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Ein Stück Tübinger Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts. Die gebundenen Vorlesungsmitschriften von Paul Knapp aus den 1860er Jahren

6. März 2024 | |

Im Frühjahr 1998 wurden dem Landeskirchlichen Archiv Stuttgart 16 gebundene Vorlesungsmitschriften übergeben. Sie stammen aus der Tübinger Studienzeit (1863-1866) und den wissenschaftlichen Reisen (1868/69) des späteren Ulmer Pfarrers und Dekans *Paul Gottlob Theodor Knapp (1844-1917). Diese wurden zum „Nachlass Paul Knapp“ (Signatur: D 165) formiert, obwohl dieser Bestand darüber hinaus keine weiteren persönlichen Unterlagen enthält.
Diese Vorlesungsmitschriften sind ein beredtes Zeugnis dafür, wie ein Theologiestudent in der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Aufzeichnungen führte. Sieht man die Rücken dieser Mitschriften im Regal stehen, denkt man an die „Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche“, die damals als mehrbändiges theologisches Nachschlagewerk erschien. Dabei enthalten die prachtvoll gebundenen Bücher im wahrsten Sinne des Wortes ausschließlich Mitschriften der besuchten Vorlesungen. Zugleich zeugen Randbemerkungen davon, dass stud. theol. Knapp mit diesen Mitschriften auch immer wieder gearbeitet hat. Diese Studienmitschriften sind mit Abkürzungen durchsetzt und daher nicht flüssig zu lesen.
Die Namen der Theologen und der Wortlaut ihrer Vorlesungen lassen gute Rückschlüsse auf den Lehrbetrieb an der württembergischen Landesfakultät in diesem Jahrzehnt zu. So las der Moral- und Praktische Theologe Christian von Palmer (1811-1875) im Sommersemester 1865 „Württembergische Sekten-geschichte“ mit dem ersten Kapitel „Evangelisch-Lutherischer Pietismus“ und dem letzten Kapitel „Woher die vielen Sekten“ (D 165, Nr. 13).
Dieser Nachlass ist online recherchierbar: auf unserer Website und zukünftig auch im Archivportal-D . Dieser „Nachlass Paul Knapp“ korrespondiert mit dem Familiennachlass „Knapp-Archiv“ (D 2), der 1960 vom Landeskirchlichen Archiv erworben und anschließend bearbeitet wurde und daher ebenda recherchierbar ist.

Warum wird nicht alles digitalisiert? Exkursionsbericht einer Tübinger Studentengruppe

17. Januar 2024 | |

Primärquellen sind für kirchengeschichtliches Arbeiten unverzichtbar und daher sollte uns der Umgang mit ihnen nähergebracht werden. Denn es ist gar nicht so schwer, an Archivalien heranzukommen, um in diesen zu schmökern. Tagebucheinträge von verschiedenen Menschen (vielleicht findet man ja auch den seines Ururgroßvaters…), hunderte Jahre alte Kirchenbücher, alte Predigten, Berichte und vieles mehr verstecken sich nicht nur hinter gesicherten Vitrinen in Museen. Im Rahmen eines kirchenhistorischen Proseminars der Evangelisch-Theologischen Fakultät mit dem Thema „Weltanschauungskämpfe in der Weimarer Republik und NS-Zeit“, unter der Leitung von Herrn Gerber, sind wir am 11.12.2023 nach Stuttgart-Möhringen in das Archiv der Württembergischen Landeskirche gefahren. Was dieses Archiv in seinen Kellerräumen aufbewahrt, sollten wir in den nächsten Stunden erfahren.

Heinrich Löber gab uns zunächst eine Einführung, was ein Archiv überhaupt ist, da er feststellen musste, dass neben unserem Dozenten bisher nur eine der zwölf Teilnehmer:innen ein Archiv von innen gesehen hatte. Deshalb wurden wir aufgeklärt, welche Aufgaben in einem Archiv anstehen, was es beherbergt und wie es aufgebaut ist. Der Lesesaal, welcher unsere erste Station der Führung war, ist zugleich der Lesesaal der Evangelischen Zentral- und Hochschulbibliothek. Hier durften wir zunächst die Regale mit Büchern schnuppern. Jetzt mag sich doch manch einer fragen, warum man in unserer heutigen Zeit nicht alles digitalisiert, so dass es schneller und für jede:n einsehbar ist. Hierfür gibt es verschiedene Gründe: eine Digitalisierung der 15 laufenden Regalkilometer, die nur dieses Archiv in Stuttgart umfasst, wäre mit einem unverhältnismäßigen Geld- und Zeitaufwand verbunden. Um es theologisch auszudrücken: „die Wiederkunft Christi ist ein naheliegenderes Ereignis“ so Herr Löber. Zudem bräuchte die Aufbewahrung trotzdem Unmengen an Platz, da man die Originale nicht wegwerfen dürfe. Zugleich muss man sagen, dass etliche Akten bereits digitalisiert und über das Internet abrufbar sind.

Nun wollten wir aber auch herausfinden, wo die 15 laufenden Regalkilometer verborgen sind, und so begaben wir uns in die kühlen Kellerräume, in denen wir uns wahrscheinlich verlaufen hätten, wäre da nicht Herr Löber gewesen. Uns wurde viel über die allgemeine Aufbewahrung der Primärquellen erzählt, so dass wir mit diesem Wissen schon fast unser eigenes Archiv aufmachen könnten. Dadurch sind wir nun bestens über säurefreie, stehende oder liegende Aufbewahrung, Signaturen, Findbücher, Systematisierungen und Vieles mehr informiert.

Angekommen bei den teilweise doch fast 500 Jahre alten Kirchenbüchern schauten wir, ob wir den Urgroßvater eines Kommilitonen ausfindig machen konnten, jedoch ohne Erfolg. Trotzdem zeigte dies uns aber, wie interessant es ist, in diesen Büchern herumzustöbern, evtl. dem Stammbaum der eigenen Familie auf den Grund zu gehen und so mehr über die damalige Zeit herauszubekommen.

Nachdem wir uns durch die ganzen Kellerräume hindurch manövriert hatten, endete unsere Führung in der musealen Sammlung. Hier gab es verschiedenste Gegenstände, welche uns auf andere Weise begeisterten: von einem Schwert, über eine Trommel, Krippen, Kruzifixi, Vasa sacra, Möbeln bis hin zu Weihnachtsdekoration.

Der Besuch zeigte eindrücklich, dass es gar nicht so schwer ist, an Primärquellen heranzukommen, um diese in kirchengeschichtlich wissenschaftliches Arbeiten mit einfließen zu lassen. Bei Fragen würden – da bin ich mir sicher – die kompetenten und freundlichen Mitarbeiter: innen uns stets zur Seite stehen.

Vielen Dank an dieser Stelle an Heinrich Löber für die unterhaltsame Führung, und dass er uns in dem Labyrinth an Kellerräumen wieder heil hinausgeführt hat. Genau sowie Herrn Frieder Gerber für die Möglichkeit, diese Exkursion im Rahmen des Proseminars durchzuführen.

 

Beitragsbild: Heinrich Löber vom Landeskirchlichen Archiv und Frieder Gerber (v.l.) mit Teilnehmenden seines Proseminars im Lesesaal des Archivs und der Bibliothek. Foto: Landeskirchliches Archiv Stuttgart

Begegnung im Archiv. Wer sind unsere Nutzerinnen und Nutzer, Teil 7

27. Juli 2022 | | ,

Wir treffen Dr. Katharina Krause. Sie ist Wissenschaftliche Angestellte am Lehrstuhl für Praktische Theologie III an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Eines ihrer derzeitigen Forschungsprojekte befasst sich mit den Verschränkungen von ‚frommem‘ und ‚kolonialem‘ Blick im Rahmen der Mission. Welche Bilder haben Missionare und Missionarinnen in ihren Berichten in Missionszeitschriften oder in Vorträgen transportiert? Welche Bilder haben sie konstruiert und aufrechterhalten, um beim Publikum in der Heimat ‚Missionssinn‘ zu wecken und sich der finanziellen und geistlichen Unterstützung ihrer Arbeit zu versichern?

Im Landeskirchlichen Archiv ist sie auf der Suche nach Objekten aus der China-Mission und wurde in der Musealen Sammlung fündig:

„Neben dem Kinderbuch ‚Agim erzählt aus China‘ von der württembergischen Missionarin und Schriftstellerin Anna Oehler, hat mich auch die Sammlung an chinesischen Kindermützchen berührt, die aus dem Nachlass einer schwäbischen Missionarsfamilie (Basler Mission) stammen. Kleine aufgenähte Spiegel und Troddeln sollen böse Geister von den Kindern fernhalten. Auch im Bilderbuch von Anna Oehler wird dieser Brauch thematisiert: Unter der Abbildung eines etwa zwölfjährigen Mädchens, das einen kleinen Jungen im Tragetuch auf dem Rücken trägt, findet sich folgender Reim:

‚Auf dem Köpfchen glattgeschoren,

deckend zu auch Hals und Ohren,

sitzt ein Mützchen wunderfein,

vorn ein kleines Spiegelein,

daß die bösen Geister gehen,

wenn sie sich darinnen sehn.

Auch zwei gelbe Glöcklein seht,

wenn er nun sein Köpfchen dreht,

fangen leise an zu klingen;

sie auch sollen Gutes bringen,

böse Geister von ihm jagen,

wenn sie sich ans Büblein wagen.‘

 

Was mit chinesischem ‚Dämonenglaube‘ gemeint sein konnte, wird hier in besonderer Weise sinnenfällig als eine Form des praktischen Umgangs und der Bewältigung der Sorgen und Nöte, die mit der hohen Kindersterblichkeit in dieser Zeit einhergingen.

Objekte wie diese dienten als Anschauungsmaterial für die heimatlichen Unterstützerkreise und prägten ein recht stereotypes Bild der „fremden Kultur“. Bisweilen fragt man sich auch, ob nicht ein Missverständnis das andere erzeugt. „Götzendienst“ und „Dämonenglaube“ werden neben dem scheinbar unausrottbaren „Materialismus der Chinesen“ als die größten Missionshindernisse beschrieben, denen wiederum mit der „Jesuslehre“ begegnet wird, die die chinesischen Mitarbeiter – sog. Evangelisten und Bibelfrauen – auch mittels einer „Bilderrolle“ illustrieren, auf der der ‚Breite und der Schmale Weg‘ abgebildet ist und im Landeskirchlichen Archiv als Reproduktion vorliegt:  In dieser Variante werden die die kritikwürdigen ‚chinesischen‘ Laster (Opiumsucht, Götzendienst, Dämonenglaube) der frommen Glaubenspraxis der Missionsgemeinden gegenüberstellt.

Als Forscherin, die zu Bekehrungsfrömmigkeit gearbeitet hat, kann ich diese Wahrnehmung vor dem Hintergrund der für diese Spiritualität maßgeblichen Diskurse einordnen – als Praktische Theologin frage ich mich aber doch auch, warum die bekehrungsfrommen Sinnformen zur Deutung und Bewertung immer gleich so unmittelbar zur Hand waren. Hatte es damit zu tun, dass die religiöse Praxis, die sich in einem solchen Mützchen realisiert, eben als nur aufs Materielle, Sichtbare gerichtet wahrgenommen wurde? Weil die schwäbischen Missionarsfamilien und ihr frommes heimisches Umfeld ihren ebenfalls kulturell stereotypen protestantischen Widerwillen an Dinge des Glaubens herantrugen? Im Lichte meiner empirischen Studien mit werdenden Eltern und Tauffamilien scheint mir das Anliegen, das sich im Gewebe eines solchen Kindermützchens materialisiert, wiederum sehr plausibel. Artefakte – man denke dabei auch an das Taufkleid – spielen auch im protestantischen Kontext eine zentrale Rolle, verbinden sich mit diesen letztlich doch jene Gewissheiten, die allein die Evidenz des Faktischen zu schaffen vermag. Und als Religionsethnografin schließlich, die gewohnt ist, scheinbare Selbstverständlichkeiten des eigenen religionskulturellen Kontextes zu befremden und kritisch zu hinterfragen, bereitet mir das Mützchen eine geradezu lustvolle Freude zur Provokation jener Asymmetrien, in die der fromme Blick seine ‚Anderen‘ zu zwingen versucht: Was sind denn eigentlich unsere ‚Dämonen‘? Und kennen wir sie so gut, dass wir genau wissen, womit wir ihnen auf die Nerven gehen?

Die dingliche Überlieferung ist neben der schriftlichen eine wichtige und aufschlussreiche Quelle für meine Forschungen. In der Musealen Sammlung habe ich noch einiges entdeckt, das ich mir beim nächsten Besuch genauer ansehen möchte.“