Schlagworte: Frauenarbeit

100 Jahre Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg

29. März 2023 | |

Vor 100 Jahren wurde der „Bund evangelischer Frauenvereine Württemberg“ gegründet, in einer Zeit, die von den Folgen des 1. Weltkriegs geprägt war. Arbeitslosigkeit, Hyperinflation und unruhige politische Verhältnisse bestimmten das Leben. Was veranlasste evangelische Frauen in Württemberg, sich in diesem Jahr zusammen zu schließen? Das Engagement der bereits vorhandenen evangelischen Frauenvereine, die sich vorwiegend zur Linderung der sozialen Not gegründet hatten, sollte gebündelt und eine Zersplitterung vermieden werden. Als Teil der Evangelischen Frauenbewegung war mit der Gründung dieser Dachorganisation der Anspruch verbunden, die Frauenvereine zu vernetzen und Frauen in allen Lebenslagen zu unterstützen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten die 1919 entstandene Frauenabteilung des Evangelischen Volksbundes, das spätere Frauenwerk, der Verein der Freundinnen junger Mädchen, heute als Verein für internationale Jugendarbeit bekannt, und der Deutsch-Evangelische Frauenbund, der sich als dezidierter Teil der konfessionellen Frauenbewegung verstand. Der „Bund evangelischer Frauenvereine Württembergs“ hattes es sich auch zur Aufgabe gemacht, Stellung zu allen wichtigen gesellschaftspolitischen und weltanschaulichen Fragen nehmen. Zu den wichtigen Themen, mit denen sich die evangelischen Frauen in den folgenden Jahrzehnten auseinandersetzten, gehören der Umgang mit Schwangerschaftskonflikten (§218), Apartheid, Umweltschutz, Gentechnik, Gewalt gegen Frauen und Friedensfragen. Als Evangelische Frauen in Württemberg (EFW) arbeitet der Verband bis heute für eine gerechte Beziehung zwischen den Geschlechtern und begleitet Frauen in verschiedenen Lebensformen in ihrem spirituellen Leben.

Weitere Blog-Beiträge zu den Evangelischen Frauen siehe 31. Juli 2019 und 8. Oktober 2021.

Die meisten archivischen Quellen zur evangelischen Frauenarbeit in Württemberg finden sich hier: Bestand K6 Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg 

Meta Diestel (1877-1968) 145 Jahre

15. Juni 2022 | |

Königliche Kammersängerin, Gesangspädagogin, Volksseelsorgerin, Wohltäterin – all diese Facetten umfassen das Wirken der vor 145 Jahren geborene Meta Diestel (1877-1968).

Meta Diestel wurde 1877 in Tübingen in eine Theologenfamilie hineingeboren. Am Stuttgarter Konservatorium für Musik studierte sie Gesang und ihr stand eine große Karriere als Altistin bevor. Mit dem Titel „königliche Kammersängerin“ reiste sie durch viele Länder und erwarb sich einen hervorragenden Ruf, ganz besonders mit Bachoratorien. Doch dann kam der Erste Weltkrieg. „Wer konnte jetzt überhaupt noch singen?“, schrieb sie in ihrer Auto­bio­grafie „Ein Herz ist unterwegs“ (Nürnberg 1952, S. 53). Angesichts des Krieges traf die Künstlerin eine folgenreiche Entscheidung: Sie gab fortan Frontkonzerte und sang in Lazaretten. Darüber hinaus stellte sie sich ehrenamtlich in den Dienst kirchlicher Frauenverbände, gab Liederabende in deutschen Städten und Dörfern für Butter, Eier, Milch und Textilien, die dann an Kinderheime, Kindergärten und bedürftige Familien verteilt wurden. 1917 beteiligte sie sich an der Gründung einer Mütterschule in Stuttgart, der ersten Deutschlands.

An ihrem sozialen Engagement hielt sie auch nach dem Krieg fest. Es herrschten Arbeitslosigkeit, Inflation und Hungersnot. 1923 unternahm Meta Diestel eine Konzertreise in die USA mit 24 Aufführungen in New York und anschließender Tournee durch 16 Staaten: 130 Konzerte in 108 Tagen. Auf diese Art ersang sie tonnenweise Trockenmilch für Kinderheime in Deutschland. Aus der Königlichen Kammersängerin war eine „Speisekammersängerin“ geworden, wie sie sich selbst gern nannte.

In den 1920er Jahren kam sie in Kontakt mit der Jugendmusik­bewegung. Sie entdeckte die gemeinschaftsstiftende Kraft des Gesangs und damit auch einen neuen Zugang zur biblischen Botschaft. Sie ließ sich zur Singleiterin ausbilden, dirigierte große Singgruppen und veranstaltete an vielen Orten das von ihr eingeführte „Müttersingen“. Die evangelischen Frauenverbände rissen sich um sie.

Wer das einmal miterlebt hat“, schrieb der Berliner evangelische Bischof Otto Dibelius, „wie diese Frau vor eine Versammlung von 300 oder 600 oder 800 Frauen trat, wie unter ihrem Wort und unter ihrer fortreißenden Leitung die gleichgültigen, sorgenvollen, vielfach stumpf gewordenen Gesichter sich allmählich erhellten, sich immer mehr auflockerten, bis zum Schluss der Singstunde lauter fröhliche Menschen in einen froh bewegten Lobgesang einstimmten – der vergisst das nicht wieder. Hier geschah Seelsorge großen Stils.“ (Otto Dibelius, Geleitwort zu Meta Diestel, Ein Herz ist unterwegs, Nürnberg 1952, S. 5 f).

Ein Großteil ihres Einsatzes galt dem 1933 gegründeten evangelischen Bayerischen Mütterdienst. Zur NS-Mütterarbeit hielt sie entschieden Distanz. Unermüdlich zog sie durch die Müttererholungsheime oder hielt Singstunden ab mit den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen auf den jährlichen Arbeitstagungen des Mütterdienstes. Die Müttersingstunden führten sie auch während des Zweiten Weltkrieges durch ganz Deutschland, egal wie mühsam und gefährlich die Anfahrt war – in überfüllten Zügen mit einem Rucksack voller Liederbücher, manchmal unter Tieffliegerbeschuss.

Ein solcherart beruflich aktives Leben bedeutete für Frauen dieser Zeit oft Verzicht auf Ehe und Familie. Meta Diestel wollte ihren Lebensweg nicht allein gehen. In den 1920er Jahren begegnete sie im Umfeld der evangelischen Frauenverbände Heidi Denzel (1893-1975), der Geschäftsführerin der Frauenabteilung des Evangelischen Volksbundes, die in der Frauenarbeit engagiert war wie sie selbst. Die beiden Frauen verstanden sich sofort und wurden schließlich Lebensgefährtinnen. Ihr gemeinsamer Haushalt in Stuttgart-Degerloch war lebhaftes Zentrum für Geschwister, Neffen und Nichten beider Familien sowie für einen weit gefassten Kreis von Gleichgesinnten.

Eine Herzerkrankung zwang Meta Diestel sich 1955 aus dem aktiven kirchlichen Dienst zurückzuziehen. Dennoch unterstützte sie, soweit es ging, wohltätige Einrichtungen und organisierte Hilfspakete für die DDR.

Für ihre künstlerischen und sozialen Verdienste wurde Meta Diestel 1957 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz gewürdigt. 1968 starb sie mit 91 Jahren. Sie ist auf dem Alten Friedhof in Stuttgart-Degerloch begraben.

Im Landeskirchlichen Archiv gibt es zahlreiche Quellen und Objekte, die das facettenreiche Leben und Engagement dieser Frau dokumentieren.

 

Quellen LKAS:

Film Meta Diestel und Heidi Denzel 1962 in ihrer Wohnung in Stuttgart-Degerloch  (auf dem Youtube-Kanal des Landeskirchlichen Archivs)

Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg K 6

Frauenwerk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg K 17

Evangelische Frauen in Württemberg (EFW) K 38

Personalakte Meta Diestel

Personalakte Heidi Denzel

Konvolut Briefe von Meta Diestel an Heidi Denzel (noch unverzeichnet)

 

Literatur:

Meta Diestel, Ein Herz ist unterwegs: aus Leben und Arbeit, Nürnberg 1952

Meta Diestel, Vom Müttersingen. Evang. Frauenhilfe in Württemberg, Stuttgart, ca. 1960