18. Januar 2023 | Jürgen Quack | Interkultur, Personengeschichte
Denkmal Ferdinand Kittel in Bangalore/Indien Foto: Bernhard Dinkelaker
Groß steht sein Denkmal an der „Mahatma Gandhi Road“ in Bangalore in Indien: Ferdinand Kittel, geboren am 7.4.1832 in Ostfriesland. Mit 18 Jahren ging er zur Ausbildung nach Basel – und lernte dort auch Griechisch, Lateinisch, Hebräisch, Englisch und Französisch. 1853 wurde er mit 21 Jahren von der Basler Mission nach Indien ausgesandt, wo er – unterbrochen durch zwei lange Heimataufenthalte – bis 1892 wirkte.
Warum wurde ihm dort ein Denkmal errichtet? Auf welchem Buch ruht seine Hand? Und warum trägt die Statue eine Fahne in der Hand?
Ferdinand Kittel tauchte wie kaum ein anderer Missionar in die Kultur Indiens ein. Wie Paulus „den Griechen ein Grieche“ (1. Kor. 9,20), so wollte er „den Indern ein Inder“ werden. Besonders widmete er sich der Kannada-Sprache, damals „Kanaresisch“ genannt. Das war nicht einfach, denn es gab mehrere Dialekte, dazu viele Fremdworte und Einflüsse aus anderen indischen Sprachen – und auch die kanaresische Schrift wurde in vielen Varianten geschrieben. Er gab eine Anthologie der kanaresischen Literatur heraus und veröffentlichte eine Sammlung indischer Fabeln für die Schule. Das Leben Jesu schilderte er im Versepos „Kathamale“ in traditionellen indischen Versen und schrieb eigene Gedichte in Kannada.
Ihn begeisterten die bunten indischen Feste. Er schrieb der Missionsleitung: „Wir Evangelischen bieten den Sinnen der Heiden sehr wenig. Wir haben keine Processionen, keine eigentlichen religiösen Volksfeste, kein Gepränge in den Kirchen. Es dürften sich doch noch Ceremonien finden, die wir benutzen könnten – unschuldige volksthümliche Weisen“. Er schlug vor, christliche Lieder nach lokalen Melodien zu singen und mit traditionellen Instrumenten zu begleiten – aber die Missionsleitung war dagegen.
Sie befahl ihm auch, aus dem Dorf, wohin er gezogen war, wieder in die sichere Missionsstation umzuziehen, wo Hygiene und Gesundheit besser geschützt waren.
Foto von Georg Ferdinand Kittel vor der Aussendung 1853 (mit 21 Jahren). QS-30.001.0262.01
Nach zwanzigjähriger Arbeit veröffentlichte er 1894 ein Kannada-Englisch Wörterbuch mit 30.000 Einträgen auf 1758 Seiten – finanziell unterstützt vom Maharadscha von Mysore. Es ist nicht nur eine Übersetzungshilfe, sondern enthält viele Belege aus der einheimischen Literatur. 1903 folgte eine Grammatik. Damit schuf er den Standard dieser Sprache, die heute von ca. 44 Millionen Menschen gesprochen wird und in einer eigenen Schrift geschrieben wird. Es ist die wichtigste Sprache des indischen Bundesstaates Karnataka.
Ferdinand Kittels Wörterbuch Kannada-English von 1894. Quelle: ZVAB
Durch sein „Beffchen“ ist er in der Statue als Pfarrer erkennbar – aber das Buch, auf das er seine Hand legt, ist nicht die Bibel, sondern eben dieses für die Inder so wichtige Wörterbuch. Und es ist die rot-gelbe Fahne dieses Landes, die seine Statue in der Hand hält. So ehrt ihn dieses Land. Auch eine Stadt und ein College sind nach ihm benannt.
Als er 1860 die Basler Mission bat, wie es das damals üblich war, ihm eine Frau schicken, wurde ihm Pauline Eyth aus Tübingen vermittelt. Sie starb schon nach vier Jahren Aufenthalt in Indien. Darauf heiratete er in einem Heimaturlaub 1867 deren jüngere Schwester Wilhelmine Julie Eyth. Aus erster Ehe hatte er zwei Söhne, in zweiter Ehe wurden zwei Töchter und zwei Söhne geboren; ein Sohn wurde auch Missionar und setzte Ferdinand Kittels Arbeit in Indien fort.
1892 kehrte er endgültig nach Deutschland zurück und zog nach Tübingen. Die dortige Universität verlieh ihm für seine sprachwissenschaftliche Arbeit 1896 die Ehrendoktorwürde. Dort starb er am 18.12.1903. In Indien ist er noch sehr bekannt; immer wieder besuchen Inder – Christen wie Hindus – sein Grab auf dem Tübinger Friedhof.
Kittels Grab auf dem Tübinger Friedhof. Foto Goesseln, wikimedia commons. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ferdinand_Kittel_Stadtfriedhof_T%C3%BCbingen.jpg
7. Dezember 2022 | Andreas Butz | Aktenfund, Bestand, Personengeschichte
Beim Verzeichnen des vor kurzem in das Landeskirchliche Archiv zur Verwahrung und Verwaltung überführten Pfarrarchivs von Knittlingen fiel unserer Kollegin Birgitta Häberer ein Aktenbüschel auf, das mit “Memorabilien über die Grävenitzsche und Süßsche Angelegenheit” betitelt war. Dass es sich dabei um kein übliches Aktenfaszikel pfarramtlicher Provenienz handelte, war leicht ersichtlich. Doch was hatte die herzoglich-württembergische Mätresse und Landhofmeisterin Wilhelmine von Grävenitz, beziehungsweise Gräfin von Würben mit Knittlingen, beziehungsweise dem Pfarramt Knittlingen zu tun? Als unser Kollege Andreas Butz durch die Schriftstücke blätterte, erinnerte er sich an die im Jahr 2015 als Veröffentlichung der Kommission für geschichtliche Landeskunde herausgegebene Edition der “Anekdoten vom württembergischen Hof. Memoiren des Privatsekretärs der herzoglichen Mätresse Christina Wilhelmina von Grävenitz (1714-1738)“.
Miniatur Wilhelmine von Graevenitz ( 1686 – 1744). Württembergisches Landesmuseum. Fotograf: Wuselig. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Landesmuseum_W%C3%BCrttemberg_-_Wilhelmine_von_Graevenitz864.jpg
Der Verfasser dieser Anekdoten, Heinrich August Krippendorf (1683-1742), war von 1714 bis 1731 der Privatsekretär von Wilhelmine von Grävenitz, außerdem auch Sekretär des Geheimen Rats und Regierungsrat und hatte somit unmittelbare Einblicke in die Verhältnisse des württembergischen Hofes und in die dortige Günstlings- und Mätressenwirtschaft. Er hat die Anekdoten unter dem Pseudonym Procopius Vessadiensis verfasst, also als Prokop von Dessau, womit er sich als Verfasser in die Tradition von Prokopios von Caesarea stellte, einem spätantiken Autor mit Insiderwissen des oströmischen Kaiserhofes in Konstantinopel. Krippendorfs Anekdoten waren eigentlich nicht für den Druck bestimmt, sondern nur für die Zirkulation im engeren Freundeskreis. Die in seinem Bericht genannten Personen wurden in seinem Text nicht namentlich benannt, sondern erhielten Pseudonyme. Grävenitz erscheint in den Anekdoten etwa als “Fredegunde”, was auf die mächtige Mätresse des Merowingerkönigs Chilperich (6. Jahrhundert) anspielt. Herzog Eberhard Ludwig ist Artamenis. Auch alle Orte wurden verschlüsselt.
Bislang kannte man zwei Handschriften der Anekdoten, die in der württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart und in der Bayerischen Staatsbibliothek in München verwahrt werden. Der Vergleich der Handschrift aus dem Pfarrarchiv Knittlingen mit dem Digitalisat der Handschrift in der Württembergischen Landesbibliothek, die frei im Internet einsehbar ist, machte es sehr wahrscheinlich, dass beide Texte von derselben Feder geschrieben wurden. Während die beiden bisher bekannten Exemplare Reinschriften darstellen, handelt es sich bei der Knittlinger Handschrift offenbar um die Entwurfsvorlage, was darin deutlich wird, dass sie allerlei Randbemerkungen, nachträgliche Einschübe , wieder verworfene und durchgestrichene Sätze und Absätze enthält. Der Entstehungsprozess kann hier nachvollzogen werden. Allerdings ist das Knittlinger Manuskript unvollständig. Die 80 Seiten umfassen nur den Appendix der Anekdoten, also den Zeitraum seit dem Ableben Herzog Eberhard Ludwigs, mit der Verhaftung der herzoglichen Mätresse, ihrer Verteidigung und ihrer Flucht nach Berlin, und mit der ausführlichen Schilderung der Verhaftung und Hinrichtung von Joseph Süß Oppenheimer. Wie bei den bereits bekannten Handschriften, liegt auch dieser Handschrift eine Aufschlüsselung der Pseudonyme bei. Zusätzlich enthält die Akte noch einen Vorschlag eines Vergleichs mit der Gräfin Würben, vermutlich von 1736, einige weitere kleinere Dokumente aus der Feder Krippendorfs, sowie 32 Seiten Notamina, in denen Krippendorf über sein Dienstverhältnis als Privatsekretär der Mätresse Grävenitz-Würben ausführlich Rechenschaft ablegt, ein Bericht der sich inhaltlich auch in den Grävenitzschen Prozessakten im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (A 48/5) findet.
Wie aber gelangten diese Schriftstücke in das Pfarrarchiv Knittlingen? Man würde Unterlagen dieser Art am ehesten in einem Familienarchiv erwarten, sofern sie die Jahrhunderte überhaupt überleben. Aber auch das ließ sich schnell klären, denn bei der Durchsicht der Liste der Knittlinger Pfarrer stach der Name Wilhelm Aurelius von Krippendorf ins Auge, der 1782 zum Dekan in Knittlingen ernannt wurde und dieses Amt bis zu seinem Tod 1809 ausführte. Sein Vater war Heinrich August von Krippendorf, der Verfasser der Handschriften. Das lässt den Schluss zu, dass die Unterlagen des Grävenitzschen Privatsekretärs über seinen Sohn, der in Knittlingen Dekan war, in das Knittlinger Pfarrarchivs gelangt waren.
Das Inventar des Pfarrarchivs Knittlingen kann nun online durchsucht werden. Die Akte mit den Handschriften Krippendorfs haben wir digitalisiert und kann hier eingesehen werden.
18. April 2022 | Stefanie Schäfer-Bossert | Jubiläum, Personengeschichte
Charlotte Essich war eine der ersten Theologinnen in Württemberg und eine der ganz wenigen unter ihnen, die noch vor der anstellungsrechtlichen Gleichstellung der Pfarrerinnen mit den Pfarrern 1968 sämtliche Amtshandlungen, auch den „Dienst am Mann“, ausführte, und das im Talar – alles für Frauen kirchenamtlich eigentlich nicht vorgesehen.
Charlotte Essich in der Hospitalkirche Stuttgart, 1960er Jahre
Am 18.4.1912 wurde Charlotte Essich in Oberndorf geboren. „Die interessanten Fragen der Theologie“ waren es, die sie im Jahr 1931 zum Studium der evangelischen Theologie bewogen hatten – wenngleich ohne Aussicht auf entsprechende Anstellung. Zwar waren Frauen seit 1904 zum Studium zugelassen, doch in ein vollwertiges Pfarramt mit Predigtamt und Sakramentshandlungen sollte dieser staatliche Schritt nicht führen. Vielmehr wurde in der Landessynode im Januar 1919 von einem Prälaten als Schreckgespenst an die Wand gemalt: “Die Frau wird den Anspruch erheben, auf der Kanzel, im Altar und am Taufstein gleich dem Manne zu wirken. (…) Und dieses Eindringen schwarmgeistiger Elemente gerade, ausgerechnet in die männlich-straffe, nüchtern-ernste Kirche Luthers ist unerträglich!”
Die Amtsbezeichnungen in Charlotte Essichs Berufslaufbahn spiegeln die Stadien des jeweils zugestandenen Dienstverhältnisses: Sie begann als „Praktikantin“, war „außerordentliche“ und „ordentliche Pfarrgehilfin“, ab 1937 konnten Frauen als „Vikarin“ eingesegnet werden und ab 1948 als Endstufe zur „Pfarrvikarin“ ernannt.
Frauen sollten auch nicht die offizielle Amtstracht, den Talar, tragen dürfen. Nicht einmal, als sie während der Kriegszeiten zunehmend für die Vertretung der abwesenden Pfarrer auch zum Predigtdienst herangezogen wurden. In Bad Cannstatt jedoch hatte Essichs Vorgängerin bei solcher Kriegsvertretung, Lenore Volz, den Dekan bereits überzeugt, dass es ohne Talar sehr schwierig sei, Gottesdienste zu halten. Also konnte Charlotte Essich, als sie 1943 an die Cannstatter Stadtkirche geholt wurde, in einem eilig herbeigeschafften und umgearbeiteten Talar auf die Kanzel treten – freilich nicht mit Beffchen, sondern vom männlichen unterscheidbar: mit blusenähnlichen weißen Leinen-Ecken.
Sie hat den Talar dann behalten und beibehalten: „Ganz unentbehrlich wurde mir der Talar, als ich im Herbst 1944 vom Oberkirchenrat in die Gemeinde Adelmannsfelden-Pommertsweiler (Dekanat Aalen) beordert wurde zur Vertretung des – an der Front weilenden – Ortspfarrers. Die Doppelpfarrei mit den verschiedenen Weilern und vielen weit auseinanderliegenden Höfen, stark belegt mit „Evakuierten“ (Erwachsenen und Schülern) wurde bis dato – so gut wie möglich bei der großen Entfernung, den schwierigen Wegverhältnissen – zu Fuß, per Rad und Skiern! – vom Pfarramt Neubronn aus versorgt. Nun sollte ich diese „Versorgung“ übernehmen.“
Doch herrschte auch dort die Meinung: „Frau auf der Kanzel, das geht nicht“. Also machte sie dem Kirchengemeinderat einen Vorschlag: „Wir wechseln ab. Jeden zweiten Sonntag hält ein anderer Kirchengemeinderat den Gottesdienst, ich habe es schon einmal aufgelistet: Zuerst Sie und dann … und dann …“. Der Vorsitzende nickte betreten. Sie kam ihm entgegen: „Das ist jetzt natürlich etwas kurzfristig. So könnte ich anbieten, dass ich den ersten Sonntag übernehme, und Sie dann länger Zeit zum Vorbereiten haben.“ Er schaute vor sich nieder und meinte nach einer langen Pause: „Ja, dann wird’s wohl bei Ihnen hängen bleiben.“
Genau so kam es, und ihre Arbeit wurde sehr geschätzt: Religionsunterricht, Bibelstunden, Seelsorge, Gottesdienste, Taufen, Beerdigungen – nicht kirchen-amtlich ermächtigt, aber pfarramtlich notwendig. Eine Bäuerin sagte zu ihr: „Wenn nur der Hitler mal hierher käme, dann würde ich dem die Wahrheit sagen, so wie Sie uns immer sonntags!“
Charlotte Essich war bereits während des Studiums der sich formierenden Bekennenden Kirche beigetreten, sie hatte 1937 den Treueeid auf den Führer verweigert und sich stets klar und vernehmbar gegen den Nationalsozialismus gestellt. So wurde der Dienst auch durch Angst vor Denunzierung erschwert. Der Rückhalt bei den Gemeindegliedern scheint jedoch stärker gewesen zu sein.
Frauen-Beffchen, spitz zulaufend, 1948, von der Stuttgarter Paramentenwerrkstatt entwickelt. Landeskirchliches Archiv, Museale Sammlung, Inv.-Nr. 95.003-02
Als die Pfarrer aus dem Krieg zurückkamen, mussten die Frauen wieder aus den Gemeinden weichen. Charlotte Essich, inzwischen als „Vikarin“ im Gemeindedienst in Schwäbisch Hall, wurde 1948 schließlich zur Evangelischen Frauenhilfe (heute: EFW) in für den Reisedienst versetzt, zur geistlichen Betreuung und Fortbildung von Frauen in ganz Württemberg. Ihre theologische Leidenschaft trieb sie auch hier und sie konnte rückblickend sagen: „Ich war insofern schon feministisch in Bibelarbeiten, als man da auf Frauen eingeht, das wurde ja sonst nicht getan!“
Wenngleich der Talar dabei fast immer im Schrank bleiben musste, wurde er doch bereits damals zu einem geschichtlichen Zeugnis:
„Ja, der Talar, mich umhüllend – wurde in jener Zeit sogar fotographiert anlässlich eines Besuches von Miss Sarah Coggan, Schwester des damaligen Erzbischofs von York, später von Canterbury, einer englischen Theologin mit der Amtsbezeichnung „Deaconess“. Miss Coggan wollte sich über Dienst und Situation der württembergischen Theologinnen informieren – eines der Fotos, die Miss C. nach England mitnahm, wurde in einer englischen Frauenzeitschrift – samt Bericht – abgedruckt.“
1974 ging Charlotte Essich in den Ruhestand, versah aber längere Zeit im Schwarzwald noch aufwändige Vertretungsdienste. Danach zog sie nach Tübingen, wo sie am 18. Juli 2008 starb.
Ihr Talar ist ein textiles Zeugnis einer bewegten Geschichte. Charlotte Essich gab ihn 1995 in die Sammlung des Landeskirchlichen Museums in Ludwigsburg und verfasste dazu einen Text „Geschichte eines alten Talars“. Beides wird heute im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart aufbewahrt und steht für Ausstellungen und Forschungsarbeiten zur Verfügung.
Das Manuskript wird, mit Kommentaren versehen, demnächst auf wkgo veröffentlicht und verfügbar sein.
Quellen der Originalzitate:
Gespräche und Interviews mit Stefanie Schäfer-Bossert (Aufzeichnungen bei der Autorin, Privatarchiv Schäfer-Bossert)
Charlotte Essich, „Geschichte“ eines alten Talars, 1995. (Manuskript)
Hintergrundinformationen und Literatur bei:
Stefanie Schäfer-Bossert: Die ersten Württemberger Theologinnen und ihr langer Weg ins Pfarramt, https://www.wkgo.de/themen/theologinnen
Dort angefügt auch eine Zeitleiste mit markanten Daten in der Geschichte der ersten Theologinnen in Württemberg.