr. 777, Nr. 887, Nr. 1384, Nr. 2300, Nr. 3447

Reinhold Schäffer, Die Gilde – Das Stammheimer Gildenhaus – eine fast vergessene diakonische Einrichtung 1949-1956.

Unser Monatsbrief. Hilfswerk der Evang. Landeskirche in Württemberg, 4. Jahrgang, Februar 1950, S. 2-11.

Monatsbrief. Der Arbeitsgemeinschaft der Diakonischen Werke in der Evang. Landeskirche in Württemberg, 13. Jahrgang, Nr. 2 Februar 1959, S. 2-3.

Gudrun Köpf, Von „Hühnerhofpädagogik“ und Gildenarbeit im Kalten Krieg. Hans Walter Mehlhorn erzählt, in: Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit (Hrsg.), Jugendsozialarbeit im Wandel der Zeit. Eine Bundesarbeitsgemeinschaft wird Fünfzig, Münster 1999, S. 89-92.

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.

Teil III der Serie zur Nachkriegszeit: Vermisst? Der Suchdienst nach dem Zweiten Weltkrieg

29. September 2020 | | , ,

Mütter verloren ihre Kinder, Kinder ihre Mütter, Geschwister, Tanten, Großeltern. Auf dem Treck nach Westen wurden viele Familien auseinandergerissen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren Millionen von Menschen in Deutschland zwangsweise auf den Landstraßen und in Städten unterwegs. Es waren vor allem Menschen aus ehemaligen deutschen Ostgebieten, die Haus und Hof verlassen hatten, um sich vor der herannahenden Roten Armee im Westen in Sicherheit zu bringen. Aber auch Soldaten, die sich nach der Kapitulation der Front auf dem Rückweg zu ihren Familien befanden und in den zerbombten Städten weder ihr Haus noch ihre Angehörigen wiederfanden. Sie alle wanderten auf der Suche nach ihren Angehörigen mehr oder weniger ziellos durch das zertrümmerte Deutschland.

Um in dieser verzweifelten Lage Hilfe zu leisten, wurde ein Suchdienst aufgebaut. Eine Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus dem Rotem Kreuz, dem Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Caritas, war bis Juni 1948 gemeinsam tätig, danach lag der Suchdienst ausschließlich in den Händen des Roten Kreuzes. Der Suchdienst hatte drei Schwerpunkte:

 

1) Die Suche nach Kriegsgefangenen, Wehrmachtsvermissten und Verschleppten

Landeskirchliches Archiv Stuttgart, L1, Nr. 3627.

Heimkehrende aus der Kriegsgefangenschaft wurden nach Namen und Adressen ihrer Kameraden in den Gefangenenlagern befragt. Auf Karteikarten wurden dann Feldpostnummern sowie Nummern der Gefangenlager gesammelt, um Anhaltspunkte über den letzten Aufenthalt des Vermissten geben zu können. Mit der Einrichtung einer „Sammelstelle für Heimkehrer Nachrichten“ konnte eine Auswertung der erhaltenen Nachrichten erfolgen. Bei der Suche nach Kriegsgefangenen und Wehrmachtsvermissten spielten Pfarrämter eine große Rolle. Sie waren für die Einholung und Überbringung von Heimkehrer-Nachrichten von Bedeutung, da sie als Anlaufstelle für Suchanträge fungierten.

 

2) Flüchtlingssuchdienst

Dem Flüchtlingssuchdienst standen Adressen zur Verfügung, die bei der Erfassung der Neubürger durch die Flüchtlingskommissare aufgenommen wurden. In der englisch und amerikanisch besetzten Zone – Deutschland war von den Alliierten in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden, einer englischen, amerikanischen, französischen und sowjetischen Zone –  gab es eine Zonenzentrale, die mit dem Suchdienst zusammenarbeitete.

Die Hilfskomitees ehemaliger deutschen Volksgruppen in Nordost- und Südosteuropa, wie z.B. der Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, der Slowakeideutschen, der Bessarabiendeutschen, Dobruschdadeutschen, und Baltendeutschen erstellten jeweils eine eigene „Heimatkartei“, die sich für viele als hilfreich erweisen sollte.

 

3) Kindersuchdienst

In Württemberg-Baden umfasste die Kartei des Suchdienstes 2 400 Kinder, die von ihren Angehörigen gesucht wurden und elternlose Kinder, die ihre Familien suchten. Der Großteil der Kinder stammte aus Ost- und Westpreußen und Schlesien. Über Rundfunk, Suchzeitungen und Bildplakaten versuchte der Suchdienst die Kinder ihren Familien zu zuführen. In Württemberg konnten von Mai 1947 bis Februar 1948 jedoch nur 30 Kinder wieder mit ihren Angehörigen vereint werden.

In unserem Archiv befinden sich verschiedene Archivalien über den Suchdienst. Aus dem Bestand des Diakonischen Werks L 1, das seine Wurzel im Evangelischen Hilfswerk hat, stammen das Plakat „Nachrichten über Vermisste“ von 1948, der Fragebogen der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Kirche der Umsiedler und das Formular der Zonenzentrale München. Das ehemalige Internierten-Lagerpfarramt Ludwigsburg mit der Signatur GS 6, dessen Dokumente von 1945 bis 1949 in unserem Archiv verwahrt werden, enthält die abgebildeten Formulare des Roten Kreuzes.

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.