12. Juni 2024 | Uwe Heizmann | Bestand
Manuskripte von Predigten und Ansprachen sind nicht nur Quellen für die Forschung zu Predigten und Ansprachen an sich, sondern können auch die Haltung des Sprechers zu gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen widerspiegeln und sind damit auch hervorragende Quellen für die Forschung zur jeweiligen Person und deren gesellschaftliche und politische Entwicklung.
Private Nachlässe sind eine sinnvolle Ergänzung zur amtlichen Überlieferung in Form von Personal- und Ortsakten. Die amtliche Überlieferung gibt die Sicht des Dienstherrn auf eine Person wieder, die Nachlässe ermöglichen eine andere, eine private Sicht auf diese Person.
Erwin Raaf, Jahrgang 1909, begann 1936 seine Pfarrertätigkeit als Stadtvikar in Großbottwar, danach war er Pfarrverweser in Isingen, 1937 bis 1940 in Creglingen. 1940 wurde er auf die Pfarrstelle in Rosenfeld ernannt. Zum 12. September 1940, kurz nach seinem Stellenantritt, wurde er jedoch in die Wehrmacht eingezogen. Er diente zuerst in Frankreich, dann im „Ostraum“. Am 29. Juni 1941 wurde er in Russland schwer verwundet und ins Lazarett Greiffenberg in Schlesien verlegt. Später diente er zeitweise als Unteroffizier im Innendienst in Frankreich. Wegen Dienstunfähigkeit wurde er am 23. September 1942 aus dem Heeresdienst entlassen und konnte die Pfarrstelle in Rosenfeld antreten, die er bis 1957 innehatte. Danach war er bis 1967 Pfarrer in Klosterreichenbach, danach in Obertal (Baiersbronn). Zum 1. Mai 1975 wurde er offiziell in den Ruhestand versetzt, führte die Pfarrstelle aber noch einige Monate weiter. 1975 und 1976 übernahm er in Vakaturvertretung die Pfarrstelle in Dornstetten, 1980 und 1981 die in Fürnsal. Im Ruhestand lebte er in Unteriflingen, einem Ortsteil von Schopfloch (Lkr. Freudenstadt), wo er 2006 verstarb.
Raafs Nachlass (D 179,) enthält umfangreiche Predigtmanuskripte aus den Jahren 1934 bis 1987 (Umfang ca. 15 cm) sowie private bzw. persönliche Unterlagen, darunter auch Wehrmachts- und SA-Dokumente.
Von den Manuskripten sind zwei besonders hervorzuheben. Zum einen ist es die Predigt vom 14. Dezember 1941 in der Friedenskirche in Niederwiese bei Greiffenberg in Schlesien, wo Erwin Raaf nach seiner Verwundung im Juni 1941 einige Monate im Lazarett war. Zum anderen ist es die Ansprache bei der gemeinsamen Beerdigung eines deutschen und eines französischen Soldaten am 21. April 1945 in Brittheim, die leider durch Wasserschäden stellenweise unleserlich ist.
Neben den Predigten ist auch die Raafs Vortrag „60 Jahre Pfarrersleben“ von 1994 zu nennen, der auf Audiokassette und in Form von Audiodateien vorliegt.
Auch wenn der Bestand gerade einmal einen Umfang von 30 cm aufweist, so ermöglicht er dennoch eine Forschung zu Predigten aber auch zur Person Raafs über einen langen Zeitraum hinweg.
Im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart ist außerdem die Personalakte von Erwin Raaf überliefert (A 324, Nr. 2113).
Quellen:
– Ansprache 21.04.1945 aus: LKAS, D 179, Nr. 7
– Predigt 14.12.1941 aus: LKAS, D 179, Nr. 7
– Wehrpass aus: LKAS, D 179, Nr. 8
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Ansprache_1945-04-21_S-1
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Ansprache_1945-04-21_S-2
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Predigt_1941-12-14_S-1
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Predigt_1941-12-14_S-2
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Predigt_1941-12-14_S-3
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Predigt_1941-12-14_S-4
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Predigt_1941-12-14_S-5
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Predigt_1941-12-14_S-6
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Wehrpass_S-2f
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Wehrpass_S-32f
2. Februar 2022 | Andrea Kittel | Veröffentlichung
Dr. Götz Homoki mit seiner Dissertation
Eingefahrene, überkommene Vorstellungen von Studierenden existieren schon seit vielen Jahrhunderten: Da gibt es angeblich den braven Streber, der sich nur um sein Fortkommen an der Universität bemüht, den trinkfesten Partygänger und notorischen Ruhestörer, selbstbewusste Frauenhelden oder technikbegeisterte Nerds, die ständig vor dem Computer sitzen. Im Laufe der Zeit bewegten sich diese Studentenklischees stets zwischen fleißig und angepasst, also normkonform, auf der einen Seite und draufgängerisch und ungehorsam auf der anderen Seite. Freilich lag es dabei stets im Auge der Betrachtenden, ob das damit verbundene Verhalten getadelt oder gelobt, skandalisiert oder idealisiert wurde.
Aber wie haben sich in diesem Zusammenhang eigentlich die Stipendiaten des Stifts in Tübingen, die „Stiftler“, selbst gesehen und wie wurden sie von anderen gesehen? Wie haben einzelne junge „Stiftler“ im 17. und 18. Jahrhundert ihre Umwelt wahrgenommen und in ihr gehandelt? Diese und weitere Fragen hat unser Mitarbeiter Dr. Götz Homoki in seiner Doktorarbeit untersucht, die jetzt bei der Evangelischen Verlagsanstalt erschienen ist. Das 457 Seiten starke Werk trägt den Titel „Identität – Habitus – Konformität. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu württembergischen Herzoglichen Stipendiaten in der Frühen Neuzeit“.
Das Herzogliche Stipendium oder Stift in Tübingen war für Jahrhunderte eine über die Grenzen Württembergs hinaus bekannte und bedeutsame Ausbildungsstätte für protestantische Kirchenmänner. Die Einrichtung wurde 1536 von Herzog Ulrich gegründet, um nach der Reformation die Qualifizierung bekenntnistreuer Pfarrer sicherzustellen. Begabte männliche Landeskinder erhielten in der Folge freie Unterkunft und Verpflegung im ehemaligen Tübinger Augustinereremitenkloster. Die Lebensumstände der Stipendiaten, die an der Universität zunächst Philosophie und dann Theologie studierten, waren zugleich über Jahre hinweg von strengen Vorschriften geprägt. So wurde von den Stipendiaten unter anderem gefordert, sich im Stift alltäglich ausschließlich auf Latein zu unterhalten oder ständig bodenlange schwarze „Kutten“ zu tragen.
Götz Homoki untersucht in seiner Studie erstmals die ebenso weitreichenden wie langfristigen Auswirkungen der landesherrlichen Studienförderung auf das Selbstverständnis und die Verhaltensweisen Herzoglicher Stipendiaten in der Frühen Neuzeit. Anhand von Selbstzeugnissen, darunter auf Latein verfasste Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, zeigt er, dass das Denken, Wahrnehmen und Handeln einzelner Stipendiaten ganz im Zeichen einer christlich-humanistischen Gelehrsamkeit stand. Es unterschied sich damit deutlich von den ausschweifenden Gewohnheiten zechender, spielender, tanzender oder raufender Studenten: „Für die von mir untersuchten Stipendiaten war die Nichtüberschreitung der Norm die Normalität”, so Homoki zusammenfassend über seine facettenreiche Studie zum frühneuzeitlichen Studentenleben abseits des Verbotenen und Devianten.
Dr. Götz Homoki studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Latein in Tübingen und wurde an der Universität Stuttgart promoviert. Für seine Untersuchung zur Geschichte des Tübinger Stifts erhielt er ein dreijähriges Forschungsstipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst. Bereits 2019 wurde ihm für die vorliegende Arbeit der Johannes-Brenz-Preis für herausragende Arbeiten zur württembergischen Kirchengeschichte verliehen, den der Verein für württembergische Kirchengeschichte alle zwei Jahre auslobt. Im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart ist er aktuell mit der Erschließung zentraler Aktenbestände der württembergischen Kirchenleitung beschäftigt, außerdem ist er der verantwortliche Redakteur der „Blätter für württembergische Kirchengeschichte“ und betreut das Rezensionswesen der wissenschaftlichen Zeitschrift.
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„Das königliche Seminarium“ in Tübingen, Aquarell von L. Gottschick, 1808, (LKAS Museale Sammlung, 96.052)