27. April 2022 | Götz Homoki | Zeitgeschichte
Während des Neubaus seines Dienstsitzes an der Gänsheidestraße im Osten Stuttgarts befindet sich das Übergangsquartier des Evangelischen Oberkirchenrats bekanntlich im Zentrum der Landeshauptstadt am Rotebühlplatz, der wiederum auf den Alten Postplatz zurückgeht. Fast völlig vergessen ist hingegen, dass es sich dabei gewissermaßen um eine Heimkehr handelt: Die württembergische Kirchenleitung (Konsistorium, Oberkirchenrat) residierte nämlich schon einmal an derselben Stelle im westlichen Bereich der Stuttgarter Innenstadt – und zwar im staatseigenen Bau Alter Postplatz 4, einem ehemaligen Postgebäude aus dem Jahr 1833.
Dieses Gebäude wurde 1921 vom Evangelischen Konsistorium bezogen, nachdem die Kirchenleitung lange unter teils großer Raumnot in der Neuen Kanzlei (Königsstraße 44), auch Stockgebäude genannt, gearbeitet hatte. Der zentral gelegene Staatsbau bot dem Konsistorium genügend Platz für einen ordnungsgemäßen Dienstbetrieb: Es gab unter anderem ein Zimmer für den damals noch Kirchenpräsident genannten Landesbischof, acht Zimmer für die Oberkonsistorialräte, die Kanzlei erhielt vier Räume, die Kasse zwei, das Sekretariat und die Registratur vier, dazu kam ein Sitzungssaal. In der Folgezeit konnten auch Akten, die noch in einem Bühnenraum des Stockgebäudes lagerten, in den neuen Verwaltungssitz gebracht werden. Nach Aufhebung des Konsistoriums als Staatsbehörde wurde dem Oberkirchenrat 1928 die dauernde unentgeltliche Benutzung des Gebäudes Alter Postplatz 4 zugesichert.
Obwohl die räumliche Situation den damaligen Ansprüchen offenbar genügte, dachte man im Oberkirchenrat schon 1930 wieder an die Zukunft: Um der Landeskirche ausreichend Gelände für künftige Bauvorhaben zu sichern, wurde im Stuttgarter Osten ein von Gänsheide-, Fraas- und Heidehofstraße umgebenes Grundstücksdreieck angekauft; es sollten allerdings mehr als zwei Jahrzehnte vergehen, bis an dieser Stelle tatsächlich Baupläne – für einen neuen landeskirchlichen Verwaltungssitz – realisiert werden konnten.
Die Bombardierungen der Alliierten im Deutschen Reich während des Zweiten Weltkriegs markieren auch den Anfang vom Ende des Gebäudes Alter Postplatz 4: 1942 sollen als Luftschutzmaßnahme die Registraturfenster zugemauert und Splitterschutzwände installiert werden; außerdem wird es erforderlich, den Dachraum mit einem feuerhemmenden Mittel zu imprägnieren und im Außenbereich ein Becken für Löschwasser anzulegen. Die Suche nach möglichen Ausweichquartieren hatte da bereits begonnen – für den Fall einer Beschädigung oder Zerstörung des Dienstgebäudes. Angesichts des von Deutschland entfachten Kriegs zeigte sich im Weiteren auch im Oberkirchenrat anonymer Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime: Am Morgen des 4. August 1943 bemerkten mehrere Mitarbeitende beim Betreten des Dienstgebäudes, dass im Eingangsbereich kleine rote Zettel angeklebt waren; „Nieder mit dem Nazi-Gesindel“ und „an den Galgen mit Hitler“ war darauf zu lesen.
Nur rund zwei Monate später, in der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 1943, wurde der denkmalgeschützte Bau bei einem Luftangriff auf Stuttgart durch die Detonationswelle einer Sprengbombe so schwer beschädigt, dass im gesamten Gebäude kein Zimmer mehr zu benutzen war. Der Oberkirchenrat siedelte daraufhin in das „Mutterhaus für evangelische Kinderschwestern“ in Großheppach im Remstal über. Damit endete die Zeit seiner Unterbringung am Alten Postplatz. Die dort noch befindlichen, nicht ausgelagerten Akten sowie Bücher, Geräte und Möbel wurden von „Gefolgschaftsmitgliedern“, wie die Mitarbeitenden im NS-Jargon genannt wurden, teils wochenlang aus den Trümmern geborgen und abtransportiert. Dazu leisteten vor Ort auch mehrere niederländische Kriegsgefangene Zwangsarbeit.
Bei späteren Angriffen wurde das Gebäude Alter Postplatz 4 schließlich vollends zerstört. Es begann damit eine jahrelange Übergangsphase, in der die verschiedenen Dienststellen des Oberkirchenrats in notdürftigen Ersatzquartieren an verschiedenen Orten untergebracht waren: im bereits genannten „Mutterhaus“ in Großheppach (Hauptverwaltung), in Plüderhausen (Kasse, Rechnungsführung), Lorch (Rechnungsprüfamt) und Winnenden (Pfarrgutsverwaltung). Das Stift in Tübingen, das Seminar in Urach und andere wesentlich geeignetere kirchliche Gebäude waren bereits für staatliche Zwecke beschlagnahmt worden.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte der Oberkirchenrat im Jahr 1946 nach Stuttgart zurück. Die lokale Trennung seiner Mitarbeitenden war jedoch aufgrund der kriegsbedingten Zerstörung der städtischen Bausubstanz weiterhin nicht zu umgehen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren daher behelfsmäßig in verschiedenen, auseinanderliegenden Büros untergebracht, etwa in den stadteigenen Häusern Gerokstraße 21 und 29, aber auch in einer ehemaligen SS-Verwaltungsbaracke, die Otto Hofmann 1945 wohl auch von russischen Kriegsgefangenen an der Ecke Gänsheide- und Hackländerstraße errichten ließ; Hofmann war von 1940 bis 1943 Leiter des „Rasse- und Siedlungshauptamts“ der SS und nahm an der Wannseekonferenz teil, bei der vor 80 Jahren in Berlin die Ermordung der Jüdinnen und Juden Europas vorbereitet wurde.
Ein Wiederaufbau des zerstörten Dienstgebäudes Alter Postplatz 4 kam wegen der Stadtplanung nicht in Frage, da das Gelände für die Verbreiterung der Roten Straße, heute Theodor-Heuss-Straße, benötigt wurde. Also musste ein neuer Bauplatz für den künftigen Sitz des Oberkirchenrats gefunden werden. Und hier schließt sich der Kreis, denn bei der Suche konnte auf das erwähnte, bereits vor dem Krieg erworbene Grundstücksdreieck im Stuttgarter Stadtteil Gänsheide zurückgegriffen werden – 1957 wurden dort die neu errichteten, nun kircheneigenen Dienstgebäude Gänsheidestraße 2 und 4 bezogen. Deren Abbruch im Jahr 2022 zugunsten der geschätzt 63 Millionen Euro teuren Neubauten des Oberkirchenrats am bestehenden Standort bildet das vorläufig letzte Kapitel einer bewegten, jedoch weitgehend unbekannten Geschichte seiner Verwaltungsdomizile.
Text: Götz Homoki, Bildauswahl: Andrea Kittel
Verwendete Quellen und Literatur
LKAS A 26 Nr. 200.
LKAS A 126 Nrr. 2588, 2589, 2590, 2592, 2593, 2594, 2595, 2596, 2597, 2982, 3780.
LKAS AS 1, Nrr. 1114, 1122, 1161, 1223, 1224, 1225, 2086, 2087, 2089.
Ehmer, Hermann. Das Landeskirchliche Archiv Stuttgart im Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag zur württembergischen Archivgeschichte, in: Schmierer, Wolfgang/Cordes, Günter/Kieß, Rudolf u. a. (Hrsgg.). Aus südwestdeutscher Geschichte, Stuttgart 1994, 736-749.
Zu den Fotografien:
Im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart befinden sich zwei sorgfältig gestaltete Fotoalben, die das Arbeiten im Dienstgebäude am Alten Schlossplatz dokumentieren. Das erste wurde 1938 – wohl zum 70. Geburtstag von Landesbischof Theophil Wurm – erstellt, das zweite entstand infolge des kriegsbedingten Umzugs des Oberkirchenrats nach Großheppach, nachdem das Gebäude am Alten Postplatz im Jahr 1943 durch einen Luftangriff stark beschädigt wurde.
Auszüge davon präsentieren wir hier:
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Ein stattlich Haus ist Postplatz 4 / wir traten ein durch seine Tür (Originalbeschriftung), Außenansicht 1938. LKAS, AS 1, U 74
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Chauffeur 1938
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Mittagspause 1938
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“Ein Blick durchs Fenster zeigt uns gleich / 4 wackre Leut im Aktenreich” (Originalbeschriftung). Registratur. LKAS, A 1, U 74
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Registratur. LKAS, AS 1, U 74.
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“In der Zentrale ist man fleißig”. Telefonzentrale. LKAS, AS 1, U 74
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“Ein Blick in Zimmer 39” (Originalbeschriftung). LKAS, AS 1, U 74.
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Außenansicht 1938. LKAS, U 202.U
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Brandschutzübung 1938
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Plan Raumaufteilung 1925. LKAS, A 126, Best.-Nr. 2588.
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Lageplan Alter Postplatz. LKAS, A 126, Best.-Nr. 2588
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Dienstzimmer Wurm 1938
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Sitzungssaal 1938
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Was man noch fand im Trümmerfeld, LKAS, AS 1, U 73.
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Trümmer. LKAS, AS 1, U 73
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Trümmer, LKAS, AS 1, U 73
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Und freudestrahlend wird begrüßt / Manch Stück, das schmerzlich ward vermißt / Befreit vom Dreck als einen Schatz / Trägt man es zurück an seinen Arbeitsplatz. LKAS, AS 1, U 73
22. April 2022 | Andreas Butz | Museale Sammlung, Palästina
Als Schenkung der Tempelgesellschaft, Stuttgart, kam ein historisch interessantes Objekt in die Museale Sammlung im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart. Dabei handelt es sich um ein weißes Tuch mit Lochstickerei und den Maßen 82 x 84 cm. Das Tuch ist unterteilt in neun Quadrate und enthält Stickereien der Unterschriften von mehr als 100 Mitgliedern der Tempelgesellschaft (zuzüglich weiterer palästinadeutscher Personen). Die zentrale Inschrift gibt Hinweise auf den Entstehungskontext:
Helouan, Al Hayat, Internees Camp 15.7.1918-28.6.1920, Camp Chubra 28.6.-8.10.1920, Egypt
Palästina war ein Kriegsschauplatz des Ersten Weltkrieges, da dieses Gebiet damals zum Osmanischen Reich gehörte. Durch die Nähe zum für die Briten wichtigen Suezkanal stellte die Anwesenheit der türkischen und deutschen Truppen durchaus eine Bedrohung für die Alliierten dar. Ende 1916 konnten die Briten die dort bestehende Front durchbrechen. Die Einnahme Palästinas zog sich bis Herbst 1918 hin. Dort befanden sich mehrere Siedlungen der Tempelgesellschaft, deren Bewohner meist aus Württemberg eingewandert waren und Staatsangehörige des Deutschen Reichs waren. Es handelt sich dabei um eine christlich-chiliastische Religionsgemeinschaft mit Wurzeln im württembergischen protestantischen Pietismus. Die Briten internierten 1918 einen Teil der Siedler, da Befürchtungen bestanden, die Siedler könnten militärisch relevante Informationen an die türkischen und deutschen Streitkräfte weitergeben.
Im Juli und August 1918 wurden etwa 850 Palästinadeutsche, hauptsächlich Templer, mit der Bahn nach Ägypten verbracht. Das Ziel war die ehemalige Lungenheilstätte “Al Hayat”, ein großer Gebäudekomplex in Helouan. Zuletzt hatte Al Hayat als Garnison gedient. Nach dem Ende des Krieges beließen die Briten den Palästinadeutschen im Internierungslager, obgleich die Begründung nun nicht mehr gegeben war. Anfang 1920 wurde ihnen die Möglichkeit eröffnet, ins Gebiet des Deutschen Reiches auszuwandern, was aber von den meisten Siedlern abgelehnt wurde. Viele von ihnen waren ja bereits in Palästina geboren, hatten dort Haus und Hof und befürchteten eine Enteignung ihres Besitzes. Im April 1920 wurde Gr0ßbritannien das Völkerbundsmandat über Palästina übertragen. Im Laufe des Jahres 1920 änderte sich, nicht zuletzt aufgrund diplomatischer Bemühungen Deutschlands, die Haltung der Briten gegenüber den Palästinadeutschen und der neu ernannte Oberkommissar für Palästina wurde angewiesen, den Internierten die Rückkehr zu ermöglichen. Das Lager in Chubra scheint eine Art Interimsunterbringung gewesen zu sein. Vielleicht erinnerten sich manche der Internierten beim Rücktransport an den im Alten Testament geschilderten Auszug aus Ägypten. Auch viele der nach Deutschland ausgewanderten Templer konnten nun nach Palästina zurückkehren.
Faszinierend für den Betrachter der Stickerei ist, dass nicht nur die Namen von Internierten gestickt wurden, sondern die Unterschriften dieser Personen. Außerdem fällt auf, dass die Beschriftungen durchweg in englischer Sprache gehalten sind. Entweder die palästinadeutsche Stickerin hat sich dieser Sprache bedient, oder aber das Tuch war das Geschenk einer der englischen Helferinnen (Krankenschwestern), die für die Betreuung der Internierten zuständig waren. Mindestens auf ein gutes Verhältnis der Schwestern zu den Internierten lässt schließen, dass ein Detail des Tuches eine englische Schwester in ihrer Berufstracht zeigt, sowie sich auch mehrere englische Namen (Violet Gordon Cumming, Kathleen Murphy) in dieser Ecke des Tuches finden.
Die Szenen auf dem Tuch wirken freundlich und vermitteln eine positive Stimmung, was erstaunlich mit der Kehrseite der oben beschriebenen Bedrückung im Internierungslager kontrastiert.
Beitrag auf Württembergische Kirchengeschichte Online zur Tempelgesellschaft hier.
Literatur:
Paul Sauer: Uns rief das Heilige Land, Stuttgart1985, S. 153-172.
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Zentrales Feld der Stickerei
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Britischer Sergeant zur Bewachung des Internierungslagers
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Tempelchen
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Pavillon
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Sonnenaufgang am Nil
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Britische Krankenschwester
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Boys dormitory (Jungen-Schlafsaall)
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Gesamtbild
18. April 2022 | Stefanie Schäfer-Bossert | Jubiläum, Personengeschichte
Charlotte Essich war eine der ersten Theologinnen in Württemberg und eine der ganz wenigen unter ihnen, die noch vor der anstellungsrechtlichen Gleichstellung der Pfarrerinnen mit den Pfarrern 1968 sämtliche Amtshandlungen, auch den „Dienst am Mann“, ausführte, und das im Talar – alles für Frauen kirchenamtlich eigentlich nicht vorgesehen.
Charlotte Essich in der Hospitalkirche Stuttgart, 1960er Jahre
Am 18.4.1912 wurde Charlotte Essich in Oberndorf geboren. „Die interessanten Fragen der Theologie“ waren es, die sie im Jahr 1931 zum Studium der evangelischen Theologie bewogen hatten – wenngleich ohne Aussicht auf entsprechende Anstellung. Zwar waren Frauen seit 1904 zum Studium zugelassen, doch in ein vollwertiges Pfarramt mit Predigtamt und Sakramentshandlungen sollte dieser staatliche Schritt nicht führen. Vielmehr wurde in der Landessynode im Januar 1919 von einem Prälaten als Schreckgespenst an die Wand gemalt: “Die Frau wird den Anspruch erheben, auf der Kanzel, im Altar und am Taufstein gleich dem Manne zu wirken. (…) Und dieses Eindringen schwarmgeistiger Elemente gerade, ausgerechnet in die männlich-straffe, nüchtern-ernste Kirche Luthers ist unerträglich!”
Die Amtsbezeichnungen in Charlotte Essichs Berufslaufbahn spiegeln die Stadien des jeweils zugestandenen Dienstverhältnisses: Sie begann als „Praktikantin“, war „außerordentliche“ und „ordentliche Pfarrgehilfin“, ab 1937 konnten Frauen als „Vikarin“ eingesegnet werden und ab 1948 als Endstufe zur „Pfarrvikarin“ ernannt.
Frauen sollten auch nicht die offizielle Amtstracht, den Talar, tragen dürfen. Nicht einmal, als sie während der Kriegszeiten zunehmend für die Vertretung der abwesenden Pfarrer auch zum Predigtdienst herangezogen wurden. In Bad Cannstatt jedoch hatte Essichs Vorgängerin bei solcher Kriegsvertretung, Lenore Volz, den Dekan bereits überzeugt, dass es ohne Talar sehr schwierig sei, Gottesdienste zu halten. Also konnte Charlotte Essich, als sie 1943 an die Cannstatter Stadtkirche geholt wurde, in einem eilig herbeigeschafften und umgearbeiteten Talar auf die Kanzel treten – freilich nicht mit Beffchen, sondern vom männlichen unterscheidbar: mit blusenähnlichen weißen Leinen-Ecken.
Sie hat den Talar dann behalten und beibehalten: „Ganz unentbehrlich wurde mir der Talar, als ich im Herbst 1944 vom Oberkirchenrat in die Gemeinde Adelmannsfelden-Pommertsweiler (Dekanat Aalen) beordert wurde zur Vertretung des – an der Front weilenden – Ortspfarrers. Die Doppelpfarrei mit den verschiedenen Weilern und vielen weit auseinanderliegenden Höfen, stark belegt mit „Evakuierten“ (Erwachsenen und Schülern) wurde bis dato – so gut wie möglich bei der großen Entfernung, den schwierigen Wegverhältnissen – zu Fuß, per Rad und Skiern! – vom Pfarramt Neubronn aus versorgt. Nun sollte ich diese „Versorgung“ übernehmen.“
Doch herrschte auch dort die Meinung: „Frau auf der Kanzel, das geht nicht“. Also machte sie dem Kirchengemeinderat einen Vorschlag: „Wir wechseln ab. Jeden zweiten Sonntag hält ein anderer Kirchengemeinderat den Gottesdienst, ich habe es schon einmal aufgelistet: Zuerst Sie und dann … und dann …“. Der Vorsitzende nickte betreten. Sie kam ihm entgegen: „Das ist jetzt natürlich etwas kurzfristig. So könnte ich anbieten, dass ich den ersten Sonntag übernehme, und Sie dann länger Zeit zum Vorbereiten haben.“ Er schaute vor sich nieder und meinte nach einer langen Pause: „Ja, dann wird’s wohl bei Ihnen hängen bleiben.“
Genau so kam es, und ihre Arbeit wurde sehr geschätzt: Religionsunterricht, Bibelstunden, Seelsorge, Gottesdienste, Taufen, Beerdigungen – nicht kirchen-amtlich ermächtigt, aber pfarramtlich notwendig. Eine Bäuerin sagte zu ihr: „Wenn nur der Hitler mal hierher käme, dann würde ich dem die Wahrheit sagen, so wie Sie uns immer sonntags!“
Charlotte Essich war bereits während des Studiums der sich formierenden Bekennenden Kirche beigetreten, sie hatte 1937 den Treueeid auf den Führer verweigert und sich stets klar und vernehmbar gegen den Nationalsozialismus gestellt. So wurde der Dienst auch durch Angst vor Denunzierung erschwert. Der Rückhalt bei den Gemeindegliedern scheint jedoch stärker gewesen zu sein.
Frauen-Beffchen, spitz zulaufend, 1948, von der Stuttgarter Paramentenwerrkstatt entwickelt. Landeskirchliches Archiv, Museale Sammlung, Inv.-Nr. 95.003-02
Als die Pfarrer aus dem Krieg zurückkamen, mussten die Frauen wieder aus den Gemeinden weichen. Charlotte Essich, inzwischen als „Vikarin“ im Gemeindedienst in Schwäbisch Hall, wurde 1948 schließlich zur Evangelischen Frauenhilfe (heute: EFW) in für den Reisedienst versetzt, zur geistlichen Betreuung und Fortbildung von Frauen in ganz Württemberg. Ihre theologische Leidenschaft trieb sie auch hier und sie konnte rückblickend sagen: „Ich war insofern schon feministisch in Bibelarbeiten, als man da auf Frauen eingeht, das wurde ja sonst nicht getan!“
Wenngleich der Talar dabei fast immer im Schrank bleiben musste, wurde er doch bereits damals zu einem geschichtlichen Zeugnis:
„Ja, der Talar, mich umhüllend – wurde in jener Zeit sogar fotographiert anlässlich eines Besuches von Miss Sarah Coggan, Schwester des damaligen Erzbischofs von York, später von Canterbury, einer englischen Theologin mit der Amtsbezeichnung „Deaconess“. Miss Coggan wollte sich über Dienst und Situation der württembergischen Theologinnen informieren – eines der Fotos, die Miss C. nach England mitnahm, wurde in einer englischen Frauenzeitschrift – samt Bericht – abgedruckt.“
1974 ging Charlotte Essich in den Ruhestand, versah aber längere Zeit im Schwarzwald noch aufwändige Vertretungsdienste. Danach zog sie nach Tübingen, wo sie am 18. Juli 2008 starb.
Ihr Talar ist ein textiles Zeugnis einer bewegten Geschichte. Charlotte Essich gab ihn 1995 in die Sammlung des Landeskirchlichen Museums in Ludwigsburg und verfasste dazu einen Text „Geschichte eines alten Talars“. Beides wird heute im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart aufbewahrt und steht für Ausstellungen und Forschungsarbeiten zur Verfügung.
Das Manuskript wird, mit Kommentaren versehen, demnächst auf wkgo veröffentlicht und verfügbar sein.
Quellen der Originalzitate:
Gespräche und Interviews mit Stefanie Schäfer-Bossert (Aufzeichnungen bei der Autorin, Privatarchiv Schäfer-Bossert)
Charlotte Essich, „Geschichte“ eines alten Talars, 1995. (Manuskript)
Hintergrundinformationen und Literatur bei:
Stefanie Schäfer-Bossert: Die ersten Württemberger Theologinnen und ihr langer Weg ins Pfarramt, https://www.wkgo.de/themen/theologinnen
Dort angefügt auch eine Zeitleiste mit markanten Daten in der Geschichte der ersten Theologinnen in Württemberg.
6. April 2022 | Andreas Butz | Veröffentlichung
Als neuer Band in der Reihe Kleine Schriften des Vereins für württembergische Kirchengeschichte wurde eine Monografie über die Stiftskirche in Beutelsbach aufgenommen, die anlässlich des Jubiläumsjahres entstanden ist. Nachdem man das Gebäude in den Jahren davor umfassend saniert hatte, entschied sich die Kirchengemeinde Beutelsbach dafür, die Bedeutung des historischen Gotteshauses durch eine Veröffentlichung – quasi als Tüpfelchen auf das i – zu würdigen. Die Bezeichnung als „kleine Schrift“ könnte in die Irre führen, denn das Buch umfasst 400 Seiten und beinhaltet Beiträge von neun Autoren.
Das Jubiläum bezieht sich auf die Jahreszahl 1522 auf dem Schlussstein im Chor. Der Bau hat eine landesgeschichtlich interessante Vorgeschichte, denn der Vorgängerbau dieser Kirche war ursprünglich die Grablege des Hauses Württemberg, bevor diese 1321 nach Stuttgart verlegt wurde. Die Beutelsbacher Stiftskirche wird in der Publikation aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Disziplinen beleuchtet. Die Geschichte des mittelalterlichen Vorgängerbaus, bauhistorische Untersuchungen, kunsthistorische Betrachtungen, Beschreibungen des Bauwerks und vieler Details, und auch Anekdoten und Geschichten zu der Kirche werden dargestellt und eingeordnet. Das Buch ist reichhaltig bebildert und kann über die Vereinsgeschäftsstelle oder über das Pfarrbüro Beutelsbach für 28 Euro erworben werden.
Siehe auch auf der Homepage der Kirchengemeinde hier.
Hier das Inhaltsverzeichnis und ein paar Beispielsseiten aus dem Buch: