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Serie Nachkriegszeit Teil 11: Neue Formen der Jugendsozialarbeit – die Aufbaugilden des Evangelischen Hilfswerks

24. November 2020 | | ,

Die Not nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war auch unter den Heranwachsenden und Jugendlichen besonders groß. Ohne jegliche Perspektiven drohten heimat- und elternlose Jugendliche, die in Bunkern und Luftschutzräumen der zerstörten Städte lebten oder ziellos über die Landstraßen zogen, in die Kriminalität abzurutschen. Um dies zu verhindern, engagierte sich das Evangelische Hilfswerk in der Jugendsozialarbeit mit dem Aufbau sogenannter „Gilden“. Dieser Name wurde in Anlehnung an die mittelalterlichen Genossenschaften ausgesucht, die religiöse oder berufliche Ziele verfolgten und sich dabei um das Wohl ihrer Mitglieder sorgten. Dies war auch bei den Aufbaugilden der Fall. Die jungen Menschen sollten in familienähnlichen Gemeinschaften zusammenleben und Halt im christlichen Glauben finden.

Die erste Aufbaugilde entstand im Februar 1948 auf Schloss Stettenfels bei Heilbronn, als ein Zeichen des Neuanfangs und gleichzeitig als Selbsthilfe zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Hier half die Gilde beim Ausbau eines Altersheims für Flüchtlinge. Die nach und nach entstehenden Gilden wurden zu gemeinnützigen Arbeiten eingesetzt, wie Trümmerbeseitigung, Forst- und Steinbrucharbeiten. In Calw-Stammheim wurde mit Hilfe von Spendengeldern aus der Schweiz eine Gilde aufgebaut, die das beschädigte Freibad wieder instand setzte.

1952 gab es in Württemberg bereits 12 Aufbaugilden. Mit der steigenden Zahl von „Ostflüchtlingen“ aus der DDR wurden nach württembergischem Vorbild auch in Hessen und Nordrhein-Westfalen mehr als 60 Gilden bis Ende 1953 gebaut. Im selben Jahr startete die Mädchengilde in Stuttgart. Zusätzlich entstanden Abiturienten- und Studentengilden, sowie Stadt- und Landgilden. Beim zehnjährigen Jubiläum 1958 wurde von 59 Gilden berichtet, in denen über 11 000 Jugendliche für mindestens ein halbes Jahr mit den westlichen Lebensverhältnissen vertraut gemacht wurden. 1958 existierten im gesamten Bundesgebiet über 120 Gilden. Mit dem Bau der Mauer im August 1961 stoppte der Flüchtlingsstrom aus der DDR. Die Gildenarbeit widmete sich nun spätausgesiedelten Jugendlichen, die mit ihren Eltern aus ehemaligen deutschen Ostgebieten kamen. Um ihnen die Integration in Westdeutschland zu erleichtern, wurden Förderschulen mit Sprachkursen eingerichtet. Die meisten Gilden in Württemberg stellten jedoch ihre Arbeit zu Beginn der 1970er Jahre ein. Lediglich die Heilbronner Aufbaugilde hat sich erhalten und arbeitet bis heute mit jungen Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen eine Betreuung brauchen.

Quellen:

LKAS, L 1, Nr. 93, Nr. 777, Nr. 887, Nr. 1384, Nr. 2300, Nr. 3447

Reinhold Schäffer, Die Gilde – Das Stammheimer Gildenhaus – eine fast vergessene diakonische Einrichtung 1949-1956.

Unser Monatsbrief. Hilfswerk der Evang. Landeskirche in Württemberg, 4. Jahrgang, Februar 1950, S. 2-11.

Monatsbrief. Der Arbeitsgemeinschaft der Diakonischen Werke in der Evang. Landeskirche in Württemberg, 13. Jahrgang, Nr. 2 Februar 1959, S. 2-3.

Gudrun Köpf, Von „Hühnerhofpädagogik“ und Gildenarbeit im Kalten Krieg. Hans Walter Mehlhorn erzählt, in: Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit (Hrsg.), Jugendsozialarbeit im Wandel der Zeit. Eine Bundesarbeitsgemeinschaft wird Fünfzig, Münster 1999, S. 89-92.

Beachten Sie auch den Einstiegsbeitrag dieser Serie.