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Sein und Schein – Die Stadtkirche in Freudenstadt in neuem Glanz

10. September 2021 | | ,

„Sein und Schein“ – das Motto des diesjährigen Tages des offenen Denkmals“ trifft gerade für die Stadtkirche in Freudenstadt in vielerlei Hinsicht zu, und zwar nicht allein, weil sie mit einem schmuckvollen, im Dachstuhl aufgehängten Scheingewölbe und dem berühmten frühmittelalterlichen Lesepult ausgestattet ist, sondern auch deshalb, weil sie von Mai 2019 bis Juni 2021 im Innenraum aufwändig renoviert und am 13. Juni dieses Jahres feierlich wieder eingeweiht wurde. Nun erstrahlt die Kirche wieder in neuem Glanz!

Die Stadtkirche hat die für Württemberg einzigartige Gestalt einer Winkelhakenkirche. Sie wurde von Heinrich Schickhardt im Auftrag von Herzog Friedrich I. von Württemberg ab 1601 im Stil der Spätrenaissance erbaut. 1608 konnte bereits der erste Gottesdienst in der Kirche gefeiert werden und 1615 kam der gesamte Kirchenbau mit dem Ausbau der Türme zu seinem Abschluss. Der Grund für die winkelförmige und somit gänzlich ungewöhnliche Grundrissdisposition lag in der städtebaulichen Situation. Die Kirche nämlich sollte in das winkelförmig angeordnete Ensemble der Marktplatzbebauung mit Rathaus, Kaufhaus und Spital der 1599 eigens von Herzog Friedrich gegründeten Stadt einbezogen werden.

Der helle, ganz weiß gefasste Innenraum mit einer vierseitigen, jeweils an den Innen- und Abschlussseiten der beiden Kirchenschiffe entlanglaufenden Empore wird durch das Marienportal auf der Nordseite betreten. Im Winkel zwischen den beiden Kirchenschiffen befindet sich der Altarbereich, der bereits 2003 umgestaltet und leicht erhöht wurde. Dort befinden sich hintereinander angeordnet Altar und Kanzel und links neben dem Altar das frühmittelalterliche Lesepult mit Darstellung der vier Evangelisten am Schaft desselben, das insofern so eindrucksvoll ist, als sich im Pultkasten ein Loch vermutlich zum Einstellen eines Weihrauchfasses bei der Lesung der Heiligen Schrift befindet, welches bei der Verwendung im Mittelalter den Eindruck vermittelte, als ströme aus den Öffnungen der Evangelisten Rauch. Es schien also so, als ob die Evangelisten selbst das Wort Gottes verkündeten. In diesem Sinne stellt auch dieses besondere Ausstattungsstück ein außerordentliches Exempel für „Sein und Schein dar“! Rechts neben dem Altar an der Außenwand des nördlichen Kirchenschiffes befindet sich das spätgotische Kruzifix und links vor dem Altarbereich der frühmittelalterliche Taufstein, so dass die Prinzipalstücke und die liturgisch wichtigsten Elemente des Gottesdienstes im Zentrum des Kirchenraumes gelegen sind und von beiden Kirchenschiffen aus in gleicher Weise wahrgenommen werden können. Die Hauptorgel befindet sich auf der auf zwei Säulen ruhenden Westempore des nördlichen Kirchenschiffes und die kleine Schott-Orgel östlich des Altarbereiches. Beide Kirchenschiffe werden von einem nach dem Zweiten Weltkrieg wiederhergestellten Scheingewölbe mit skulpierten Schlusssteinen und dem Engelschor an den Gewölbeanfängern überspannt.

Wie aber muss man sich den ursprünglichen Innenraum der Freudenstädter Stadtkirche vorstellen? Im Innenraum der Anlage wurden schon ursprünglich Altar und Kanzel im Vierungsquadrat in der Südwestecke angeordnet, während sich der eigentliche, aber durch das Gestühl auf Altar und Kanzel ausgerichtete Kirchenraum im Nordflügel befand. Der Taufstein kam neben dem Altar auf der Grenze zum Ostflügel zu stehen, so dass auch dieser von allen Seiten gut in Augenschein genommen werden konnte. Die Orgel wurde aus akustischen Erwägungen im Chor aufgestellt, so dass auch sie gut sichtbar war. Seit dem 19. Jahrhundert – vorher existierte gar kein Gestühl in der Kirche – saßen die Frauen in vier Bankblöcken mit freiem Mittel- und Quergang, unter der Kanzel die Mädchen und Laienschüler, die Männer nach Berufsständen getrennt auf der Empore und die Jungen auf der kleinen Empore im Polygon des Ostflügels. Während also der Nordflügel mit Gestühl für die Frauen ausgestattet war, blieb der Ostflügel im Erdgeschoss nahezu leer. Hier saßen die Gläubigen auf der Empore, aber alle hatten, egal wo sie sich befanden, den klaren Achsenbezug auf Kanzel, Altar und Orgel.

Die Emporenbrüstungen waren mit Bildszenen des Alten und Neuen Testamentes aus bemaltem Stuck, gefertigt von Kalkschneider Gerhardt Schmidt, verziert. Der Zyklus begann mit der Schaffung von Himmel und Erde und allen Kreaturen, es folgte die Herstellung der Welt, die Erschaffung von Adam, die Sintflut, die Bootsfahrt Christi über das tobende Meer, die Beschneidung Jesu, die Taufe Jesu, Jesu Speise mit den Jüngern, das Abendmahl, Jakobs Kampf mit dem Engel, Christus am Ölberg, die eherne Schlange, die Kreuzigung, Jona und der Fisch, die Auferstehung, die Himmelfahrt des Propheten Elias, die Himmelfahrt Christi, das Pfingstwunder, der Heilige Geist in Gestalt einer Taube, die Verfolgung der Christen, die Verfolgung  der Kirche, König Salomo, das Jüngste Gericht und schließlich das himmlische Leben. Zwischen diesen Szenen befanden sich die Darstellungen von 16 Propheten.

Die weiß getünchten Wände kontrastierten mit den Laibungen und architektonischen Rahmenumfassungen der Fenster und Portale in den Farben Rotbraun, Blau, Weiß und Gold.

Der Innenraum wurde zusammen mit einem spätgotischen vierteiligen Chorstuhl von 1488 aus der Werkstatt des Ulmer Bildschnitzers Konrad Widmann, dem gotischen Steinaltar und der Kanzel mit Schalldeckel im Zweiten Weltkrieg vernichtet und bereits in den Jahren 1947-1950 wiederhergestellt. Weitere Renovierungen erfolgten 1981/1982 und 2003.

Die Winkelhakenkirche in Freudenstadt hatte zwar nicht die Nachfolge wie die Querkirche der Schlosskirche in Stuttgart, stellt aber gerade durch ihre besondere, der neuen lutherischen Lehre entsprechenden Raumkonfiguration im Rahmen einer städtebaulichen Gesamtkonzeption einen wesentlichen Erinnerungsort dar, in welchem „Sein und Schein“ sowohl in der Architektur als auch in der Ausstattung eine wichtige Rolle spielen.

Tod und Zerstörung in Folge eines Wolkenbruchs

7. Juli 2021 | |

In den letzten Wochen erlebte Baden-Württemberg mehrere zum Teil heftige Unwetter. Dabei kam glücklicherweise nur eine geringe Anzahl an Menschen ums Leben (wobei jeder Tote einer zu viel ist). Außerdem kam es zu nicht unerheblichen Sachschäden.

Auch in früheren Zeiten forderten Unwetter ihren Tribut. Aufgrund fehlender systematischer Wetteraufzeichnungen findet man darüber jedoch nur selten Berichte. Wenn, dann sind diese meist in spezielle Chroniken oder auch in Kirchenbüchern zu finden.

Vor genau 243 Jahren, am 7. Juli 1778, ereignete sich zwischen Hallwangen und Aach, heute Ortsteile von Dornstetten, ein starker Wolkenbruch, in dessen Folge das Flüsschen Glatt derart anschwoll, dass die Flut im etwa drei Kilometer südlich gelegene Glatten schwere Verwüstungen anrichtete und das Leben von fünf Menschen – nahezu eine ganze Familie – auslöschte. Ein totes Mädchen wurde erst im sieben Kilometer flussabwärts gelegene Leinstetten, heute Ortsteil von Dornhan, gefunden. Ebenfalls durch die Flut mitgerissenes Vieh wurde teilweise über 23 Kilometer bis nach Horb am Neckar oder sogar über 40 Kilometer bis nach Rottenburg am Neckar fortgespült.

Der ganze Bericht über das Unglück und die Folgen ist im Totenregister von Glatten zu finden und lautet:

„[Am Dienstag] den 7. Julii abends [zwischen] 6 – 7 [Uhr] wurde die hiesige Innwohnerschafft durch plözlich und grausamen Anlauf des Wassers Glatt in eine unbeschreibliche grosse Noth und Schrecken versezet. Ein gegen 1 1/2 Stund oberhalb im Thal, und zwar zwischen Hallwangen und Aach, entstandener starcke Wolckenbruch verursachte, daß das Wasser, die Glatt genannt, auf einmal mehr als mannshoch, ohne einen Tropfen hiesigen Orts vorher zu regnen, und in wenigen Augenblicken gegen 16 Schuh [1 Schuh = ca. 28,6 cm] hoch in den hiesigen Flecken eingedrungen. Ein ganzes Hauß wurde durch die hefftige Wellen des Wassers, und wegen herbeigekommenen vielen Holtzes von 60 biß 70 Schuh lang, vom Fundament aus aufgehoben, umgedreht und eingestürzt; viele andere Häußer grausamlich beschädiget; die Brücke über die Glatt wurde eingerissen und fortgespült. Eine Reib- und eine Lohmühle wurden auch von ihrem Ort weggerißen, und 3 Mühlen auf das übelste ruinirt. Zerschiedene [!] Gattung Vieh, welche zum Theil das Wasser mit den Krippen an denselben angebunden, fortgeflözet, und davon noch an den Krippen angebunden in Horb und Rothenburg ausgestoßen, giengen hiebei zu Grunde. Fruchtbare Bäume, auch Felben und Aehrlen, wurden mit der Wurzel ausgerißen und fortgeflözt, oder wie Schilfrohr abgebrochen, obschon solche 1 und 2 Schuh dick gewesen. Mit dem ersten von Grund aus weggerißenen und eingestürzten Hauß haben ihr Leben, ohne menschmöglich geweßte Rettung, elendiglich eingebüßet, und sind erst am folgenden Tag unter dem Schutt wieder vorgefunden worden folgende Personen:

Anna Magdalena, Joh. Michael Zieglers, Bürger und Wagner allhier uxor [= Ehefrau], als hochschwanger, 35 Jahr, 8 Monate, 18 Tag

mit ihren nachstehenden Kindern:

Joh. Michael Ziegler, 11 Jahr, weniger 5 Tag

Margaretha Zieglerin, 3 Jahr, 6 Monat, 1 Tag

Johannes Ziegler, 1 Jahr, 6 Monat, 9 Tag

Welche 4 Personen in 2 Todtenbahren den 9. Julii nachmittags um 1 Uhr, in 2 Gräbern, unter allgemeiner Bedaurung und einer Menge Leutte, hochstlöblichem Gebrauch nach zur Erden bestattet wurden, und dabei eine richtende Predigt gehalten worden; und dann

Barbara Zieglerin, 4 Jahr, 7 Monate, 5 Tage

welches Kind von dem Wasser biß nach Leinstädt fortgeflözet, gegen einem ausgestellten Revers herausgegeben, und den 10. Julii bei eine Bettstund [= Betstunde] auf dem hiesigen Kirchhoff zu den obigen [genannten] beerdigt worden.“

Dieser detaillierte Eintrag ist eine seltene Dokumentation eines Wetterereignisses bzw. dessen Folge, in diesem Falle die Auswirkung von Starkregen an einem Ort auf einen anderen, regenfreien Ort. Den Bericht findet man nahezu wortgleich auch in der Pfarrbeschreibung für Glatten 1828. In der 1858 erschienenen Oberamtsbeschreibung Freudenstadt wird das Ereignis ebenfalls noch erwähnt.

 

Quellen:

Todeseintrag 07.07.1778 = Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Kirchenbücher des evangelischen Pfarramtes Glatten, Mischbuch 1743-1803, Totenregister 1743-1799, S. 28

Pfarrbeschreibung 1828 = Landeskirchliches Archiv Stuttgart, A 29, Nr. 1502, Qu. 1, S. 4f

Oberamtsbeschreibung Freudenstadt = Königliches statistisch-topographisches Bureau (Hrsg.): Beschreibung des Oberamts Freudenstadt. Stuttgart 1858, S. 228

Zerbombte Erinnerung

16. April 2020 | | ,

Heute vor 75 Jahren, am 16. April 1945, nur wenige Wochen vor Kriegsende, wurde Freudenstadt durch französische Bombenangriffe und Artilleriebeschuss großflächig zerstört. Feuer breitete sich ungehindert in der Innenstadt aus und erfasste auch die Stadtkirche mit den in der Pfarrei befindlichen historischen Tauf-, Ehe- und Sterberegistern. Durch Abschriften dieser Kirchenbücher sind die Daten weitgehend erhalten geblieben und können heute von Familienforschern beim Kirchenbuchportal Archion eingesehen werden.

Die originalen Kirchenbücher (siehe Bild) wurden damals geborgen. Später wurden die verkohlten Bücher ins Landeskirchliche Archiv verbracht, in der Hoffnung, dass es die Technik irgendwann möglich machen wird, sie zu lesen.