28. April 2021 | Eberhard Fritz | Kunstgeschichte, Lokalgeschichte
Es gibt bis heute in Wilhelmsdorf keine evangelische Kirche. Mittelpunkt der Gemeinde ist ein heller Saal ohne jeden Schmuck, aber auch ohne Altar und Kanzel. Nur eine Orgel befindet sich im Saal. Schon diese architektonische Gestaltung weist auf den Charakter der Gemeinde als Brüdergemeinde hin. Der Gottesdienst wird nicht vom Pfarrer dominiert, sondern von der Gemeinde gestaltet. Der Saal ist auf den Brüdertisch ausgerichtet, an dem mehrere Personen sitzen und den biblischen Text auslegen. Früher konnten nur Männer in den Brüdergemeinderat gewählt werden, aber heute sind die Frauen gleichberechtigt, obwohl das Gremium seinen Namen behalten hat.
Der Betsaal wurde vier Jahre nach der Begründung der Siedlung gebaut. König Wilhelm I. von Württemberg, nach dem die Siedlung benannt wurde, stiftete nicht nur das Bauholz, sondern nach der Einweihung des Betsaals noch eine Orgel. Auch in der äußeren Architektur spiegeln sich die theologischen Überlegungen wider. Der Saal hat vier Eingänge, die nach den vier Himmelsrichtungen ausgelegt sind. Über den vier Türen sind Engel mit Posaunen als metallene Figuren zu sehen. Auf der Spitze steht das Lamm Gottes. All dieses nimmt Bilder aus der Johannesapokalypse oder der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, auf.
Die württembergischen Pietisten wollten mit ihrer Siedlung auch schon äußerlich ihre religiösen Überzeugungen zum Ausdruck bringen. Deshalb legten sie die Siedlung planmäßig an, indem sie die Wohnhäuser kreisförmig um den Betsaal bauten. Kein Wohnhaus sollte höher sein als das andere, damit sich die eine Familie nicht über die andere erheben konnte. Lange Zeit gab es kein Gasthaus am Ort, weil man den übermäßigen Alkoholgenuss und das Kartenspiel um Geld verabscheute. Dagegen spielte der Handel bald eine wichtige Rolle, weil die Kaufleute am Ort als ehrliche Leute galten und in einem guten Ruf standen. Vom Betsaal führen vier Straßen in der Form eines Kreuzes weg. So hat sich die Grundstruktur der ursprünglichen Siedlung bis heute erhalten.
Zweifelsohne war Wilhelmsdorf von der pietistischen Siedlung Herrnhut, einer Siedlung im Süden des Freistaats Sachsen, beeinflusst.
Wichtig ist die Bedeutung der Offenbarung des Johannes, weil die Pietisten fest damit rechneten, dass Jesus im Jahr 1836 wiederkommen würde. Das hatte der bekannte pietistische Theologe Johann Albrecht Bengel durch komplizierte Berechnungen aus der Bibel errechnet. Was heute etwas seltsam erscheinen mag, beschäftigte die Menschen damals sehr, auch deshalb, weil sie viel Not durchmachen mussten. Diese Erwartungshaltung wurde zu einer wichtigen Triebfeder der Siedlung Wilhelmsdorf, denn wenn das Ende der irdischen Welt nahe bevorstand, brauchte man eigentlich keinen äußeren Luxus mehr.
Beachten Sie auch den umfangreicheren Beitrag zum Thema auf Württembergische Kirchengeschichte Online.
23. April 2021 | Andrea Kittel | Bestand
In der Musealen Sammlung des Landeskirchlichen Archivs befinden sich mehrere historische Schaugläser mit Chinarinde aus verschiedenen Regionen der Welt. Die Rinde ist der Rohstoff für „Chinin“, das seit dem 17. Jahrhundert zur Therapie der Malaria verwendet wird. Malaria tritt vorwiegend in tropischen und subtropischen Klimazonen auf, wo sie durch den Stich einer weiblichen Stechmücke der Gattung Anopheles übertragen wird.
Um Tropenkrankheiten wie diese zu erforschen und zu bekämpfen, wurde im Jahr 1906 das Deutsche Institut für Ärztliche Mission (DIFÄM) gegründet. In Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen bereitete man Ärzte, Schwestern und Missionare auf ihren Auslandsaufenthalt vor und vermittelte neben medizinischem Basiswissen speziell auch Kenntnisse in Tropenmedizin. Für den Anschauungsunterricht baute das DIFÄM eine Lehrsammlung auf, aus der die Schaugläser stammen. In den Räumen der 1916 erbauten Tropenklinik (damals „Tropengenesungsheim“) informierte zusätzlich eine Ausstellung über die Erkenntnisse und Maßnahmen der Tropenmedizin in verschiedenen Regionen der Welt.
Das DIFÄM ist heute Träger der „Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus“ in Tübingen und der „Akademie für Gesundheit in der Einen Welt“. Inhaltliche Schwerpunkte sind die Prävention und Behandlung von HIV und Aids, Malaria, Tuberkulose und anderen Infektionskrankheiten. Das DIFÄM leistet Beratung und finanzielle Unterstützung für Projekte von Partnerorganisationen und ist engagiert im Verband entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisationen sowie in kirchlichen Netzwerken.
Noch immer sterben knapp eine halbe Million Menschen weltweit jährlich an Malaria. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist sie mit etwa 200 Millionen Erkrankten pro Jahr die häufigste Infektionskrankheit der Welt. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich die Therapiemöglichkeiten vervielfacht. Dennoch sind chininhaltige Präparate bis heute von Bedeutung.
Ein Impfstoff gegen Malaria schien lange Zeit nicht in Sicht. Mittlerweile scheint ein Durchbruch gelungen und ein Produkt befindet sich im Zulassungsverfahren.
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Schaugläser mit Chinarinde aus Peru und Ecuador, um 1920 (Museale Sammlung, DIFÄM, Inv. Nrn. 13.093 und 13.094)
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Malaria-Broschüre (Museale Sammlung, Nachlass Missionsarzt Lutz, um 1930, Inv. Nr. 10.121)
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Ausstellung im „Tropengenesungsheim“ in Tübingen, um 1930 (DIFÄM, Bild 52 und 49). Hier: Tropenkrankheiten
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Tropenbett und Rollmöbel
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Die Tropenklinik um 1930 (DIFÄM, Bild 29)
Das Inventar des Bestands im Landeskirchlichen Archiv finden Sie hier.
19. April 2021 | Andrea Kittel | Bestand, Museale Sammlung
Welch große Folgen ein kleines Virus haben kann, ist uns allen in den letzten Monaten deutlich geworden. Auch die hier in Schaugläsern gesammelten winzigen Tsetsefliegen haben es in sich: Sie übertragen die gefürchtete Schlafkrankheit, die in Afrika ganze Landstriche außer Gefecht setzt.
Um Tropenkrankheiten wie diese zu erforschen und zu bekämpfen, wurde im Jahr 1906 das Deutsche Institut für Ärztliche Mission (Difäm) gegründet. Die Initiative ging auf den christlich geprägten, sozial engagierten Stuttgarter Unternehmer Paul Lechler (1849 – 1925) zurück, der durch einen Missionsarzt der Basler Mission auf das Elend in Indien und anderen tropischen und subtropischen Ländern aufmerksam geworden war. Bereits 1909 konnte in Tübingen das Institutsgebäude des Difäm eingeweiht werden. In Kooperation mit der Universität wurden dort Ärzte und Pflegekräfte sowie Theologen der verschiedenen Missionsgesellschaften auf ihren Auslandsaufenthalt vorbereitet und in Tropenmedizin und medizinischem Basiswissen unterrichtet. 1916 wurde ein großes Genesungsheim für Tropenheimkehrer errichtet – das heutige Paul-Lechler-Krankenhaus, das als Spezialklinik für Tropenkrankheiten noch heute einen weit über Missionskreise hinausgehenden internationalen Ruf genießt.
Für den tropenmedizinischen Unterricht baute das Difäm früh schon eine Schausammlung auf. Neben dem Wissen über Krankheitserreger und Überträger beschäftigte man sich auch mit tropischen Heilpflanzen und medizinischen Rohstoffen sowie mit und Bräuchen und Heilpraktiken der jeweiligen Kulturen. Ein Teil dieser Anschauungsmittel aus der Epoche zwischen 1910 und 1930 kamen mit dem Archivbestand des Difäm im Jahr 2013 in die Museale Sammlung des Landeskirchliche Archiv Stuttgart.
Beachten Sie auch den ausführlichen Beitrag von Jakob Eisler zum Difäm auf WKGO.
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Inv. Nr. 13.097 Schachtel mit gelben Harzbrocken; Deckel von Hand beschriftet: “Resina-Dammar”; “Vaterland: Ostindien, Hinterindien”. Dammar-Harz wurde u. a. für die Herstellung von Kaupastillen in der Tropenmedizin verwendet.
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Inv. Nr. 13.074 “Guttapercha” Pflanzenmodell mit Produktbeispiel in Schachtel mit Deckel; Botanische Bezeichnung. Jauch-Stein’sche Flora artefacta.
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Inv. Nr. 13.100 „Fieberrindenbaum”. Ausländische Kulturpflanzen und farbige Wandtafeln, nach H. Zippel, bearbeitet von O. W. Thome, gezeichnet von Carl Bollmann; Verlag Friedrich Vieweg & Sohn, Braunschweig
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Inv. Nr. 13.121 Schaukasten “Medizin der Kaffern”. Enthält 9 verschiedene Pflanzenteile mit Namen und Beschreibung der Anwendung und Heilwirkung, z. B. „Weißer Quirie: gegen Durchfall, wird getrocknet, gemahlen und mit kochendem Wasser übergossen.“ “Kaffer” war damals ein Sammelbegriff für südafrikanische Völker, zunächst nur für die Xhosa später auch für andere Völker der Bantu-Sprachgruppe. Der Gebrauch des Wortes “Kaffer” ist heute in Südafrika als Verunglimpfung eingestuft und verboten.
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Inv. Nr. 13.120 Schaukasten “Bataksche Amulette”. Enthält 8 verschiedene Amulette mit Beschriftung der Schutz-, bzw. Heilfunktion, z. B. “Gegen Krämpfe bei Kindern. Aus Ziegenhaut gefertigt. Wird um das Hand- oder Fußgelenk getragen.” Die Batak sind ein indigenes Volk im Norden der indonesischen Insel Sumatra.
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Inv. Nr.13.096 Kästchen mit verschiedenen Tsetsefliegen (Glossina): Die Fliegen übertragen die Afrikanische Trypanosomiasis (Schlafkrankheit).
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14. April 2021 | Andreas Butz | Genealogie, Kurioses
Wenn in einem Sterberegister ausdrücklich vermerkt wird, dass die Bestattung ohne die üblichen kirchlichen Zeremonien erfolgte, ist dies auf jeden Fall ein besonderer Umstand, der erklärungsbedürftig ist. Im Sterberegister von Mühlhausen an der Enz sind einige solcher Einträge vermerkt. So wurde Ferdinand Friedrich von Stein bzw. vom Stain (1696-1737) am 21. November 1737 nachts ohne kirchliche Zeremonien bestattet, wie auch seine Schwester Christina Louisa am 17. Mai 1750 und auch der ehemalige Warmbronner Pfarrer Christian Friedrich Cuhorst (1705-1750) am 28. April 1750. Bei allen drei Personen wurde im Sterberegistereintrag ausdrücklich vermerkt, dass sie sich dem Separatismus zugewandt hatten, also einem radikalen Pietismus, dessen Anhänger sich von der Amtskirche abwandten, da sie diese als zu verweltlicht ansahen. Bei Christina Louise wurde auch ihr zurückgezogenes, stilles und ihrer Glaubensrichtung entsprechendes eheloses Leben (in coelibatu) auf dem Schloss vermerkt.
Bei zwei weiteren Personen ist bekannt, dass sie ebenfalls Separatisten waren, nämlich Walrad Heinrich von Stein (-1746) und seinem langjährigen Hausvogt Johannes Wunderlich (-1752). Wunderlich scheint kurz vor seinem Tode den Wunsch geäußert zu haben, das heilige Abendmahl noch zu empfangen, so dass er am 6. April 1752 “christenlich zur Erden bestattet” wurde, also eine gewöhnliche Beerdigung mit allen kirchlichen Zeremonien erhielt.
Der Sterbeeintrag für Walrad Heinrich hingegen ist sehr knapp gehalten. Schon dies ist für den Todeseintrag eines Ortsherren des reichsritterschaftlichen Fleckens eher ungewöhnlich, da ähnliche Sterbeeinträge im Mühlhausener Sterberegister ansonsten durch ihre Ausführlichkeit deutlich unter den sonstigen Einträgen herausragen und beim Durchblättern sofort ins Auge springen. Es mag aber vielleicht auch dem minimalistischen Stil des damals noch amtierenden Geistlichen geschuldet sein. Seine Abkehr von der Amtskirche wird zwar nicht genannt, aber die ungewöhnliche Art der Beerdigung ist dennoch eindeutig. Er wurde “nachts neben seinem Bruder begraben”.
Die Spielart des Separatismus, der sich die Adeligen im Mühlhausener Schloss zugewandt hatten, war eine Gruppierung, die man als “Inspirierte” bezeichnet. Bereits 1729 besuchten die inspirierten Prediger Jonas Wickmark, Johann Friedrich Rock und Philipp Werner das Schloss. Zwei Jahre später fand in Mühlhausen unter der Obhut von Walrad Heinrich von Stein eine Inspirierten-Versammlung statt, an der auch der damalige Mühlhausener Pfarrer Brotbeck, wie auch aus den Nachbarorten die Pfarrer Rues (Dürrmenz), Gottlieb Seeger (Lomersheim), Georg Seeger (Friolzheim) und Johann Daniel Fulda (Möttlingen) teilnahmen. Ein Teil dieser Pfarrer wurde später entlassen, beziehungsweise versetzt. Als Brotbecks Nachfolger wurde der später als Liederdichter bekannte Pfarrer Philipp Friedrich Hiller (1699-1769) nach Mühlhausen versetzt, mit dessen Nomination die Kirchenleitung wohl eine Art Brückenschlag herzustellen suchte, zwischen der Ausrichtung des Pietismus, der sich im Rahmen der Amtskirche entwickelte und dem radikaleren Pietismus, der sich von der Amtskirche abwandte, wie er beim Ortsadel Anklang fand.
Quellen
KB, Mühlhausen an der Enz, Mischbuch 1727-1799, Sterbregister, S. 13.
KB, Mühlhausen an der Enz, Mischbuch 1727-1799, Sterberegister, S. 20.
KB, Mühlhausen an der Enz, Mischbuch 1727-1799, Sterberegister, S. 29.
KB, Mühlhausen an der Enz, Mischbuch 1727-1799, Sterberegister, S. 30.
KB Mühlhausen an der Enz, Mischbuch 1727-1799, Sterberegister, S. 35
Literatur
Eberhard Fritz, „Nicht sogleich wiederum zurück, sondern weiter und weiter!“ Die Inspirations-Reisen des Johann Friedrich Rock nach Württemberg und in südwestdeutsche Reichsstädte, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte, Band 115, Stuttgart 2015.
Karl Hittler: Familien in Mühlhausen an der Enz 1641 – 1920: mit älteren Nachweisen ab 1596, Mühlacker 2013.