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Die Auswanderung nach Südrussland 1816/17 – ein pietistisches Unternehmen?

26. Mai 2021 | |

Die Auswanderung nach Südrussland in den Jahren 1816 und 1817 war die erste Massenemigration des 19. Jahrhunderts. Sie ist insofern aktuell geblieben, als um das Jahr 2000 sehr viele Russlanddeutsche aus Kasachstan in die Bundesrepublik Deutschland kamen. Dabei handelt es sich um Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs aus Südrussland nach Kasachstan umgesiedelt worden waren. Die älteren Leute hatten ihre deutsche Kultur bewahrt, aber die jüngeren Menschen kamen vorwiegend aus wirtschaftlichen Motiven nach Deutschland. Fast 200 Jahre nach der Auswanderung wurde also die Einwanderung wieder aktuell. In der Bundesrepublik sah man sich mit Immigranten konfrontiert, von denen nur noch ein Teil einen Bezug zur deutschen Kultur hatte. Da sich die deutschsprachige ältere Generation eine enge Bindung zur Kirche bewahrt hatte, sahen sich auch die evangelischen Kirchengemeinden vor die Aufgabe gestellt, diese Migranten aufzunehmen und so weit wie möglich zu integrieren.

Wie war es im frühen 19. Jahrhundert zu dieser Migrationswelle gekommen? Nach anderthalb Jahrzehnten der Kriege, der Missernten und des Mangels fiel 1816 die Ernte vollkommen aus. Im Vorjahr war der Vulkan Tambora in Indonesien ausgebrochen und hatte Unmengen von Asche in die Atmosphäre geschleudert. Im folgenden Jahr vernichteten Kältewellen und Starkregen die Früchte auf den Feldern. Ein in Württemberg geltendes Auswanderungsverbot musste aufgehoben werden. Nach der Aufhebung brachen Tausende von Menschen nach Südrussland auf. Zar Alexander I., ein Bruder der württembergischen Königin Katharina, lockte die württembergischen Siedler mit der Vergabe von fruchtbarem Land, dem Versprechen, die Söhne vom Militärdienst zu verschonen, und mit Steuervergünstigungen. Er gestand den Gemeinden eine weitgehende Selbstverwaltung zu, wie man sie in Württemberg kannte. Viele Menschen sahen darin auch einen göttlichen Fingerzeig. In Ulm schifften sich die Auswanderer auf der Donau ein und fuhren hinab bis nach Ismail, kurz vor der Mündung des Flusses in das Schwarze Meer. Auf der langen, gefährlichen Reise starb fast die Hälfte der Emigranten. Auf manchen Schiffen brachen Krankheiten aus. Die Überlebenden mussten bei Ismail längere Zeit auf einem ehemaligen Schlachtfeld in Quarantäne verweilen. Sie waren unzulänglich untergebracht, und es brachen wiederum Seuchen aus, welche viele Opfer forderten.

Dort zogen die Siedlergruppen auf dem Landweg weiter. Einige ließen sich in Bessarabien nieder, andere reisten in die Gegend von Odessa auf der Krim, und eine dritte Gruppe zog noch weiter in die Gegend von Tiflis in Georgien. Dort entstanden deutsche Siedlungen. Freilich bewahrheitete sich auch hier die alte Redensart über Auswanderer: „Den Eltern der Tod, den Kindern die Not, den Enkeln das Brot.“. Trotz allen Fleißes der Siedler waren die Aufbaujahre äußerst hart.

Lange nahm man in der Forschung an, es seien fast ausschließlich Pietisten gewesen, die an eine baldige Wiederkunft Christi geglaubt hätten. Deshalb seien sie näher an Palästina herangezogen, welches damals nicht zugänglich war. Inzwischen setzt sich aber die Erkenntnis durch, dass die Mehrzahl der Emigranten aus wirtschaftlichen Gründen das Königreich Württemberg verließen. Freilich spielte die protestantische Religion eine wichtige Rolle: einerseits als verbindendes Element der Gemeinschaft, andererseits als ideelle Stütze in der Not. Organisiert waren die Auswanderergruppen in zehn sogenannten „Harmonien“, geleitet wurden diese Verbände von Anführern, die aus einem pietistisch-separatistischen Umfeld stammten. Es waren Männer darunter, die sich aus religiöser Überzeugung von der Kirche getrennt hatten. Aber in Russland wurden in den meisten Gemeinden evangelische Kirchen gebaut, so dass sich im Lauf der Zeit eine kirchliche Organisation mit Pfarrern und Schulmeistern entwickelte.

Das Leben in den deutschen Gemeinden gestaltete sich nicht einfach. In Kaukasien kam es zu Überfällen einheimischer Stämme auf einzelne Siedlungen, bei denen Einwohner ermordet oder verschleppt wurden. Die einheimische Bevölkerung blickte zum Teil neidisch auf die wirtschaftlich erfolgreichen und vorbildlich organisierten deutschen Kolonisten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wirtschafteten die deutschen Dörfer sehr erfolgreich. Fabriken und landwirtschaftliche Kooperativen produzierten und vertrieben ihre Erzeugnisse. Beispielsweise gab es in Georgien einen florierenden Weinbau. Es entstanden auch höhere Schulen, Lehrerbildungsanstalten und Pfarrseminare sowie kulturelle Einrichtungen.

Nach einigen Jahrzehnten waren die russischen Zaren nicht mehr gewillt, die Privilegien der deutschen Gemeinden aufrechtzuerhalten. Einerseits begegneten sie damit den Neidgefühlen der Einheimischen, andererseits wollten sie eine einheitliche russische Kultur durchsetzen. Das „Angleichungsgesetz“ aus dem Jahre 1871 sorgte dafür, dass der Sonderstatus der Kolonisten allmählich aufgehoben werden sollte. So wurden die Selbstverwaltungseinrichtungen aufgelöst, Russisch wurde Amts- und Schulsprache, der Militärdienst für die Söhne der deutschen Siedler wurde 1874 verpflichtend.

Während des Ersten Weltkriegs gerieten die Russlanddeutschen als Vertreter einer feindlichen Kultur unter Druck. Zar Nikolaus II.  verbot den Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Dörfer aufgelöst und die Russlanddeutschen zwangsweise ins innere Russland umgesiedelt. Von dort aus kamen sie nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs in die Bundesrepublik Deutschland. Sie können also als repräsentativ für eine Minderheit angesehen werden, die ihr Land aus wirtschaftlichen Gründen verließ. Nach fast 200 Jahren kehrte ein Teil von ihnen wieder in das Land ihrer Ahnen zurück, nachdem die ältere Generation noch im Geist der deutschen Kultur lebte.

Beachten Sie bitte auch den Beitrag in Württembergische Kirchengeschichte Online zu diesem Thema.