Ein Wandbild in der Strümpfelbacher Kirche und die Aktualität Luthers in Zeiten von Hass, Gewalt und Krieg

31. Oktober 2023 | |

Stellen wir uns einmal vor, Martin Luther hätte 1517 in Wittenberg nicht seine 95 Thesen unter die Menschen gebracht, hätte sich nicht für die Bedeutung des Wortes in der Predigt, für die Feier des Abendmahls in beiderlei Gestalt, für die Kindertaufe und für die Musik im Gottesdienst eingesetzt? Was wäre geschehen, wenn er nicht davon gesprochen hätte, dass die aufwendige Glaubenspraxis der damaligen christlichen Kirche eben nicht dem wahren Glauben an Jesus Christus diente? Dann hätte es zumindest im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts keine kriegerischen Auseinandersetzungen um den rechten christlichen Glauben gegeben, dann wären keine Klosterkirchen aufgelöst und keine neuen Gottesdienstordnungen eingeführt worden. Kurz, es wäre zunächst alles beim Alten geblieben. Aus protestantischer Sicht wäre der Verlust gleichwohl hoch gewesen, profitieren wir doch auch noch heute von der Einrichtung neuer Schulen zur Unterweisung im neuen Glauben und zur Förderung der allgemeinen Bildung, von der Bibel in einer einheitlichen deutschen Sprache und von Gottesdiensträumen, in denen Altar, Kanzel, Taufbecken und Orgel gleichermaßen dem Wort Gottes dienen und damit gleichwertige Ausstattungsstücke sind. Es hätten sich keine Gottesdiensträume entwickelt, in denen z.B. der Altar in der Mitte der Kirche steht, es gäbe keine Kanzelaltäre, in denen Altar, Kanzel und Orgel übereinander angeordnet sind, es hätte aber auch keine so ausgeprägte Entwicklung des Kirchenliedes gegeben, denn wir kennen nicht nur „Ein feste Burg ist unser Gott“ oder „Vom Himmel hoch da komm ich her“, sondern viele andere Lieder mehr. Denn Martin Luther war nicht nur Augustinermönch, Theologe, Professor und Reformator, sondern auch Dichter und Musiker.

Wandbild in der Pfarrkirche St. Jodokus in Strümpfelbach. LKAS, Inventarisation, Bilder, DA Waiblingen, Strümpfelbach, Nr. 276

Lucas Cranach d.Ä. (Werkst.), Porträt des Martin Luther (Lutherhaus Wittenberg). Wikimedia Commons (Gemeinfrei)

Trotz seiner vielseitigen Persönlichkeit wurde Martin Luther immer wieder in Anlehnung an das von Lucas Cranach (1472-1553) gemalte Porträt von 1528 mit schwarzem Talar, Barett und strengem Gesichtsausdruck dargestellt, obwohl Luther selbst geäußert hatte, er wolle mit einem Schwan porträtiert werden, und zwar in Anlehnung an eine Prophezeiung, die der damals in Konstanz gefangene böhmische Reformator Jan Hus (um 1370-1415) Ende 1414 geäußert hatte. Man werde im Gefängnis eine Gans braten – denn Hus heißt auf Deutsch Gans -, aber nach hundert Jahren werde man einen Schwan singen hören. In einer Glosse von 1531 bezog Luther diese Aussage von Hus auf seine eigene Person. So entstand die Bildtradition von Luther und dem Schwan. Ein erstes Motiv dieser Art stammt aus dem Jahr 1603 von Jacob Jacobs und hängt in der Hamburger Hauptkirche St. Petri. Ein weiteres Beispiel aus der Evangelischen Landeskirche in Württemberg ist das 1698 von Georg Friedrich List geschaffene Wandbild in der Pfarrkirche St. Jodokus in Strümpfelbach im Kirchenbezirk Waiblingen. Wie in Hamburg steht auch in Strümpfelbach Martin Luther im schwarzen Talar im Mittelpunkt des Bildes. In Strümpfelbach hält er die aufgeschlagene Bibel in den Händen, während über ihm ein Engel mit Buch und Ring schwebt. Der Engel symbolisiert den himmlischen Schutz der Bibel und der neuen Lehre, mit der Martin Luther durch den Ring eng verbunden ist. Links von Luther steht eine Säule auf einem Sockel mit dem Christusmonogramm als Symbol für den rechten Glauben an Jesus Christus und die Standhaftigkeit Martin Luthers. Rechts von Luther steht ein Schwan mit weit geöffnetem Schnabel, der sich der Person Luthers zuwendet, als Symbol für die Fortdauer der Reformation.

Gesteigert wird das auf Pfarrer Magister Georg Ludwig Schmidlin fußende Bildprogramm, dessen Anfangsbuchstaben auf dem Sockel unter der Säule zu finden sind, durch die Inschrift auf dem Postament der Säule, in der es folgendermaßen heißt: “Der Engel schwebt, Lutherus steht, was Er gelehret,// das bleibet ewiglich. Stoppeln und hew verzehret// das Feuer. Der Schwan singt. Ein Schaar, die mild, Fürbild// und Gegenbild heiligt, als Christi Ehrenschild”.

Das Wandbild Martin Luthers mit dem Schwan in der Pfarrkirche St. Jodokus in Strümpfelbach zeigt also in besonderer Weise die Aktualität Martin Luthers als Fürsprecher der Reformation, als jemanden, der für seinen Glauben einsteht und für diesen kämpft. Gerade in der heutigen Zeit, geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen in der ganzen Welt, ist ein deutliches Zeichen für das Eintreten für das Wort Gottes, für die Würde des Menschen und die Menschlichkeit wichtiger denn je.

Beitragsbild: Inschrift Lutherbild Strümpffelbach. LKAS, Inventarisation, Bilder, DA Waiblingen, Strümpfelbach, Nr. 281

Begegnung im Archiv: Wer sind unsere Nutzerinnen und Nutzer? Teil 11

25. Oktober 2023 | |

Wir treffen Dr. Peter Poguntke. Der Historiker, Politologe und Journalist erarbeitet derzeit eine Broschüre zur Geschichte des Hospitalhofs in Stuttgart, die zum Jubiläum des neuen Hospitalhofs erscheinen soll. Das evangelische Bildungszentrum in der Stuttgarter Innenstadt wurde im Jahr 2014 eröffnet und wird kommendes Jahr zehn Jahre alt. Die Broschüre wird die bewegte Geschichte des Gebäudes nachzeichnen. Als Dominikanerkloster erbaut wurde es nach der Reformation zu einem Krankenhaus umgewidmet, dem namengebenden Hospital. Ende des 19. Jahrhunderts war es zunächst Standort des Polizeiamts, dann der Kriminalpolizei. Zudem wurde dort ein Polizeigefängnis eingerichtet.

Herr Dr. Poguntke recherchiert unter anderem im Stadtarchiv Stuttgart, im Staatsarchiv Ludwigsburg und im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Die Überlieferungslage für die Nutzung des Hospitalhofs als Sitz der Kriminalpolizei ist ungünstig, da das Gebäude 1944 bei einem Luftangriff einen Volltreffer erhalten hat, so dass die Akten verlustig gegangen sind.  Im Landeskirchlichen Archiv nimmt er vor allem Einsicht in die Personalakte von Pfarrer Helmut Goes, der als politischer Gefangener in diesem Polizeigefängnis inhaftiert war.

“Und zwar war Helmut Goes als politischer Gefangener nicht von der Kripo, sondern von der Gestapo festgenommen worden. Er wurde aufgrund eines Spottgedichts auf Hitler und die Nazis, das er 1931 verfasst hatte, verhört. Auf eine Anklage wurde damals jedoch verzichtet. Der Reichsminister entschied hingegen, dass Helmut Goes und die Beteiligten streng verwarnt werden sollten. Für eine Anklage war es eventuell zu früh. Als Goes inhaftiert wurde waren die Nationalsozialisten noch nicht lange an der Macht. Die Justiz war nicht ganz gleichgeschaltet. Außerdem hätte im Falle einer Anklage festgestellt werden müssen, dass Goes sein Spottgedicht noch zu einem Zeitpunkt verfasst hatte, als die Tat noch keinen entsprechenden Straftatbestand dargestellt hätte.”

 

 

Pfarrer und Gelehrter – zur Würdigung von Dr. Christoph Weismann (1940-2014)

18. Oktober 2023 | |

Am Freitag, 6.10.2023, fand mit circa 70 Gästen aus Nah und Fern ein Festakt zur Würdigung des Gelehrten Dr. Christoph Weismann im Lesesaal von Archiv und Bibliothek statt. Professor Dr. Hermann Ehmer, ehemaliger Referatsleiter von Archiv und Bibliothek, hielt den Festvortrag und konnte mit vielen Anekdoten aus dem Leben des Gelehrten Begeisterung hervorrufen. Dr. Weismann besaß eine private Bibliothek mit ca. 14 000 Büchern. Diese sowie andere handschriftliche Archivalien wurden inzwischen dem Archiv der Landeskirche und der Evangelischen Hochschul- und Zentralbibliothek überlassen. Eine kleine Ausstellung wurde im Foyer aufgebaut. Auch das Manuskript seiner Brenz-Bibliographie, die 2016 fertiggestellt und herausgegeben wurde, ist in einer der Vitrinen zu bestaunen.

Fotos: Landeskirchliches Archiv Stuttgart

Dokumente aus dem Turmknauf in Winnenden

12. Oktober 2023 | |

Turmkugel auf der Spitze der Stadtkirche Winnenden. Foto: Evangelische Kirchengemeinde Winnenden

Turmkugel auf der Spitze der Stadtkirche Winnenden. Foto: Evangelische Kirchengemeinde Winnenden

Bei der Renovierung der Stadtkirche St. Bernhard in Winnenden stellte sich die Frage nach dem Verbleib der Zeitkapsel in der Turmkugel. Die Turmkugel bzw. der Turmknauf ist eine runde, vergoldete Metallkapsel, die auf der Turmspitze unterhalb des Turmkreuzes angebracht ist. Aufgrund ihrer relativen Unzugänglichkeit galten Turmknäufe als sichere Aufbewahrungsorte für historische Zeugnisse aus der Bauzeit, wie zum Beispiel Zeitungen oder Münzen der damaligen Zeit, die man der Nachwelt überliefern wollte. Für die darin aufbewahrten Dokumente bürgerte sich die Bezeichnung „Kirchturmknopfakte“ oder „Turmakten“ ein. Zu den darin zu erwartenden Dokumenten gehören neben Aufzeichnungen der jeweiligen Kirchengemeinde auch Auszüge aus Geburts- und Sterberegistern sowie Berichte über besondere Ereignisse zur Bauzeit.

Die Zeitkapsel wurde anlässlich der Renovierung herausgenommen und geöffnet. Unsere Kollegin Birgitta Häberer wurde von der Kirchengemeinde kontaktiert und mit der Recherche zum Turmkugelarchiv beauftragt. Die Pfarrerin Heike Bosien besuchte unser Archiv und sichtete gemeinsam mit Frau Häberer verschiedene Akten aus dem Pfarrarchiv. Tatsächlich wurden die Dokumente bereits 1823 und dann 1977 transkribiert und im letztgenannten Jahr sogar im Gemeindebrief veröffentlicht. Auch die Umstände der Anfertigung der Turmkugel konnten durch die Korrespondenz geklärt werden. Inzwischen befindet sich die restaurierte Turmkugel wieder an ihrem Platz auf der Kirchturmspitze.

Die Turmkugel enthielt eine Kapsel mit Dokumenten aus den Jahren 1698, 1715, 1752, 1793, 1948 und 1977. Immer wieder musste die Turmkugel aufgrund von Materialermüdung, Blitzschlag oder Kriegseinwirkungen repariert oder ausgebessert werden, wie aus den Texten hervorgeht. Die Dokumente in der Zeitkapsel enthalten spannende Informationen über Naturereignisse, historische Ereignisse und technische Entwicklungen. Bei den diesjährigen Renovierungsarbeiten wurden der Zeitkapsel weitere Dokumente beigefügt.

Beitragsbild: Evangelische Kirchengemeinde Winnenden

 

Transkription der Dokumente in der Zeitkapsel (1977):

 

Die Auswirkungen der Hyperinflation von 1923 auf eine Kirchengemeinde (Stuttgart-Stammheim)

4. Oktober 2023 | |

„Nach dem heutigen Stand werden betragen die Gesamteinnahmen 1923 höchstens 1 Milliarde, die Ausgaben … zus. 46 Milliarden … “, stellt das KGR-Protokoll der Kirchengemeinde Stuttgart-Stammheim (damals noch Dekanat Ludwigsburg) am 6. Oktober 1923 lapidar fest und konstatiert damit ein Haushaltsdefizit von sage und schreibe 45 Milliarden Mark. Diese astronomischen Summen sind der traurige Höhepunkt einer Entwicklung, die bereits mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 begann und sich Anfang des Jahres 1923 rapide beschleunigte. Dieses Phänomen nennen die Fachleute „Inflation“ bzw. „Hyperinflation“.

Als „Inflation“ (von lat. Inflare = aufblasen, aufblähen) bezeichnet man den Wertverlust einer Währung bzw. deren Kaufkraft aufgrund der stetig wachsenden Geldmenge ohne Gegenwert (wie etwa Gold) innerhalb eines Wirtschaftssystems. Mit dem Ende des Krieges 1918 hatte die Mark bereits offiziell mehr als die Hälfte ihres ursprünglichen Wertes verloren, das heißt, man bekam im In- und Ausland also nur noch halb so viel für sie wie noch 1914. Hauptursache der sich eigentlich schon ab 1919 anbahnenden Hyperinflation war die Tatsache, dass der Staat in den Anfangsjahren der Weimarer Republik massiv und unkontrolliert zur Vermehrung des eigenen Papiergeldes die Druckerpressen anwerfen ließ, um seine Schulden zu begleichen (vor allem die Reparationen an die Siegermächte aufgrund des verlorenen Krieges). Im Zuge der Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen Anfang 1923 begann die heiße Phase der Hyperinflation, die schließlich zum Zusammenbruch der Wirtschaft und des Bankensystems führte. Die Arbeitslosigkeit stieg, die Reallöhne fielen ins Bodenlose. Immer schneller vervielfachte sich die Abwertung der deutschen Währung. So betrug der Gegenwert eines US-Dollars nach dem amtlichen Wechselkurs vom 12. November 1923 630 Milliarden Mark.

Auch die Stammheimer Kirchengemeinde geriet in den Strudel dieser Ereignisse. Am 10. Januar 1922 wurden sämtliche Jahresgehälter der hauptamtlichen Mitarbeiter mit Wirkung vom 1. April des Jahres um durchschnittlich mindestens 50% erhöht (§4). In der Sitzung vom 28. Juni wurde festgestellt, dass offenbar immer weniger Mitglieder des Kirchenchors dazu bereit waren, bei Beerdigungen zu singen – und das, obwohl „die Verlegung der Leichen auf 1 Uhr“ vorgenommen wurde. „Von verschiedenen Seiten wird darauf hingewiesen, dass eben die Bezahlung von 5 M in keinem Verhältnis stehe zu der Zeitaufwendung. Deshalb beschließt der KGR eine Erhöhung auf 15 Mark pro Sänger. Die Mehrkosten von geschätzten zwei- bis dreitausend Mark im Jahr trägt die Kirchengemeinde, weil man verhindern will, dass finanziell schlechter gestellte Familien eine Umlegung dieser Gebühr nicht verkraften und daher auf einen „Leichengesang“ verzichten würden (§1). Zudem wurde wegen der Geldentwertung auch die Pfarramtskasse aufgestockt, aus deren Mitteln der Seelsorger Bedürftige in der Gemeinde unterstützen kann (§2). Bereits am 24. September mussten die Gehälter sowie die Gebühren für kirchliche Amtshandlungen von Pfarrer Emil Gayler erneut angepasst werden. So erhielt etwa der Kirchenpfleger rückwirkend zum 1. April statt bisher 600, künftig 1.200 Mark als jährliches Grundgehalt (§§ 1 und 2). Am 28. Dezember war der Kirchenpfleger nicht mehr zahlungsfähig, weil schlicht kein Geld in der Kasse war. Deshalb wurde er per Umlaufbeschluss ermächtigt, einen Bankkredit in Höhe von 12.000 Mark aufzunehmen, um die ab 1. Januar 1923 fälligen Verbindlichkeiten bedienen zu können. Weil die Kirchengemeinde sie nicht mehr finanzieren konnte, sollten Brautpaare künftig nur noch dann eine Traubibel überreicht bekommen, wenn sie diese selbst bezahlen (5. Januar, §6). Um Geld zu sparen, wurde auf die Mitwirkung von Organist Oberlehrer Bäuerle bei den insgesamt ca. 40 sonntäglichen Christenlehren im Jahr verzichtet (1. März, §3). Vom 1. April bis 30. Juni wurden dem Kirchenpfleger am 5. Juni monatlich je 10.000 Mark zugesprochen (§2).

Zu einem lokalen Politikum entwickelte sich in diesen bewegten Zeiten die Entlohnung des Mesners. Hier galt seit 1905 die Regelung, dass die bürgerliche Gemeinde einen jährlichen Personalkostenersatz für das im Interesse der Kommune erforderliche Läuten und den Unterhalt der Glocken der Johanneskirche in Höhe von 281 Mark leistete. In diesen Zeiten der Geldentwertung ein Witz! Deshalb wurde unter §3 beschlossen, an die bürgerliche Gemeinde heranzutreten, dass diese sich künftig zur Hälfte am tatsächlich anfallenden Grundgehalt beteiligt (vierteljährige Zahlung auf Nachweis!). Am 19. Juni teilte das „Schultheißenamt“ dem Kirchengemeinderat jedoch mit, dass dessen Antrag auf eine zeitgemäße Beteiligung der Kommune an den Personalkosten der Mesnerstelle in der Sitzung des Gemeinderats auf heftigen Widerstand gestoßen war. „Insbesondere wurde ins Feld geführt, dass die Kirche den Ausgetretenen das Grabgeläut verweigere. Darum sei kein Grund vorhanden, dieser Bitte des K.G. Rats entsprechend weitere Teile der Mesnerbesoldung … auf Gemeindesteuermittel zu übernehmen. Es wurde u.a. auch die Drohung ausgesprochen, dass die Kirchenaustrittsbewegung, im Falle die Mehrheit des G. Rats die Sache doch bewillige, hier sofort neu aufleben werde, außerdem drohe ‚die Linke‘ mit Ablehnung des Gemeindeetats. Herr Schultheiß hielt es darum für richtig, eine Abstimmung zu verschieben, und den K.G. Rat anzugehen zur Wahrung des Burgfriedens in der Gemeinde Stammheim, wo nun einmal besondere Verhältnisse vorliegen.“ Doch er konnte das Gremium nicht dazu bewegen, seinen Antrag zurückzuziehen. Dieses sah sich vielmehr in der Pflicht, sämtliche Finanzquellen zu erschließen, die sich der Kirchengemeinde boten. Die weiteren Ereignisse machten eine Entscheidung des Gemeinderats freilich überflüssig.

Die Situation wurde immer aberwitziger und auswegloser, die gefassten Beschlüsse konnten mit der rasenden Geldentwertung schließlich nicht mehr Schritt halten: Am 14. September wurde das Jahresgehalt (1. April 1923 bis 31. März 1924) des Kirchenpflegers schließlich auf 10 Millionen Mark erhöht (§2) und es wurde festgestellt, dass das voraussichtliche Haushaltsdefizit des Jahres 1923 mindestens 212 Millionen betragen würde (§4). Unter diesen Umständen sah sich das Gremium außer Stande, einen ordnungsgemäßen Etat zu beschließen. Am 6. Oktober wurde der bereits eingangs zitierte Abmangel für das laufende Jahr von mittlerweile 45 Milliarden Mark prognostiziert. Finanziell gesehen, war die Kirchengemeinde Stammheim somit faktisch abgesoffen …

Mit der Beendigung der Ruhrkrise durch Reichskanzler Gustav Stresemann Ende September 1923 konnten endlich auch konkrete Schritte zur Stabilisierung der Währung unternommen werden. Herzstück der Währungsreform war die Schaffung der Rentenbank durch Regierungsverordnung. Damit sich die Inflationsspirale nicht erneut zu drehen begann, wurde die Gesamtsumme des sich im Umlauf befindlichen neuen Geldes auf 1,2 Milliarden sogenannter „Rentenmark“ begrenzt. Die vorhandenen Geldscheine wurden umgetauscht, für 1.000 Milliarden Papiermark gab es eine Rentenmark. Diese Maßnahmen griffen schneller als erwartet, sowohl die wirtschaftlichen als auch die innenpolitischen Verhältnisse Deutschlands konnten sich im Verlauf des Jahres 1924 nachhaltig stabilisieren. Denn die Produzenten waren bereit, ihre Waren gegen das neue Geld abzugeben.

Und so begegnen uns auch in der Stammheimer Kirchengemeinde am 18. Dezember 1923 wieder humane Zahlen: Der Kirchenpfleger verdiente künftig jährlich 120 Rentenmark, der Mesner 200, was bedeutet, dass der nach wie vor vertraglich festgesetzte jährliche kommunale Personalkostenersatz von 281 RM wieder mehr als ausreichend war (§3). Das Restvermögen der Kirchengemeinde betrug umgerechnet insgesamt noch 135.000 RM (§4). Allein aus 1922 noch ausstehende Kirchgeld-Einnahmen von Gemeindegliedern in Höhe von ca. 20.000 RM mussten endgültig abgeschrieben werden (§5). Es ist schon ziemlich viel Geld „verreckt“, damals …

 

 

Dieser Beitrag erschien in einer umfangreicheren Version zunächst auf dem Internetauftritt des Stuttgarter Kirchenbezirks.  Der Autor Thomas Mann hat den Beitrag für unseren Blog freundlicherweise leicht überarbeitet und gekürzt. Pfarrer Thomas Mann ist Seelsorger an der Stuttgarter Magdalenengemeinde und Referent des Stuttgarter Stadtdekans.

Beitragsbild: Geldscheine aus dem Jahr der Hyperinflation 1923. Fotograf: Thomas Mann