Begegnung im Archiv: Wer sind unsere Nutzerinnen und Nutzer? Teil 4
Wir treffen Harald Haury im Lesesaal. Er ist im Landeskirchlichen Archiv kein Unbekannter.
Über die Jahre hat Haury immer wieder dort recherchiert. Für seine Doktorarbeit versuchte er, an Hand der Personalakten deutschchristlicher Pfarrer mehr über die württembergischen Anhänger des völkischen Theologen Johannes Müller in Erfahrung zu bringen, dessen Gründung Schloss Elmau heute als mondänes Luxushotel bekannt ist. Es folgten Nachprüfungen im Rahmen der Ernst Troeltsch-Edition, Haurys Hauptarbeitsgebiet seit 2006, und für ein Projekt zur Kirchengeschichte Esslingens während des späten Kaiserreiches und in den Jahren des Ersten Weltkrieges.
Gegenwärtig ist Haury als Mitarbeiter eines Projektes der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm als Nutzer im Haus.
„Von der Landeskirche beauftragt, aber unabhängig arbeitend, versucht die Ulmer Projektgruppe eine Serie von Fällen sexualisierter Gewalt aus den 1950er und 1960er Jahren aufzuarbeiten, die sich laut den Aussagen von Betroffenen im Hymnus-Chor, vor allem aber im Vorbereitungsjahr auf das Landexamen ereigneten, das über die Aufnahme in den landeskirchlichen Seminaren in Bad Urach, Schöntal, Blaubeuren und Maulbronn entschied,“ erläutert Harald Haury sein aktuelles Forschungsprojekt.
„Als Haupttäter wurde von den Betroffenen durchweg ein im Evangelischen Jungmännerwerk Württembergs stark engagierter Stuttgarter Industrieller genannt, der sich während der NS-Zeit um den Erhalt der Seminarausbildung verdient gemacht hatte, das Vorbereitungsjahr auf das Landexamen im Auftrag der Seminarstiftung bis Ende der 1960er-Jahre organisierte und den Hymnus-Chor von 1951 bis 1964 in seinem Haus proben ließ. Ein wichtiges Ziel der Recherche im Landeskirchlichen Archiv ist es, die Zusammenhänge besser zu verstehen, in denen sich die von den Betroffenen geschilderten Übergriffe ereignen und erst nach Jahrzehnten publik werden konnten. Dabei geht es um institutionelle Zusammenhänge und Mentalitäten besonders des konservativ-pietistischen Kirchenflügels ebenso wie um das umfangreiche Netzwerk, das sich der Hauptbeschuldigte vor allem dank seiner Position in den Leitungskreisen des Jungmännerwerks schaffen konnte. Erfreulicherweise lassen sich gerade diese weiterführenden Fragen an Hand der Aktenüberlieferung im Landeskirchlichen Archiv durchaus verfolgen. Neben einigen wenigen Akten, die den Namen des Hauptbeschuldigten explizit im Namen haben, gibt es recht umfangreiche Bestände zum Vorbereitungsjahr auf das Landexamen, zu den Seminaren, zum Hymnus-Chor und reichlich Leitungsprotokolle des württembergischen Jungmännerwerks. Aus der Arbeit mit diesem Material und mit Hilfe der Betroffenenaussagen dürften sich weitere Ansatzpunkte zur Fortführung der Recherche ergeben.“
Harald Haurys Recherchen im Landeskirchlichen Archiv sind demzufolge noch nicht abgeschlossen. Bislang hat er folgende Bestände des Archivs durchgesehen:
A 132 Evangelische Seminarstiftung, C 8 Evangelisch-Theologisches Seminar Maulbronn, C 9 Seminar Schöntal, C 10 Seminar Urach, K 24 Evangelisches Jugendwerk und K 45 Hymnus-Chor.